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Samsons Reise

Annette Mierswa

 

Verlag Tulipan Verlag, 2014

ISBN 9783864292590 , 163 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Samsons Reise


»Samson geht auf eine lange Reise.« Der Doktor nahm die Brille ab und sah Mats an. »Du wirst dich von ihm verabschieden müssen.«

»Wenn er verreist, gehe ich mit ihm.« Mats blickte entschlossen zurück.

»Nein, Mats, das ist eine Reise, die muss Samson ganz alleine machen.«

Mats’ Mutter Eva legte ihre Hände auf die Schultern ihres Sohnes. »Samson ist sehr krank. Es ist Zeit für ihn zu gehen. Wir sollten …«

Mats schubste ihre Hände herunter und rannte aus der Praxis. Er ließ sich im Vorgarten auf den Rasen fallen und vergrub das Gesicht in seinen Armen. Nein, Samson alleinlassen, sich von ihm verabschieden? Das kam gar nicht infrage. Er riss ein Gänseblümchen ab und zupfte die Blütenblätter aus. Eine große feuchte Nase stupste ihn an.

»Samson!« Mats drückte den Hund fest an sich. »Mein Sammy, ich lass dich nicht allein.« Er kraulte das Fell hinter Samsons Ohren und forschte in den glänzenden Hundeaugen, in denen sich das glühende Rot des nahenden Sonnenuntergangs spiegelte.

Mats erinnerte sich an Lagerfeuer, an denen sie singend und jaulend gesessen hatten, während das Seewasser leise ans Ufer geplätschert und die Dunkelheit sanft über ihre Schultern gekrochen war wie ein schwarzer Zaubermantel. Er dachte an heiße Sommernächte, die er bei Samson auf dem Fußboden verbracht hatte und in denen er von seinem gleichmäßigen Atem in den Schlaf gewiegt worden war.

Und da war noch etwas in Samsons Augen, ein Funkeln wie von einem Meer aus Wunderkerzen, die in weiter Ferne einen Tanz aufführten.

Plötzlich sprang Mats auf, lachte Samson an und schnalzte mit der Zunge: »Ich hab’s. Wir verreisen doch zusammen. Wie früher.«

Mats kuschelte sich wieder an ihn und strich zärtlich durch sein Fell.

Eva verließ die Tierarztpraxis und kam auf die beiden zu. »Da seid ihr ja!« Sie ging vor Mats in die Hocke und machte eine besorgte Miene, versuchte aber zu lächeln. »Na, wie wäre es mit einem Eis?«

Mats dachte eine Weile nach, bevor er antwortete, wägte ab, wie viel Zeit ihm noch zum Packen bliebe. »Können wir machen.« Er musste ohnehin warten, bis seine Mutter im Bett war, denn sie würde ihm die Reise niemals erlauben.

Sie schlenderten die Straße entlang, und Samson trottete mühsam neben Mats her. Wie ein Pinguin bewegte er erst die rechte Körperhälfte ein Stück weiter, danach die linke, immer beide Beine einer Seite auf einmal. Es sah ein wenig so aus, als wäre er wie ein Spielzeug aufgezogen worden, so gleichförmig wackelte er voran. Dabei hing ihm die Zunge weit aus dem Maul. Ab und zu hielt er inne, hob den Kopf ein wenig, um zu sehen, ob Mats auf ihn wartete, und setzte sich dann langsam wieder in Bewegung.

Mats hatte sich in den letzten Wochen schon an die neue Gemütlichkeit seines Hundes gewöhnt und blieb automatisch stehen, wenn Samson es tat. Er sah sich nicht einmal nach ihm um. Er wusste blind, wann er anhalten musste. Für die zweihundert Meter bis zur Eisdiele brauchten sie fünf Minuten. Eine Schildkröte wäre schneller gewesen.

Mats holte einen Becher aus der Tasche und verschwand in der Eisdiele. Als er zurückkam, lag Samson auf dem Boden und schlief. Mats stellte den mit Wasser gefüllten Becher vor ihm ab und streichelte über sein Fell, dieses Fell, das ihm vertraut war wie eine zweite Haut. Jeden Morgen war es das Erste, was er berührte, und am Abend das Letzte, woran er sich kuschelte.

Samson bewegte sich nicht.

»Er trinkt fast nichts mehr«, sagte Eva.

Mats nickte stumm. Er leckte an seinem Eis und starrte vor sich hin. In Gedanken packte er schon den Koffer. Was würde er alles brauchen? Auf jeden Fall Hundekuchen, denn er wusste ja noch nicht, wie lange sie unterwegs sein würden. Außerdem einen Pullover, Geld, Käsebrote und eine Taschenlampe gegen die Dunkelheit, vor der Mats sich fürchtete.

»Weißt du, Samson hätte kein schöneres Leben haben können als bei dir.« Eva lächelte.

»Hätte?« Mats war empört. »Warum hätte? Er hat ein schönes Leben! Mensch, Mama, Samson ist doch nicht tot!«

Bei dem Wort »tot« zuckte Mats zusammen, als wäre es schon gefährlich, es auszusprechen. Er biss in die Eistüte, dass es nur so knackte. Dann wandte er sich Samson zu und hielt ihm den letzten Zipfel der Waffel vor die Nase. »Hier, Samson.«

Samson hob müde den Kopf, schnüffelte an der Eistüte, sah Mats gleichgültig an und schob die Schnauze wieder zwischen seine Pfoten.

