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Verlorene Liebe - Roman

Nora Roberts

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641156664 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1. Kapitel


Das Flugzeug sauste über das Lincoln Memorial hinweg. Grace’ Aktenkoffer lag offen auf ihrem Schoß. Dutzende Dinge wollten eingepackt werden, doch sie blickte in aller Ruhe aus dem Fenster und freute sich zu sehen, wie der Boden näher kam. Was sie betraf, gab es nichts, das sich mit dem Fliegen vergleichen ließe.

Das Flugzeug hatte Verspätung. Grace wußte das, weil der Mann auf Sitzplatz 3B sich ständig darüber beschwerte. Sie war versucht, sich über den Mittelgang zu beugen, seine Hand zu tätscheln und ihm zu versichern, daß eine zehnminütige Verspätung nun wirklich nicht den Untergang der Welt bedeutete. Aber er machte nicht den Eindruck, als sei er für solchen Trost empfänglich.

Kathleen würde bestimmt auch schon ungehalten sein, dachte Grace. Natürlich würde sie sich nicht lautstark beschweren oder ihrem Unmut sonstwie Luft machen, sagte sie sich mit einem Lächeln und lehnte sich zurück, um sich für die Landung anzuschnallen. Kathleen mochte genauso irritiert sein wie der Herr auf 3B, aber sie war viel zu sehr Dame, um sich wie der Mann in lautstarken Beschwerden zu ergehen.

Grace kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, daß Kathleen eine Stunde vor der Zeit das Haus verlassen hatte, weil sie natürlich damit rechnete, irgendwo im unvorhersehbaren Verkehr von Washington steckenzubleiben. Grace hatte deutlich aus der Stimme ihrer Schwester einen Vorwurf darüber herausgehört, daß sie sich ausgerechnet einen Flug ausgesucht hatte, der um achtzehn Uhr fünfzehn landen sollte, wenn die Rush Hour ihren Höhepunkt erreichte. Kathleen war bestimmt zwanzig Minuten zu früh angekommen, hatte ihren Wagen auf den Platz für Kurzparker abgestellt, das Fenster hochgekurbelt, kontrolliert, ob alle Türen verriegelt waren, und sich dann, ohne sich von den Auslagen der Geschäfte ablenken zu lassen, direkt auf den Weg zur Ankunftshalle gemacht. Kathleen würde nie vor dem falschen Gate warten oder die Ankunftszeit durcheinanderbringen.

Kathleen war stets pünktlich. Grace hingegen kam ständig und überall zu spät. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.

Trotzdem hoffte Grace jetzt aus tiefstem Herzen, daß es zwischen ihnen ein paar Gemeinsamkeiten geben würde. Sie waren zwar Schwestern, hätten aber unterschiedlicher nicht sein können.

Das Flugzeug setzte auf, und Grace fing an, alles, was ihr zwischen die Finger kam, in den Aktenkoffer zu werfen: Lippenstift und Streichholzbriefchen, Kugelschreiber und Pinzette. Das war auch eines der Dinge, die eine so ordentliche Frau wie Kathleen nie verstehen konnte. Bei ihr hatte alles seinen festen Platz. Grace stimmte ihr da im Prinzip durchaus zu, aber irgendwie schienen sich bei ihr die Plätze für die Dinge von Mal zu Mal zu ändern.

Mehr als einmal hatte Grace sich gefragt, wie zwei so verschiedene Frauen Schwestern sein konnten. Sie selbst war sorglos, saumselig und erfolgreich, Kathleen hingegen liebte die Ordnung, war praktisch veranlagt und hatte es im Leben nie leicht gehabt. Dabei hatten sie dieselben Eltern, waren im selben Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington aufgewachsen und hatten dieselben Schulen besucht.

Die Nonnen in der Schule hatten es nie vermocht, Grace beizubringen, ihre Hefte ordentlich zu führen. Aber schon in der sechsten Klasse waren sie davon fasziniert, wie geschickt und spannend das Mädchen Geschichten erfinden und erzählen konnte.

Als das Flugzeug am Gate stand, blieb Grace sitzen, während die eiligeren Passagiere bereits den Mittelgang verstopften. Sie wußte, daß Kathleen jetzt nervös vor dem Ausgang auf und ab lief und sich bereits fragte, ob ihre schusselige Schwester womöglich den Flug verpaßt hatte. Aber Grace brauchte noch eine Minute, um sich zu sammeln. Wenn sie gleich ihrer Schwester gegenüberstand, wollte sie an die schönen Momente und nicht an die Wortgefechte denken.

 

Wie Grace es vermutet hatte, wartete Kathleen unmittelbar am Ausgang. Sie verfolgte, wie die Passagiere einer nach dem anderen herausströmten, und spürte eine neue Aufwallung von Arger. Die ersten fünfzig Personen hatten sie passiert, und Grace war nicht unter ihnen gewesen. Vermutlich hält sie gerade mit den Flugbegleitern ein Schwätzchen, dachte Kathleen und bemühte sich, den Neid zu unterdrücken, der bei dieser Vorstellung in ihr hochstieg.

Grace hatte nie Mühe gehabt, Freunde zu finden. Im Gegenteil, die Menschen fühlten sich sofort zu ihr hingezogen. Schon zwei Jahre nach ihrem Abschluß hatte Grace, die auf der Wolke ihres Charmes durch die Schule geschwebt war, ihre Karriere begonnen. Ein halbes Leben später arbeitete Kathleen, die ihren Abschluß mit Auszeichnung bestanden hatte, an derselben High-School, die sie und ihre Schwester früher besucht hatten. Sie saß zwar heute auf der anderen Seite des Lehrerpults, aber sonst hatte sich seit damals wenig geändert.

