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Ungezähmte Sehnsucht - Roman

Johanna Lindsey

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641157289 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Kapitel 1


Buckingham Palace. Rebecca Marshall fiel es schwer, zu glauben, dass sie von nun an dort leben würde. Obwohl sie bereits vor über einer Woche die Kunde erhalten hatte, konnte sie es immer noch nicht recht fassen.

Als die Kutsche vor dem Palast vorfuhr, machte ihr Herz einen Satz.

Hofdame am Hofe von Königin Victoria zu sein, war die schönste Überraschung, die das Schicksal bislang für sie in petto gehabt hatte. Rebeccas Mutter Lilly, die seit Langem hoffte, ihre Tochter würde eines schönen Tages mit ebendieser prestigeträchtigen Position betraut, hatte ihrer Tochter wohlweislich vorenthalten, dass sie dafür den einen oder anderen Gefallen von einflussreichen Leuten hatte einfordern müssen. Warum sie das getan hatte? Um einer möglichen Enttäuschung ihrer Tochter vorzubeugen, gesetzt den Fall, ihr Plan ging nicht auf.

Doch Lillys Sorgen waren vollkommen unbegründet. Rebecca wäre keineswegs betrübt gewesen, hatte sie doch nicht im Traum damit gerechnet, mit ihren achtzehn Lenzen zur Hofdame zu avancieren.

Es war ein offenes Geheimnis, dass Rebeccas Mutter sich stets sehnlichst gewünscht hatte, dass ihre Tochter eines Tages für die Krone arbeitete. Wie oft hatte Lilly über ihre verpasste Chance, selbst Hofdame zu sein, gesprochen? Doch das Leben – sprich: die Liebe – hatte ihr einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Lilly hatte geheiratet.

Genau wie ihr Gemahl war Lillys Familie tief im konservativen Lager der Tories verwurzelt. Angesichts der Tatsache, dass die eher liberalen Whigs an der Macht waren und somit auch die Zügel am Hofe in der Hand hielten, war es Lilly schließlich verwehrt geblieben, ihren Traum zu leben. Irgendwann hatte sie die Hoffnung schließlich begraben.

Als nach einer halben Ewigkeit die konservativen Tories das Zepter übernahmen und Sir Robert Peel zum neuen Premierminister erklärten, hatte Lilly keine Zeit verloren und war an wichtige Parteimitglieder herangetreten, um Rebecca zu einer Anstellung am Hofe zu verhelfen. Trotz ihres Engagements war lange nicht klar gewesen, ob Rebecca tatsächlich einen der begehrten Posten bekäme – bis in der vorangegangenen Woche das heiß ersehnte Schreiben eingetroffen war. Als Lilly den Brief las, hatte sie vor lauter Freude gejohlt, als wäre sie selbst an den Hof berufen worden.

Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Mutter und Tochter hatten nämlich erst kurz vorher damit begonnen, Rebeccas Debüt für die Wintersaison zu planen, wenngleich es noch Monate bis dahin dauerte. Aus ebendiesem Grunde hatte es bisher nur erste Entwürfe für Rebeccas neue Garderobe gegeben. Es war unglaublich, wie viele Näherinnen Mutter und Tochter beauftragen mussten und wie viele Entscheidungen es in der Kürze der Zeit zu fällen gab – ganz zu schweigen von den vielen Fahrten in das nahe gelegene Norford. An manchen Tagen hatten sie die Strecke mit Hin- und Rückfahrt vier bis sechs Mal zurückgelegt. Mit jedem Tag, an dem Rebeccas Abreise näherrückte, wuchs die Aufregung bei Mutter und Tochter. Rebecca konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft Lilly ihr erzählt hatte, dass die Anstellung am Hofe eine einmalige Chance darstellte.

Gemessen an Rebeccas bisherigem Leben war es der größte Einschnitt seit dem Ableben ihres Vaters. Der Earl of Ryne hatte das Zeitliche gesegnet, als Rebecca gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Schnell war klar, dass Lilly nie wieder heiraten würde. Es hatte sie nicht beeindruckt, dass Adelstitel und die Besitztümer des Earls an einen seiner männlichen Verwandten fielen. Einzig das Anwesen unweit von Norford, Rebeccas Elternhaus, war Lilly geblieben, und sie hatte das Beste daraus gemacht und klug gewirtschaftet, sodass sie finanziell gut aufgestellt war.

Im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte Rebecca ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus verbracht, war nicht weggegangen, um anderswo ein Internat für Mädchen zu besuchen. Lilly, die es nicht über das Herz gebracht hatte, Rebecca ziehen zu lassen, hatte als Ausgleich die besten Hauslehrer engagiert.

Rebecca hatte sich nicht weiter daran gestört, konnte sie doch unendlich viel Zeit mit ihrer Mutter verbringen. Morgens, vorausgesetzt, das Wetter erlaubte es, frönten sie ihrer Lieblingsbeschäftigung: dem Reiten. Doch das war nicht das Einzige, was Rebecca am Hofe vermissen würde.

Da Mutter und Tochter in der Umgebung um Norford einen guten Ruf genossen, bekamen sie fast täglich Besuch oder wurden eingeladen. Die Gewissheit, dass Norford nur wenige Stunden nördlich von London lag, spendete Rebecca ein wenig Trost. Nichtsdestoweniger hatte Lilly sich fest vorgenommen, Rebecca erst einmal genügend Zeit zu lassen, um sich am Hofe einzugewöhnen, ehe sie ihr einen Besuch abstattete. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck einer gluckenhaften Mutter entstehen lassen, wenngleich das der Wahrheit sehr nahe kam.