»Hey, Samson, deine Eistüte. Wie immer!«

Aber Samson schlief schon wieder und atmete schwer.

Mats wurde wütend. »Samson, was soll das? Nun nimm endlich!«

Samson rührte sich nicht. Mats sah seine Mama ratlos an.

»Samson ist ein kranker, alter Opa. Er steht nicht mehr auf Eistüten.«

»Aber vor einer Woche hat er sie noch gegessen.«

»Da war er eben noch ein Opa mit Appetit. Jetzt ist er ein Opa, der nur noch schlafen will.«

»Und verreisen?«, fragte Mats und rollte mit den Augen.

»Ja, denn wo Samson hinmöchte, kann er immerzu schlafen.«

»Aber Mama, da kann er doch auch hierbleiben.«

Eva rückte ihren Stuhl näher an Mats heran. »Du kannst ihn nicht aufhalten, Mats. Sieh ihn dir an!« Sie nickte mit dem Kopf in Samsons Richtung, der unbeweglich dalag. »Er ist schon so weit weg.«

Mats schob energisch seinen Stuhl zurück, stand auf und sagte: »Ist er nicht!« Er drehte sich um, pfiff durch die Finger und lief los. Als Samson ihm nicht gleich folgte, blieb er stehen und rief nach ihm: »SAAAAMSOOON, KOMM!« Der Hund erhob sich mühsam und trottete los.

Eva beeilte sich zu bezahlen und folgte den beiden. »Mats, ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber Samson ist nun mal am Ende seines Weges, du bist noch am Anfang.«

Mats blieb abrupt stehen und warf seiner Mutter einen düsteren Blick zu. »Ich werde Samson nicht alleinlassen, niemals.«

*

Das Häuschen, in dem Mats mit seiner Mutter und Samson wohnte, stand mitten in Hamburg. Es hatte einen kleinen Garten, in dem man den ganzen Tag das Rauschen des Autoverkehrs und das Rattern der S-Bahnen hören konnte. Mats störte das nicht. Er hatte sich daran gewöhnt. Wenn er in der Schule war, konnte Samson im Garten auf ihn warten. Und nachmittags ging Mats mit ihm im nahen Park spazieren. Seit einer Woche schaffte Samson es nicht mehr bis zum Park. Mats führte ihn vor dem Haus an ein paar Bäumen vorbei. Dann kehrten sie um, und Samson legte sich sofort auf seine Decke und schlief. Er schlief den lieben langen Tag.

Mats dagegen schlief gar nicht gerne. Er las abends unter der Bettdecke fantastische Geschichten, schlich zum Wohnzimmer und hörte Mama beim Telefonieren zu, oder er lag einfach mit offenen Augen im Bett und dachte sich großartige Erfindungen aus, die er Samson zuraunte, wenn sie ihm besonders genial erschienen. Sein sehnlichster Wunsch war eine eigene Werkstatt, in der er experimentieren konnte. »Sie muss ja nicht groß sein«, sagte er immer, damit Eva seinem Drängen nachgab. Aber das Haus war wirklich sehr klein, sogar so klein, dass seine Mutter auf einem ausklappbaren Sofa schlief, das im Wohnzimmer stand. Mats’ Zimmer reichte gerade für sein Bett, ein Regal mit Schreibtisch und den schmalen Kleiderschrank. An der Decke hingen zwei Poster, die er vor dem Einschlafen immer betrachtete: ein Foto von Carl Benz, auf dem ersten Auto sitzend, das er erfunden hatte, und ein Druck des Sternenhimmels mit den wichtigsten Sternbildern, auf dem der Große Hund rot markiert war. Es hatten aber auch noch einige Erfindungen Platz in seinem Zimmer, zum Beispiel eine Murmelbahn aus Pappe über fünf Etagen sowie ein Seil, das am Fußende seines Federbetts befestigt war, über eine Rolle an der Decke lief und dessen Ende in Reichweite über Mats’ Kopfkissen hing. Wenn er morgens aufwachte, riss er an der Leine und zog sich selbst die Bettdecke weg. Das half ihm beim Aufstehen. Denn er schlief zwar nicht gerne ein, aber er stand ebenso ungern früh auf.

Und es passte auch noch die Hundedecke in Mats’ Zimmer, auf der Samson nun fast ununterbrochen lag und schlief. Er war ein strohblonder Mischling mit langem Fell, und er reichte Mats bis zur Hüfte. Seine tapsigen Pfoten waren schneeweiß, und das eine seiner braunen Ohren war in der Mitte eingeknickt. Er hatte einen buschigen, langen Schwanz und haselnussbraune Augen, mit denen er so treuherzig schauen konnte, dass man ihm alles verzieh, selbst wenn er auf das helle Sofa sprang, eine Wurst vom Teller klaute oder im Park die Fährte einer läufigen Hündin aufnahm und stundenlang fortblieb. Nun tat er gar nichts Verbotenes mehr, außer ab und zu auf den Teppich zu pinkeln. Er war sogar so still geworden, dass Mats sich wünschte, er würde etwas anstellen.

Mats war ein großer, blonder und schmaler Junge. Er trug meist Jeans, die er mit einem Gürtel zusammenzog, und sommers wie winters eine dunkelgrüne Strickmütze, unter der die hellen Haarsträhnen heraushingen. Ein Geruch nach Hundekuchen begleitete ihn, da er sie lose in seine Taschen steckte. Und es kam häufig vor, dass seine Mutter unzählige Hundekuchenkrümel in der Wäsche fand. Auf seinem...