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Lauras Bildnis - Roman

Henning Boëtius

 

Verlag btb, 2002

ISBN 9783894807009 , 175 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR

  • Du gibst das Leben - Das sich wirklich lohnt
    Der Bankräuber - Die wahre Geschichte des Farzad R.
    Den Himmel gibt's echt - Die erstaunlichen Erlebnisse eines Jungen zwischen Leben und Tod
    Der Geschmack des Wassers - Der Hexenprozess von Dillenburg
    Zeit der Vergebung
    Die Zehn Gebote - Anspruch und Herausforderung
    Hurentaten - Die Erlebnisse eines Wiener Mädchen
    Mein Herz kennt die Antwort
  • Bleib cool, Papa - Guter Rat für viel beschäftigte Väter
    Sturz der Titanen - Die Jahrhundert-Saga. Roman
    Das andere Kind - Kriminalroman
    Verdammnis - Roman
    Bartimäus - Das Amulett von Samarkand
    Anleitung zum Philosophieren - Selber denken leicht gemacht
    Elfenkind - Ein Vampir auf der Suche nach der Wahrheit. Und ein Elfenkind, das den Schlüssel zu allem in sich trägt ...
    Alphavampir (Alpha Band 2) - Fortsetzung der Paranormal Romance um eine Gruppe Gestaltwandler
 

 