Aus dem Lautsprecher ertönten in endloser Folge Ankunfts- und Abflugzeiten. Änderungen der Gate-Nummer und Verspätungen wurden durchgegeben, und noch immer war keine Grace in Sicht. Gerade als Kathleen sich entschloß, an der Information nach ihrer Schwester zu fragen, kam Grace heranmarschiert. Der Neid in Kathleen verging, und ebenso verflog ihre Irritation. Es war unmöglich, auf Grace böse zu sein, wenn man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Warum sah Grace immer so aus, als käme sie gerade aus einem schweren Sturm? Ihr Haar, genauso tiefschwarz wie das von Kathleen, reichte bis auf Kinnhöhe herab und wirkte in seinem kühnen Schwung, als hätten sich diverse Böen daran ausgetobt. Beide Frauen besaßen den gleichen Körper, doch während er bei Kathleen zu stämmig aussah, wirkte er bei Grace schlank und biegsam. Sie ähnelte einer Weide, die sich geschmeidig im Wind beugt. Allerdings machte sie im Moment einen etwas verknitterten Eindruck. Sie trug einen hüftlangen Pullover über Leggings, eine Sonnenbrille, die von der Nase zu rutschen drohte, und gelbe hohe Turnschuhe, die farblich zum Pullover paßten. Kathleen hingegen hatte noch immer den Rock und das Jackett an, in denen sie zum Unterricht erschienen war.

»Kath!« Kaum hatte Grace ihre Schwester erspäht, ließ sie alle Taschen fallen, die sie mit sich schleppte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie den nachfolgenden Passagieren dadurch den Weg versperrte. Sie umarmte Kathleen mit dem Enthusiasmus, mit dem sie alles anzugehen pflegte. »Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Du siehst großartig aus. Oh, ein neues Parfüm.« Sie schnüffelte intensiv. »Hm, gefällt mir.«

»Lady, geht es heute nochmal weiter?«

Ohne Kathleen loszulassen, lächelte Grace den entnervten Geschäftsmann hinter ihr an und riet ihm: »Steigen Sie doch einfach über die Sachen.« Knurrend befolgte er ihren Vorschlag. Grace hatte ihn schon vergessen, so wie ihr Unannehmlichkeiten nie lange etwas anhaben konnten. »Und, wie gefällt dir mein Outfit?« fragte sie ihre Schwester. »Was sagst du zu meiner neuen Frisur? Ich hoffe, du magst sie, denn ich habe ein wahres Vermögen für die Publicity-Aufnahmen hingeblättert.«

»Ich hoffe, du hast dich vorher wenigstens gekämmt.«

Grace fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wahrscheinlich.«

»Die neue Frisur steht dir gut«, urteilte Kathleen. »Und jetzt komm. Gleich bricht hier ein Aufstand los, wenn wir deine Sachen nicht endlich aus dem Weg räumen. Was ist denn das?« Sie hob einen klobigen Aktenkoffer.

»Maxwell«, antwortete Grace und sammelte ihre Taschen ein. Mein tragbarer Computer. Maxwell und ich haben die wundervollste Affäre, die du dir nur vorstellen kannst.«

»Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.« Kathleen gelang es, sich den wiederaufkeimenden Ärger nicht anmerken zu lassen. Der Computer war ein zu deutliches Symbol für Grace’ Erfolg und ihr eigenes Scheitern.

»Ich will ja auch Urlaub machen. Aber irgendwie muß ich mir doch die Zeit vertreiben, wenn du in der Schule unterrichtest. Hätte das Flugzeug noch weitere zehn Minuten Verspätung gehabt, wäre das Kapitel zu Ende geschrieben.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stellte fest, daß sie schon wieder stehengeblieben war, und vergaß sie im nächsten Moment. »Ehrlich, Kath, das wird der sensationelleste Mord, von dem du je gelesen hast.«

»Wo ist dein Gepäck?« unterbrach Kathleen sie rasch, weil sie wußte, daß Grace ihr sonst den ganzen Roman erzählt hätte.

»Meine Kiste wird morgen bei dir zu Hause abgeliefert.«

Die Kiste. In Kathleens Augen eine weitere Exzentrizität ihrer Schwester. »Grace, wann fängst du endlich an, wie normale Menschen mit Koffern zu verreisen?«

Sie liefen am Gepäckförderband vorbei, wo die Menschen dicht gedrängt standen, um sich beim Anblick ihres geliebten Samsonite-Koffers gegenseitig totzutrampeln. Erst wenn die Hölle zufriert, verreise ich so wie alle normalen Menschen, dachte Grace und lächelte. »Du siehst wirklich gut aus. Wie fühlst du dich?«

»Gut.« Doch weil sie schließlich ihre Schwester vor sich hatte, fügte Kathleen hinzu: »Eigentlich schon besser.«

»Du bist ohne den Mistkerl auch wirklich besser dran«, sagte Grace, als sie durch die automatischen Türen gingen. »Ich sage das nicht gern, weil ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, aber es ist die Wahrheit.« Eine kalte Brise wehte aus dem Norden heran und ließ die Menschen vergessen, daß es bereits Frühling war. Über ihnen dröhnten startende und landende Flugzeuge. Grace lief, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, auf die Straße und zum Parkplatz. »Das einzige Schöne, was er in dein Leben gebracht hat, war Kevin. Wo steckt mein Neffe eigentlich? Ich hatte gehofft, du würdest ihn...