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Das Marsprojekt (1). Das ferne Leuchten - Science-Fiction-Abenteuer auf dem Mars

Andreas Eschbach

 

Verlag Arena Verlag, 2012

ISBN 9783401800493 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

1. Das Leuchten

Elinn konnte mit einem Raumanzug umgehen. Normalerweise. Niemand wurde auf dem Mars geboren und dreizehn Jahre alt, ohne mit einem Raumanzug umgehen zu können. Aber in diesem Moment hatte sie alles vergessen. Alle Vorsicht, und vor allem die Zeit, die verging und ihren Sauerstoffvorrat verringerte.

Sie hatte das Leuchten gesehen.

Vergessen war die Marssiedlung, die weit hinter ihr in der rostig braunen Ebene lag. Ihr eigenes Keuchen klang ihr in den Ohren, als sie über Felsen und Geröll stieg. Ihr Atem schlug silbern gegen die Innenseite ihres Helms.

Sie hatte das Leuchten gesehen, und es war aus der Jefferson-Schlucht gekommen.

Vergessen waren die Ermahnungen ihrer Mutter, sich nicht aus der Sichtweite der oberen Station zu entfernen, vor allem nicht allein. Elinn stieg über den felsigen Rand, sprang hinab auf eine Felsplatte, die einige Meter weiter unten aus dem Hang ragte. Sie liebte solche Sprünge. Im Unterricht hatte sie gelernt, dass die Schwerkraft auf der Erde drei Mal so stark war wie die des Mars. Ihres Mars. Ihrer Heimat. Hier konnte sie Dinge tun, die den Menschen auf der Erde unmöglich waren.

Der Fels fühlte sich auch durch die Handschuhe hindurch kalt an, als sie sich am Rand festhielt. Der weite Himmel über ihr war gelb von den Staubstürmen, die um diese Jahreszeit hoch oben in der dünnen Atmosphäre dahinfegten. Doch die Sterne schimmerten dahinter hervor, kalt und klar und verheißungsvoll.

Sie dachte nicht an die anderen. Die lachten sie immer nur aus, wenn sie vom Leuchten erzählte.

Sie dachte auch nicht daran, die Anzeige des Sauerstoffvorrats zu prüfen. Normalerweise war das etwas, das einem, wenn man auf dem Mars lebte, so in Fleisch und Blut überging wie Zähneputzen. Aber Elinn vergaß auch das Zähneputzen manchmal.

Die gewöhnlichen Raumanzüge hatten keine Recyclingsysteme, denn das waren große, schwere Geräte, und die Atemluft, die sie produzierten, stank nach Chemie. Raumanzüge mit Komplettrecycling trug man nur bei Expeditionen. Die Marssiedler hatten leichte, bequeme Raumanzüge an, wenn sie hinausgingen, und da man selten mehr als ein paar Stunden draußen war, kam man mit den Vorräten an Energie und Atemluft problemlos aus.

Elinn sprang über den Rand der Felsplatte, landete auf sandigem Geröll, das unter ihren Füßen staubte, und rannte den Abhang dann in weiten, eleganten Sätzen hinab, dem Grund der Schlucht entgegen. Als sie unten angekommen war, hatte sie bereits nicht mehr genug Sauerstoff, um den Rückweg zu schaffen. Aber auch das bemerkte sie nicht, sondern ging weiter, immer weiter von der Marssiedlung weg.

»Ja! Jawohl! Ja!« Ronny schwenkte den Steuerhebel hin und her, den Blick gebannt auf den Bildschirm gerichtet. Es brummte und tuckerte ohrenbetäubend aus den Lautsprechern, eindeutig der Sound einer uralten Propellermaschine. Ronny war verrückt nach Flugsimulationen, und im Computer konnte er alle Fluggeräte fliegen, die es gab. Die alten Propellermaschinen – die man nur noch in Museen bewundern konnte – waren sein neuester Spleen. »Juhu!«

Unmöglich, sich dabei zu konzentrieren. Carls Blick wanderte zum Fenster hinaus. Der Marshimmel verfärbte sich gelb, das Tharsis-Massiv, das sonst den westlichen Horizont so gewaltig beherrschte, war kaum noch zu sehen. Demnächst würde wahrscheinlich ein ordentlicher Staubsturm über sie hereinbrechen.

Drüben an Schleuse 3 stand immer noch der Transporter mit dem Emblem der Asiatischen Allianz. Das war sicher Yin Chi, der Leiter der Station, die die Staaten der Asiatischen Allianz letztes Jahr gegen den Willen der Erdregierung errichtet hatten. Auf der Erde gab es seither allerhand politischen Wirbel; es wurde gemunkelt, die Asiatische Allianz wolle aus der Föderation der Erdstaaten ausscheiden.

Aber das war auf der Erde. Weit weg also und hier praktisch ohne Bedeutung. Die Marskolonisten kamen mit den Asiaten gut aus; man half sich, wo man konnte. Die asiatische Station stand etwa hundert Kilometer entfernt am Westende der Valles Marineris, der gigantischsten Schlucht auf dem Mars, die aus dem Weltraum aussah, als habe sie ein Gigant mit einer Riesenaxt aus dem Planeten gehackt. Auf Einladung Yin Chis waren Carl und die anderen Kinder einmal dort gewesen und hatten die grandiose Aussicht genossen, die man von dort hatte – anders als hier in der Siedlung, die mitten in der Einöde errichtet worden war, wenn man es genau nahm! –, und nun war einer von Yin Chis Leuten krank geworden und brauchte Medikamente, die die Asiaten in ihrer Station nicht hatten. Deshalb war Yin Chi gekommen, und Dr. DeJones gab ihm mit, was er brauchte. Der Einzige, den das störte, war Mister Pigrato. Tom Pigrato war Statthalter der Erdregierung auf dem Mars, und ihn störte hier sowieso alles. Er konnte die Kinder nicht leiden, er konnte seinen Job nicht leiden, und vor allem konnte er den Mars nicht leiden. Kurzum, man ging ihm aus dem Weg, wo man konnte. Was seine Laune auch nicht unbedingt besserte.