Er saß am Fenster und beobachtete, wie der Streifen Sonnenlicht auf dem gegenüberliegenden Dach immer breiter wurde. Er färbte es ziegelrot und ließ das Blau des Himmels über dem Dachfirst unnatürlich wirken in seiner Intensität. Einmal drehte er den Kopf und blickte in sein Zimmer. Der Widerschein des Lichtes verlieh den Wänden und Gegenständen einen warmen Ton. Er mochte diesen karg eingerichteten Raum mit seinen schrägen Wänden, dem Eisenbett, der Staffelei und der blauen Waschgarnitur aus Email.
Sein Blick fiel auf eine Plastikscheibe mit einem Frauenkopf, in dessen geöffnetem Mund sich unmerklich die Achsen zweier Zeiger drehten. Dann sah er wieder hinaus.
Er wartete, bis die nächste Reihe Dachziegel in Sonnenlicht getaucht war. Dann sah er auf die Uhr. Fünf Minuten waren vergangen. Das Dach hatte siebzehn Reihen Ziegel. Es würde also noch über eine Stunde dauern, bis die Sonne das Mauerwerk erreicht hatte. Dann würde er eine andere Maßeinheit berechnen müssen. Vielleicht lohnte es sich, die Blätter der Weinranken zu zählen. Erst wenn die kleine Bank am Fuß der Mauer im Licht lag, würde er hinausgehen und sich dort niederlassen. Es konnte noch zwei Stunden dauern. Er hatte Zeit.
Von draußen kamen Geräusche. Madame Régusse brachte den Kaffee, Brot und etwas Butter. Sie stellte das Tablett auf einen Hocker draußen im Flur. So hatte er es sich erbeten.
Er stand auf, öffnete die Tür und blickte ihr nach. Madame Régusse war schlank und hochgewachsen. Sie bewegte sich elegant. Immer noch wie eine junge Person, fand er. Sie trug eine Brille und hatte graue Locken.
»Bei einigem guten Willen«, dachte er, »könnte man sie für eine Verwandte meiner Freundin halten. Sie hat eine größere Nase und schmalere Lippen. Doch ihre Augen sind genauso grau. Wie ein Regentag am Meer.«
Er ging zum Waschbecken. Da hockte immer noch der Tausendfüßler, der trotz seiner vielen Beine die steilen Emaillewände nicht hochgekommen war. Ins Abflußloch wollte er offenbar nicht zurück.
»So ist es, mein lieber Tausendfüßler«, murmelte er. »Fürs eine zu schwach, fürs andere zu feige. Jetzt hockst du da, und es bleibt dir nichts anderes übrig, als zu verhungern.« Er liebte neuerdings solche Gespräche mit stummen Partnern. Es gefiel ihm, sich wie ein alter Mann zu benehmen.
Heute morgen hatte er bemerkt, daß auf dem Fliegenfänger im Klo sieben Fliegen klebten. Eine mehr als gestern. Die neue bewegte noch ein wenig die Glieder in dem zähen gelben Leim. »Zu spät. Dir ist nicht mehr zu helfen«, hatte er gesagt. »Wenn ich dich befreien wollte, würdest du all deine Beine und Flügel verlieren. Es ist besser, du stirbst komplett.« Er hatte der Fliege zugenickt und war wieder in sein Zimmer gegangen. Die Sonne hatte gerade den gegenüberliegenden Dachfirst berührt.
Es kam ihm vor, als sei er schon lange hier. Er hatte damals von diesem Ort geträumt, als sei er Wirklichkeit. Damals, als er sich zum ersten Mal mit Petrarca beschäftigt hatte. Nun war er in seiner Wirklichkeit, und sie kam ihm wie ein Traum vor.
Petrarca hatte hier viele Jahre gelebt. Die Landschaft hatte sich seitdem nur unwesentlich verändert. Vielleicht gab es ein paar Bäume weniger, aber das Wasser des Flusses war noch genauso klar wie im 14. Jahrhundert. Es hatte Petrarcas Augen nicht mehr Widerstand entgegengesetzt als seinen eigenen. Es war klar bis an die Grenze zur Unsichtbarkeit, und gerade dies verlieh ihm eine optische Gewalt, eine Saugkraft, wie sie von einem Abgrund ausgeht. Man starrte in dieses flüssige Nichts und sah den Boden des Flusses wie unter einer Lupe. Es konnte einem schwindlig werden, obwohl der Fluß kaum einen Meter tief war.
