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Andreas Eschbach

 

Verlag Arena Verlag, 2012

ISBN 9783401801483 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Warnsignale

1

Das Haus mit den gelben Fensterläden stand einsam am Ende einer staubigen Straße. Einst war es eine kleine Farm gewesen, doch irgendwann war der nahe gelegene Bach versiegt und das Land ringsum ausgetrocknet. Nun erhoben sich abgestorbene Bäume und verdorrte Büsche auf dem Gelände und das Gras auf den Wiesen war fahlbraun statt grün.

Doch das Haus war noch bewohnt. Auf einem Stück Rasen vor der Tür lag buntes Kinderspielzeug aus Plastik, über einem sandgefüllten Erdloch stand eine Rutsche. Hinter den Fensterscheiben leuchtete abends Licht.

So war es auch an dem Abend, an dem ein cremeweißer Lincoln von der Hauptstraße auf die Schotterpiste zu diesem Haus abbog. Zwei ältere Damen saßen darin, schweigend. Hätte sie jemand beobachtet, er hätte unweigerlich den Eindruck gewonnen, dass sie genau wussten, wohin sie wollten.

Aber es war niemand da, der sie hätte beobachten können. Die Frau und das Kind, die in dem Haus mit den gelben Fensterläden wohnten, lebten dort alleine. Besuch hatten sie so gut wie nie.

Der Wagen folgte der Piste, die hügelan führte, dann wieder hinab und um ein Stück Wald herum. Erst hier kam das Haus in Sicht. Der Lincoln fuhr zielstrebig weiter und hielt direkt davor, neben einem Honda, dessen zahlreiche Rostbeulen die Dunkelheit gnädig verbarg.

Die beiden Frauen stiegen aus. Die eine hatte die Statur einer Ringerin, die andere war schlank und trug eine Brille, die fünfzig Jahre zuvor modern gewesen wäre. Beide waren weiß gekleidet.

Die Brillenträgerin nahm einen schmalen Koffer aus dem Kofferraum, dann gingen beide auf das Haus zu. Doch noch ehe sie es erreicht hatten, öffnete sich die Haustür. Eine dünne, dunkelhaarige Frau trat heraus. Sie hielt ein Mobiltelefon in der Hand und musterte die beiden Ankömmlinge äußerst misstrauisch.

»Guten Abend«, sagte sie scharf und in einem Ton, der ihre Worte unmissverständlich wie Keinen Schritt weiter! klingen ließ. »Was führt Sie her, wenn ich fragen darf?«

Die beiden Frauen waren stehen geblieben. Die mit der Brille sagte: »Guten Abend. Wir suchen Miss Patricia Batt.«

»Steht vor Ihnen«, sagte die Frau in der Tür. Sie hielt das Telefon immer noch wie eine Waffe.

»Mein Name ist Dr. Edith Wells, ich bin Kinderärztin«, fuhr die Frau mit der Brille fort. Sie deutete auf ihre Begleiterin. »Das ist Lara Brown, meine Assistentin. Wir kommen wegen Ihres Sohnes Eric.«

Die skeptischen Furchen auf der Stirn der Frau in der Haustür vertieften sich. »Wegen Eric? Was ist mit ihm?«

»Forrester Foundation«, sagte die Frau, die behauptet hatte, Kinderärztin zu sein. »Sie müssten vor Kurzem einen Brief bekommen haben, der unseren Besuch angekündigt hat.«

»Ich habe keinen Brief bekommen.«

»Oh.« Die beiden Frauen wechselten einen Blick. Dann sagte die Kinderärztin: »Das ist jetzt unangenehm. So etwas sollte eigentlich nicht vorkommen. Wir können ein andermal wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist…«

»Worum geht es denn? Was ist mit meinem Sohn?«

»Nun, Eric leidet an Diabetes, nicht wahr? Und wir… Von der Forrester Foundation haben Sie doch sicher schon gehört?«

»Tut mir leid. Nein.« In der Stimme der Frau, der das Haus gehörte, schwang Sorge mit.

»Die Stiftung wurde vor etwa sechzig Jahren von dem Industriellen Maximilian Forrester gegründet, nachdem er einen Sohn durch Diabetes verloren hatte. Unser Schwerpunkt ist die Entwicklung wirksamerer Therapien. Meine Kollegin und ich haben heute den Weg zu Ihnen unternommen, weil wir Ihnen eine neue, bessere Behandlungsmethode für Eric vorstellen wollen.« Sie hob den Koffer in ihrer Hand an. »Ich habe Informationsmaterial dabei, aber erfahrungsgemäß ist es ratsam, dass ich Ihnen alles erkläre und eventuelle Fragen beantworte.«

»Was ist das für eine Therapie?«

»Ich muss dazu gleich sagen, dass die eigentliche Behandlung Ihr Arzt durchführen würde – Sie sind bei Dr. Kaufman hier im Ort, nicht wahr?«

Die Frau in der Tür kaute zweifelnd auf ihrer Unterlippe. Sie nickte nur.

»Nun, es würde darauf hinauslaufen, dass Eric keine Spritzen mehr bekommen müsste.« Die Frau mit der altmodischen Brille hob die Schultern. »Wenn es Ihnen heute ungelegen kommt, können wir gern einen Termin für einen Besuch an einem anderen Abend ausmachen. Allerdings wohl erst…« Sie zückte einen altmodischen Taschenkalender und blätterte darin herum. »Hmm… also, diesen Monat geht es nicht mehr. Das wäre dann im Juli.«

»Nein, warten Sie«, sagte die Frau am oberen Ende der kleinen Treppe. Sie hob das Telefon ans Ohr. »Cathy? Hast du das mitgekriegt? Ich glaube, das ist in Ordnung, oder? Ja. Danke. Gute Nacht.« Dann sagte sie: »Kommen Sie rein.«

»Gerne«, sagte die Frau mit dem Koffer und ging voran. Ihre Begleiterin folgte ihr.

