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Nachtsicht - Er jagt die Mörder seines Vaters

Stephen Hunter

 

Verlag Festa Verlag, 2014

ISBN 9783865523389 , 609 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

Kapitel 1


Heutzutage braucht man etwa eine Stunde, um von Fort Smith über den Harry Etheridge Memorial Parkway in südlicher Richtung nach Blue Eye in Polk County zu fahren. Dieser Parkway zählt zu den schönsten Straßen in ganz Amerika. Leider erzielte er nicht ganz die erwünschte Wirkung, Polk County in das Branson von West Arkansas zu verwandeln, zumal manche Zyniker aus der Gegend ihn statt als Parkway lieber als Porkway bezeichnen, weil auf ihm ständig Laster mit Schweinefleisch entlangrollen. An seinen Abfahrten reihen sich dicht an dicht Fast-Food-Restaurants und Großtankstellen mit im Wind flatternden Wimpeln. Die riesigen Schilder nationaler Motel-Ketten – Days Inn, Holiday Inn, Ramada Inn – kann man schon von Weitem sehen, obwohl die Motels nie mehr als halb ausgebucht sind und der erhoffte Aufschwung für Polk County nie so recht in Gang gekommen ist. Sobald man sich Blue Eye nähert, der Hauptstadt des Landkreises, verwandelt der Gebirgskamm der Ouachita Mountains die Landschaft auf eindrucksvolle Weise. Die Ouachitas sind die einzige von Osten nach Westen verlaufende Bergkette in Amerika, ein wogendes Meer aus mit Kiefernnadeln übersäter Erde und Felsen.

Die Schnellstraße wurde 1995 fertiggestellt, finanziert von Boss Harrys Sohn Hollis Etheridge, zu dieser Zeit Mitglied des US-Senats und später Präsidentschaftskandidat. Der Sohn wollte durch den Bau der Straße seinem Vater eine Art Denkmal setzen. Dieser war bettelarm in Polk County zur Welt gekommen und hatte sein Glück zuerst in der erbittert ausgefochtenen Bezirkspolitik von Fort Smith, danach im wahren Zentrum der Macht in Washington gesucht, wo er sich 15 Amtszeiten lang als Kongressabgeordneter und schließlich als Vorsitzender des Haushaltsausschusses für das Verteidigungsministerium abmühte. Es schien nur passend, dass Polk County und Fort Smith einen Mann ehrten, dem sie so viel Ruhm – und so großzügige finanzielle Unterstützung – verdankten.

Im Jahr 1955 gab es noch keinen Parkway, man konnte ihn sich zu dieser Zeit noch nicht einmal vorstellen. Man gelangte auf dem gleichen Weg von Blue Eye in die große Stadt, den schon Harry genommen hatte, als er nach dem Ersten Weltkrieg hierhergezogen war: über die gewundene, langsame Route 71, den beschissen armseligsten Witz von einer Schotterpiste, den man sich vorstellen konnte. Zwei Spuren schäbiger Asphalt, die sich durch Berge und Ackerland schlängelten. Alle zehn Meilen verbreiterte sie sich kurzfristig für kleine Kuhkäffer wie Huntington, Mansfield, Needmore, Boles oder das ärmlichste und erbärmlichste von allen: Y City. Insgesamt typisch für die ertragsarme Landschaft eines der elendsten Bundesstaaten der USA: Hügel, zu schroff, um sie zu bewirtschaften, Täler, in denen verzweifelte Männer sich am Rande des Existenzminimums durchschlugen und hier und da etwas Kulturland – doch in der Regel gab es nur die trostlosen Hütten von Farmpächtern zu entdecken.