»Carl? Ich habe eine wichtige Information für dich.«

Die synthetische Stimme von AI-20 ließ Carl hochschrecken. Ein Blick auf den Bildschirm erinnerte ihn daran, dass er eigentlich hergekommen war, um ein paar Unterrichtslektionen abzuarbeiten.

»Ja, ich weiß«, sagte er rasch. »Die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn das nicht alles schon so ewig lange her wäre, würde es mich sicher brennend interessieren.«

AI-20 war die Künstliche Intelligenz, die alle Systeme der Marsstadt steuerte – die Energieerzeugung, die Luftversorgung, die Kommunikation, die Klimatisierung der unterirdischen Plantagen, einfach alles. Nebenbei unterrichtete AI-20 die Kinder in den Sachfächern, half den Wissenschaftlern bei ihrer Forschungsarbeit und den Verwaltern bei ihrer Verwaltungsarbeit. AI-20 konnte sprechen, hören und sehen, und wie alle künstlichen Intelligenzen hatte es im Lauf der Zeit so etwas wie eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Im Falle von AI-20 war es so, dass sie eine Art Zuneigung zu den Marskindern gefasst hatte und sich im Zweifelsfall auf deren Seite schlug. Natürlich war AI-20 letztlich nur ein besonders kompliziertes Computerprogramm, aber es gab Momente, in denen man das glatt vergessen konnte.

»Da wir das Jahr 2086 schreiben, stellt die Benutzung des Begriffes ›ewig‹ eine starke Übertreibung dar«, mahnte AI-20 mit computerhafter Kleinlichkeit. »Allerdings stand meine Bemerkung nicht im Zusammenhang mit dem Unterricht. Ich habe eine wichtige Information deine Schwester betreffend.«

»Elinn?« Carl und Ronny tauschten einen besorgten Blick. »Was hat sie wieder angestellt?«

»Sie war im Freien unterwegs und ist vor einundzwanzig Minuten aus dem Erfassungsbereich meiner optischen Sensoren verschwunden. Meinen letzten Aufzeichnungen zufolge scheint es, dass sie in die Jefferson-Schlucht hinabgestiegen ist.«

»Ja, und? Wahrscheinlich hockt sie auf irgendeinem Stein und schaut verträumt in die Gegend.«

»Von dieser Annahme bin ich auch ausgegangen«, sagte AI-20. »Sie hätte allerdings inzwischen wieder zum Vorschein kommen müssen, um mit ihren verfügbaren Sauerstoffreserven den Rückweg noch zu schaffen.«

Carl durchrieselte es kalt bei diesen Worten. Hatte er das auch richtig verstanden? Manchmal war der ewig gleich bleibende Plauderton der Künstlichen Intelligenz verwirrend. »Soll das heißen, Elinn geht der Sauerstoff aus?«

»Nach meinen Daten über den Ladezustand ihres Raumanzugs hat sie noch für schätzungsweise dreißig Minuten Sauerstoff.« Nun klang AI-20 doch fast etwas besorgt, oder bildete er sich das nur ein? »Da ich in der Vergangenheit Beobachtungen gemacht habe, die mich zu dem Schluss führen, dass ihr Kinder einen Zugang zur Stadt habt, der meinen Überwachungsinstrumenten nicht zugänglich ist, wollte ich dich fragen, ob es sein kann, dass Elinn bereits zurück ist, ohne dass ich es bemerkt habe.«

Das war scharf beobachtet von der Künstlichen Intelligenz. Aber der Geheimgang der Kinder – ein alter Stollen aus den Zeiten der ersten Station, lange vor dem Bau der Siedlung angelegt und mit einer handbetriebenen Schleuse versehen – ging nach Süden, während der Jefferson-Graben in nördlicher Richtung lag. Ausgeschlossen, dass Elinn dorthin gelangt war.

»Nein«, sagte Carl beklommen. »Das kann nicht sein.«

»Ich fürchte, dann muss ich die Stationsleitung informieren.«

Ronny, der längst aufgehört hatte zu spielen, ließ den Steuerknüppel los und fuhr sich mit beiden Händen durch das blonde Strubbelhaar. »Verdammt.« Sie wussten beide, was er meinte. Pigrato würde den Kindern die Raumanzüge endgültig wegnehmen, wenn auch nur das Geringste passierte, und sie würden in der Marssiedlung eingesperrt sein.

»Warte, AI-20!«, rief Carl. Er spähte noch einmal aus dem Fenster. Der Transporter, ein schneller, geländegängiger Rover, stand immer noch da. Wenn ihnen jemand aus der Patsche helfen konnte, unauffällig und ohne dass Pigrato etwas davon mitbekam, dann Yin Chi. Carl griff nach dem Kommunikator, tippte Arianas Nummer ein.

»Ja?«, meldete sie sich.

»Wo bist du gerade?«, fragte Carl hastig.

»In meinem Zimmer, wieso?«

»Kannst du bitte sofort zur Schleuse 3 rennen und Yin Chi aufhalten? Ich besorge einen Sauerstoffzylinder und stoße dazu. Und nimm deinen Anzug mit!«

Ariana verstand natürlich kein Wort. »Yin Chi aufhalten? Wovon redest du, Carl?«

Carl erklärte ihr so rasch wie möglich, was los war. Als sie begriffen hatte, worum es ging und dass...