Er war erstaunt, wie rasch sein Lebensrhythmus sich geändert hatte, seitdem er hier war. Alles schien ihm zugleich grenzenlos langsam und grenzenlos schnell zu sein. Die Katze auf der hellen Steinmauer konnte er mit einer Kopfdrehung erfassen. Er nahm jede Bewegung des Tieres wahr, auch wenn sie noch in seiner Unbewegtheit verborgen war. Er sah, wie sich die grünen Augen mit den schwarzen Pupillenschlitzen vor der Sonne schlossen, wie die Vorderbeine sich aus der Wärme in eine kühlere Zone vortasteten und wieder zurückzogen. Nur sehr langsam hingegen ließ es sich die Straße zum Bäcker hinuntergehen, um ein Brot zu kaufen. Es galt, unter Millionen hellgrün leuchtender Platanenblätter hindurchzulaufen, und jedes einzelne war eines Blickes wert.
»Ich muß wieder leben lernen«, dachte er, »wie ein kleines Kind das Laufen lernt. Schritt für Schritt, sich abstützend, greinend, wenn es sich stößt, lächelnd, wenn es vorankommt. Ich habe wohl alles falsch gemacht. Ich wollte auf Stelzen kriechen. Ich glaubte mich hoch über den Dingen und war doch weit unter ihnen. Ich wußte nicht einmal mehr, was Liebe ist. Vielleicht, weil ich es als Kind nicht lernen durfte. Offenbar liebte ich sehr. Doch es war eine kleine Liebe, bei Licht besehen. Zuviel Ängstlichkeit auf beiden Seiten und dazwischen viel Bedürftigkeit. Keine gute Mischung. Aber ich habe das Rauchen aufgegeben. Immerhin.«
Er dachte an Lauras letzten Satz. »Ich werde das Rauchen aufgeben«, hatte sie beim Abschied gesagt. Und er war sich klar darüber, daß ihm keine andere Möglichkeit geblieben war, seinen alten Gefühlen nun in dieser Weise Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Irgendwo auf der Welt war sie jetzt und gab das Rauchen auf. Er tat es hier. Es war wie mit dem Mond, den zwei getrennte Liebende gleichzeitig ansehen, um sich auf diesem Weg einzubilden, sich nahe zu sein.
Oben im Haus sprang der Kühlschrank von Madame Régusse an.
Er schrak zusammen und veränderte seine Sitzhaltung. Er war empfindlich geworden gegen Nebengeräusche. Laute Geräusche kamen ihm hingegen unnatürlich gedämpft vor.
Die Bank lag jetzt in der Sonne. Er ging mit seiner Tasse hinunter und setzte sich. Es war ein schönes Plätzchen, von der Straße aus nicht zu sehen. Hier saß er gerne und lange, nicht, um nachzudenken, sondern um sich von der Sonne ausbrennen zu lassen. Es war ihm eine neue Erfahrung, die Wärme so zu schätzen. Sie trocknete die Gedanken im Kopf ein, ohne dumm zu machen. Vielleicht konnte große Kälte das auch. Gedanken lebten wohl am besten bei gemäßigten Temperaturen, unter bedecktem Himmel.
Der Mistral blies, und im Schatten war es bitterkalt. Aber der Himmel war vom Wind so klar, daß die Sonne hochsommerliche Kraft hatte.
Er trank den Kaffee in kleinen Schlucken. Auch seine Geschmacksnerven waren unnatürlich geschärft. Er schmeckte Süße und Bitternis des Getränks wie zwei getrennte Körper, die sich eng umschlungen hielten. Dabei beobachtete er aus den Augenwinkeln eine Eidechse, die dicht neben ihm auf dem Mauerwerk hockte. Sie hatte den Kopf schiefgelegt und starrte ihn aus einem winzigen, schwarzen Auge an. Sie verhielt sich völlig regungslos. Ihr Körper hatte die Farbe der Steine und glich in seiner Bewegungslosigkeit eher einer Unebenheit der Mauer als einem Lebewesen. Nur das Auge paßte nicht zum Untergrund. Es hatte einen tödlichen Glanz.
Auch er verhielt sich still. Er bewegte nur die Hand mit der Tasse, langsam, wie in Zeitlupe, um das Tier nicht zu verscheuchen. Als er vorsichtig den Kopf drehte, um es bequemer betrachten zu können, war es verschwunden. Es hatte sich in nichts aufgelöst. Nur das Nachbild des Auges glaubte er für einen Moment als kleinen weißen Fleck gegen den hellen Ocker der Steinmauer zu sehen. Wie konnte nur solche Schnelligkeit, der das menschliche Auge nicht zu folgen vermochte, aus einer derartigen Ruhe hervorgehen! Die Bewegungswechsel eines Warmblüters, einer Katze zum Beispiel, konnten auch extrem sein, aber sie wirkten im Vergleich mit dem Fluchtverhalten dieses Urwelttieres behäbig.
»Sie ist ein leibhaftiges Oxymoron«, dachte er. »Mal heiß, mal kalt, mal erstarrt, mal voller Leben, mal Ruhe verströmend, mal schnell wie der Blitz. Sie ist wie meine Freundin Laura.«