An einem heißen Samstagmorgen im Juli dieses Jahres hielt ein schwarz-weißer Ford der Landespolizei am Straßenrand, nahe der Grenze zwischen den Landkreisen Polk und Scott auf der US 71, etwa zwölf Meilen nördlich von Blue Eye. Ein hochgewachsener Polizeibeamter stieg aus, nahm seinen Stetson ab und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Er trug die drei gelben Streifen eines Sergeants auf der Schulter und unter seinem grauen Bürstenschnitt besaß er den unbeirrten Blick und das unbeeindruckbare Gesicht eines Unteroffiziers, der in jeder Armee oder Polizei der letzten 4000 Jahre gedient haben könnte. Eine ganze Phalanx von Falten breitete sich in seinem wettergegerbten Gesicht aus, dessen Haut so viele Jahre in der Sonne gebraten hatte, dass sie einem Stück uraltem Leder ähnelte. Seine Augen hatte er zu Schlitzen zusammengekniffen. Scharfe Augen, denen nichts entging und die nichts verrieten. Seine Stimme klang so tief und rau, als ob jemand eine 300 Jahre alte Kiefer mit einer 300 Jahre alten Säge fällte. Sein Name lautete Earl Swagger, und er war 45 Jahre alt.

Earl sah sich um. Die Straße verlief hier an einem Hang entlang, sodass auf der einen Seite eine hohe Böschung aufragte, während das Land zur anderen Seite hin steil abfiel. Viel gab es nicht zu sehen, außer einer gottverdammten Reklametafel für Texaco-Benzin: nur ein dicht gewachsener Wald am Südhang, schwer zu durchqueren, ein dorniger Irrgarten aus Fichtenkiefern, Schwarzeichen, schwarzen Hickorybäumen und einem wirren Unterholz mit Dornbüschen und Arkansas-Yuccas. Staub schien in der Luft zu hängen; es gab keinen Wind, nicht den geringsten Hauch klarer Bergluft. Wenn man zurück in Richtung Blue Eye blickte, wurde einem die Sicht vom Buckel des Fourche Mountain versperrt, der wie eine riesige, grüne Wand wirkte. Auf der Straße war ein Gürteltier vom Sattelschlepper eines Holzfällers zu einer Mischung aus Fleisch, Blut und abgebrochenen Schuppen zerquetscht worden. Zikaden sangen in der stillen Hitze und klangen wie ein Quartett betrunkener Maultrommelspieler. Es hatte seit Wochen nicht geregnet: Waldbrandwetter. Das erinnerte Earl an andere heiße, staubige Orte, an denen er sich schon aufgehalten hatte: Tarawa, Saipan und Iwojima.

Er spähte auf seine Bulova. Er war früh dran, doch das traf auf den Großteil seines Lebens zu. 9:45 Uhr. Die anderen trafen erst in einer Viertelstunde ein. Earl setzte seinen Stetson wieder auf. Ein Colt Trooper Kaliber 357 steckte unter einer Lasche in einem Holster an der rechten Hüfte; er zog ihn hoch, weil das Gewicht der großen Pistole seinen Gürtel ständig nach unten rutschen ließ. Er empfand es als ständigen Kampf, die Waffe dort zu behalten, wo sie hingehörte. 30 glänzende Hochgeschwindigkeits-Teilmantelgeschosse steckten in den Gürtelschlaufen. Sie glänzten, weil er sie im Gegensatz zu anderen Cops jeden Abend aus den Schlaufen zog und abwischte, um zu vermeiden, dass die vom Leder angezogene Feuchtigkeit sie zum Rosten brachte. In seinen 15 Jahren beim Marine Corps hatte Earl zahlreiche Lektionen gelernt, die wichtigste: Halte deine Ausrüstung immer in Schuss.

Es wurde ein melancholischer Tag, obwohl er am Vorabend noch so viel Freude versprochen hatte: der 23. Juli 1955. Nach 90 Tagen entließ man Jimmy Pye aus dem Sebastian-County-Gefängnis bei Fort Smith. Jimmys Cousin Bub wollte sich mit ihm am Gefängnistor treffen, um mit ihm gemeinsam den Bus nach Polk County zu nehmen. Earl hatte angekündigt, sie dort um 16:30 Uhr abzuholen und Jimmy zu Mike Logans Sägewerk in Nunley zu bringen. Mike wollte Jimmy dort einen Job besorgen. Das war wichtig: Jimmy musste sich die Chance auf einen guten Neuanfang sichern, wenn er es schaffen wollte, und bei Gott, Earl hatte Jimmys Frau Edie versprochen, dafür zu sorgen, dass Jimmy diesmal auf der richtigen Seite des Gesetzes blieb.