»Eric schläft aber schon«, sagte Patricia Batt, während sie die Tür schloss.

»Das ist gut so«, erwiderte die Frau, die behauptet hatte, Kinderärztin zu sein. »Sie sind es ja, zu der wir wollen.« Sie ging in die Küche, legte ihren Koffer auf den Tisch und öffnete ihn.

Es war nichts darin, das auch nur annähernd wie ein Prospekt ausgesehen hätte. Vielmehr enthielt der Koffer allerlei seltsame Gerätschaften, stoßsicher eingebettet in elastischen Formschaum.

Die Frau mit der Brille nahm, ohne zu zögern, ein Gestell heraus, das einer Schraubzwinge ähnelte, und reichte es ihrer stämmigen Kollegin. Die machte sich sofort daran, es ungefähr in Kopfhöhe am Rahmen der Küchentür festzuschrauben. Ein breiter Lederriemen baumelte von dem Gestell herab.

»Heh«, rief Patricia Batt. »Was machen Sie denn da?«

»Erschrecken Sie jetzt nicht und schreien Sie nicht«, sagten beide Frauen im Chor, mit einer Gleichstimmigkeit, die einem unwillkürlich Schauer über den Rücken jagte. »In Wirklichkeit sind wir gekommen, um Sie einem kleinen chirurgischen Eingriff zu unterziehen. Er ist zu Ihrem Besten, wie Sie feststellen werden, und es tut nicht weh, wenn Sie sich nicht wehren.«

»Was für einen –?«

Doch da hatte die Frau mit der Ringerfigur sie schon von hinten gepackt. Noch ehe Patricia schreien konnte, war die angebliche Kinderärztin mit einer Injektionspistole bei ihr und jagte ihr ein Medikament in die Halsschlagader. Im nächsten Augenblick sackte Patricia schlaff und stumm in sich zusammen und wäre wie ein Lumpenbündel auf den Boden geschlagen, wenn die stämmige Frau sie nicht festgehalten hätte. Sie wuchtete sie herum und stellte sie so gegen den Türrahmen, dass ihr Kopf in dem Gestell zu liegen kam. Dann zurrte sie ihr den Lederriemen so über die Stirn, dass dieser sie in ihrer Position festhielt.

Das Letzte, was Patricia Batt sah, ehe sie ohnmächtig wurde, war ein Instrument, das einer Pistole glich; einer Pistole mit einem ganz, ganz langen, bleistiftdünnen Lauf, der schimmerte wie Gold.

Der cremeweiße Lincoln blieb vier Tage lang vor dem Haus stehen. Vier Tage lang rührte sich nichts darin. Keine Tür wurde geöffnet. Nur abends brannte Licht in einigen der Fenster.

Dann, am fünften Tag, ging die Haustür wieder auf. Die beiden Frauen in ihren hellen Kleidern, in denen sie wie medizinisches Personal aussahen, traten heraus. Schweigend und ohne sich noch einmal umzudrehen, gingen sie zu ihrem Wagen, verstauten den Koffer, stiegen ein und fuhren davon. Patricia Batt stand währenddessen in der Küche und räumte, ohne das Geschehen draußen weiter zu beachten, Geschirr in die Spülmaschine.

Ihr Sohn Eric saß stumm auf einem Stuhl und stierte ins Leere.

2

»Warte.« Die Frau hinter dem Steuer hob die Hände. »Halt. Jeremiah – hast du überhaupt eine Vorstellung, wie das alles klingt?«

»Ziemlich verrückt, nehme ich an«, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz. Er sah erschöpft aus.

»Völlig verrückt.«

»Okay, dann eben völlig verrückt.« Er seufzte. »Aber was soll ich machen, Lilian? Es ist die Wahrheit.«

Sie saßen in einem blauen Ford, der auf dem Parkplatz eines Supermarktes der GIANT-STORE-Kette zwischen Live Oaks und Santa Cruz stand. Neben dem Ford stand ein dreckiger Geländewagen; das einzige andere Fahrzeug in weitem Umkreis.

Die Frau hinter dem Steuer kniff die Augen zusammen. Sie hatte dichtes schwarzes Lockenhaar, das nur mit viel Mühe und starken Gummibändern im Zaum zu halten war. »Wieso erzählst du mir das alles überhaupt? Ich habe darauf gewartet, dass du unsere Tochter zurück nach Hause schickst. Stattdessen tauchst du selber auf und erzählst mir eine derart monströse Geschichte. Hunderttausend Menschen, die dich, die euch verfolgen. Die alles unterwandert haben, den Staat, die Polizei, die Wirtschaft. Von denen jeder einen Chip im Kopf trägt, über den sie miteinander verbunden sind, sodass jeder die Gedanken der anderen lesen kann.« Sie schloss die Augen, presste die Fäuste gegen die Stirn und seufzte. »Geht es nicht eine Nummer kleiner?«

Der Mann betrachtete sie ernst. Er war knapp fünfzig Jahre alt, wirkte durchtrainiert und so, als würde er viel Zeit im Freien verbringen. Sein Kopf war so gut wie kahl geschoren, was ihm eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Darsteller des Captain Picard aus der Fernsehserie Raumschiff Enterprise verlieh.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass es anders wäre. Aber die Kohärenz ist nicht nur real, sie ist auch unser Feind...