Bei genauer Betrachtung stellte sich heraus, dass Rebeccas Berufung an den Hof nicht ihre erste Chance darstellte, ihrem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Die erste Gelegenheit hatte sich vor fünf Jahren ergeben, als Mutter und Tochter sich darüber einig gewesen waren, wen Rebecca einmal heiraten sollte. Wenn es Rebecca gelungen wäre, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wäre ihre Einführung in die Gesellschaft hinfällig gewesen. Doch wie das Schicksal es wollte, war sie noch nicht alt genug für ihn gewesen. Die Rede war von Raphael Locke, dem Erben des Herzogs von Norford. Diese Verbindung wäre äußerst bequem gewesen, zumal es sich bei Raphael um ein besonders schmuckes Mannsbild handelte. Doch dann kam alles anders. Rebeccas Schwarm hatte einfach eine andere geehelicht.

Eine gar herbe Enttäuschung für Mutter und Tochter. Rebecca hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als Teil der illustren Lock’schen Familie zu werden, an deren Spitze der Herzog Preston Locke stand. Preston hatte noch fünf Schwestern, die allesamt verheiratet waren. Und obwohl die fünf über das ganze Land verstreut lebten, kehrten sie regelmäßig nach Norford zurück, um ihrem Bruder einen Besuch abzustatten.

Wie oft hatte Lilly Rebecca in schillernden Farben Geschichten von früher erzählt, als die Locke-Töchter noch zu Hause gewohnt hatten und die Familie Dreh- und Angelpunkt der ortsansässigen Gesellschaft gewesen war. Als Kind war Rebecca regelmäßig in den Genuss rauschender Bälle in Norford Hall gekommen. Es hatte nicht viel gefehlt, und Rebecca hätte sich mit Prestons jüngster Tochter, Amanda Locke, angefreundet, die nur wenige Jahre älter als sie selbst war. Noch heute bedauerte Rebecca, dass Amanda, der Familientradition folgend, auf eine entfernt gelegene Privatschule geschickt worden war. Als auch das Nesthäkchen ausgezogen war, hatte es, sehr zum Leidwesen von Mutter und Tochter, kaum noch Festivitäten auf Norford Hall gegeben. Obschon die Gemahlin des Herzogs bereits Jahre zuvor verschieden war und jede alleinstehende Frau in der näheren Umgebung mindestens ein Mal versucht hatte, das Herz des Herzogs zu erobern, war er Witwer geblieben. Der Hausherr von Norford Hall zog es vor, mit seiner betagten Mutter unter einem Dach zu leben. Irgendwann hatte Ophelia Locke es übernommen, Empfänge und Feste im Hause des Herzogs auszurichten. Dieselbe Ophelia, der es gelungen war, Raphaels Herz zu erobern, ehe Rebecca die Chance hatte, zum Angriff überzugehen.

Somit waren es streng genommen schon zwei verpasste Gelegenheiten, Bande zwischen den Marshalls und dieser hochgradig ungewöhnlichen Familie zu knüpfen: als beste Freundin und als Gemahlin. Aber das war Schnee von gestern. Das Leben ging weiter – und zwar als Hofdame am Hofe von Königin Victoria. Rebecca war sich der Vorteile, die sich daraus ergaben, durchaus bewusst. Mit ein wenig Glück lernte sie die wichtigsten Persönlichkeiten Englands sowie Repräsentanten anderer Königshäuser kennen. Oder die Königin persönlich war ihr bei der Wahl ihres Gemahls behilflich.

Es grenzte an ein Wunder, dass Rebeccas Garderobe noch rechtzeitig vor der Abreise nach London fertig wurde. Besonders erfreulich war, dass die Gewänder um einiges glamouröser ausgefallen waren als für ein herkömmliches Gesellschaftsdebüt. Lilly hatte weder Kosten noch Mühen gescheut und es sich nicht nehmen lassen, Rebecca und ihre Magd Flora von Norford bis zum Palast zu begleiten.

Es war nicht das erste Mal, dass Rebecca nach London kam. Im Laufe der Jahre hatten sich mehrfach Möglickeiten dazu ergeben; sei es, um Einkäufe zu erledigen, Pferderennen beizuwohnen, an denen der Vater von Lillys Stute teilnahm, oder um die Vermählung einer alten Freundin der Familie zu feiern. Rebecca hatte schon viel von der Hauptstadt gesehen – mit Ausnahme des Buckingham Palace. Das war jedoch dem Umstand geschuldet, dass der Palast erst seit wenigen Jahren wieder bewohnt war.

Als Rebecca aus der Kutsche stieg und das beeindruckende Gebäude, in dem sie die nächsten Monate oder vielleicht Jahre verbringen würde, ausgiebig musterte, gingen ihr fast die Augen über. Der Palast war größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Die edlen Marmorbögen, die den Haupteingang säumten und bis in den Himmel zu ragen schienen, verschlugen Rebecca die Sprache. Sie konnte kaum glauben, dass sie in wenigen Minuten durch ebendiese Bögen den Palast betreten würde.

Vorausgesetzt, sie konnte ihre Füße dazu überreden, sich in Bewegung zu setzen. Die Nervosität, die sie vom Kopf bis in die Zehenspitzen erfüllte, war überwältigend. Rebecca wusste bereits, dass Lilly sie nicht mit in den Palast begleiten würde, fühlte sich aber noch nicht bereit, sich von ihr zu verabschieden.

Lilly nahm Rebeccas Hand und...