1950, Jimmy feierte damals gerade seinen 16. Geburtstag, hatte Earl ihn zum ersten Mal widerwillig festgenommen, wegen eines gewöhnlichen Einbruchs. Das nächste Mal hatte er ihn 1952 erwischt, dann noch zweimal im Jahr 1953. Jedes Mal hatte Jimmy sich aus der Sache rausreden können, denn das zählte zu seinen Talenten: Er war nicht nur gut aussehend und der beste High-School-Sportler, den Polk County je gesehen hatte, sondern er verfügte auch über jede Menge Charme. Er brachte die Leute dazu, dass man ihn mochte. Hinter ihm lag eine wilde Jugend: Sein Vater war in Iwojima ums Leben gekommen und Earl hatte dem Sterbenden geschworen, sich um Jimmy zu kümmern. Auf einem Schlachtfeld geleistete Schwüre gewannen nach der Rückkehr in die Normalität zunehmend an Bedeutung. Earls Frau June hatte sogar einmal gesagt: »Earl, ich möchte wetten, dass du dich um diesen wilden Proletenjungen besser kümmerst als um deinen eigenen Sohn.« Earl wusste, dass das nicht stimmte, aber er wusste auch, dass es den Leuten wohl so vorkommen musste.

Wenn man Jimmy so ansah, wusste man einfach, dass er alles werden konnte, wovon sein Vater geträumt hatte: Er war klug genug, um aufs College zu gehen, und mit der richtigen Führung konnte er danach ein wunderbares Leben beginnen. Gerade vor vier Monaten hatte er mit 21 Jahren das hübscheste Mädchen in ganz Polk County geheiratet. Doch es war, als trage er irgendeine verdorbene Ader in sich: Immer wenn er etwas bekam, das für andere – Edie White zum Beispiel – unerreichbar schien, warf er es einfach weg.

Es versprach also ein feierlicher Tag zu werden, denn schließlich konnte man getrost annehmen, dass 90 lange Tage im Knast einfach jeden wieder zur Vernunft brachten: Jimmy und Edie konnten ein neues Leben anfangen, Earl kam all seinen Verpflichtungen gegenüber Jimmys Dad nach und sie alle konnten endlich wieder optimistisch nach vorne schauen.

Dann bemerkte Earl, wie ein anderes Fahrzeug in Sichtweite geriet: ein schwarzer Streifenwagen, der aus Blue Eye kommend die 71 entlangfuhr. Er hielt am Straßenrand. Ein Hilfssheriff aus Blue Eye, ein hagerer Mann namens Lem Tolliver, stieg aus und Earl erinnerte sich wieder, weshalb er hier war.

»Howdy, Earl«, rief der Deputy. »Sind wir zu spät oder bist du zu früh?«

»Ich bin zu früh. Außerdem sind die verdammten Hunde noch nicht hier. Ich hoffe, dass dieser gottverdammte alte Mann es nicht vergisst.«

»Wird er nicht«, entgegnete Tolliver. Dann wandte er sich um und öffnete die Hintertür. »Okay, Jungs, raus mit euch. Sind da.«

Zwei sonnenverbrannte Kerle in Häftlingskleidung kletterten heraus. Earl kannte sie: Lum und Jed Posey hatten mehr Zeit im Knast von Blue Eye verbracht als in Freiheit. Sie gerieten andauernd wegen irgendwelchem läppischen Kram mit dem Gesetz in Konflikt, für jede dumme Kleinigkeit, die man sich vorstellen konnte – meistens...