Daß er einen solchen Gedanken fassen konnte, bewies ihm, noch nicht lange genug in der Sonne gesessen zu haben. Er ging ins Haus und holte sich von Madame Régusse noch einen zweiten schwarzen Kaffee. Dann setzte er sich wieder auf die Bank, legte den Kopf schief und blinzelte in die Sonne. Bis auf die Trinkbewegungen versuchte er, es der Eidechse an Erstarrtsein gleichzutun.
Es gab auch Rückfälle.
Als er annehmen konnte, daß Laura von ihrer Reise wieder zurück war, schlich er stundenlang um die Telefonzelle herum.
Schließlich stand er drinnen. Es war heiß wie in einem Brutkasten. Am Boden lagen vergilbte, herausgerissene Seiten aus dem Telefonbuch. Spinnweben mit vertrockneten, leergesogenen Insektenkörpern hingen in den Ecken. Es roch nach Pissoir. Er warf eine Münze ein. Als es im Hörer summte, wählte er seine Heimatstadt. Dabei benutzte er aus unerfindlichem Grund nicht den Zeige-, sondern den kleinen Finger seiner linken Hand. Als er Lauras Nummer wählen wollte, geschah etwas Unglaubliches: Sie fiel ihm nicht ein.
Sonst verfügte er über ein ungewöhnlich gutes Zahlengedächtnis. Er hatte viele, auch unwichtige Telefonnummern im Kopf. Jetzt aber schwebte sein ausgestreckter kleiner Finger zögernd über den Löchern der Wählscheibe. Die internationale Auskunft anzurufen war sinnlos, denn Laura war als vorübergehender Gast nicht im Telefonbuch verzeichnet. Es dauerte lange, bis er aufgab. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Endlich hängte er ein und verließ die Zelle.
Seine Unruhe legte sich erst abends, als er in die Bar Tabac ging, um sich mit Monsieur Bazin zu treffen. Sie saßen hier fast jeden Abend und an Sonn- und Feiertagen auch vormittags. Sie tranken und führten Gespräche. Nicht immer hörten sie sich dabei zu, aber ihm schien es, daß sie beide eine gute Art hatten, die verstreichende Zeit mit Worten zu begleiten. Er mochte es inzwischen auch, daß Bazin sich offenbar einen Spaß daraus machte, ihn Francesco zu nennen; ja allmählich schien es ihm, daß dies tatsächlich sein wirklicher Name sei.
Monsieur Bazin ähnelte einem Priester oder einem der Kirschpflücker der Gegend. Francesco fand, daß es da wenige Unterschiede gab. In Wirklichkeit war Bazin Aufseher im Petrarcamuseum. Bazin vermißte intellektuelle Ansprache in diesem Ort, den an Wochenenden die Touristenmassen überfluteten. Ins Petrarcamuseum verirrten sich nur wenige. Allerdings gab es dort auch nichts Rechtes zu besichtigen. Einige Stiche und Erstdrucke, das war schon alles.
»Liebe kann man nicht ausstellen«, seufzte Monsieur Bazin. Die Liebe im allgemeinen und Petrarcas Liebe im besonderen waren sein Lieblingsthema. Bazin war Francesco schon am Tag nach seiner Ankunft aufgefallen. Von der Bank im Hinterhof aus konnte man in sein Gärtchen sehen. Hier brachte Bazin nach Dienstschluß und an Feiertagen, ehe er in sein Stammlokal ging, viel Zeit damit zu, Unkraut zwischen Steinritzen herauszuzupfen.
Francesco sah über die Mauer hinweg Bazins runden Buckel. Er bewegte sich fast überhaupt nicht von der Stelle. Monsieur arbeitete auf engstem Raum. Seine schwieligen Finger durchforsteten jeweils nur wenige Quadratzentimeter. Vielleicht wollte er wie Sisyphos nie mit seiner sinnlosen Arbeit fertig werden, weil er sich so an sie gewöhnt hatte, daß er sie für sein eigentliches Leben hielt. Und wahrscheinlich wuchsen die Pflanzen inzwischen genauso schnell, wie Bazin mit ihrer Beseitigung vorankam. Ein natürliches Gleichgewicht hatte sich eingestellt, das Monsieur Bazin den Freiraum verschaffte, in aller Ruhe über das Phänomen der Liebe nachzudenken.
Bei jedem Wetter trug er die gleiche Kleidung. Eine braune Hose mit Bügelfalten, rote Lederschuhe, eine olivgrüne Wolljacke über einem rosa Hemd, eine schwarze Baskenmütze, die meistens so weit zurückgeschoben war, daß sie seine große, braungebrannte und von Denk- und Kummerfalten durchzogene Stirn freigab.
Bazins Gesicht hatte etwas verwirrend Zweideutiges. Einerseits sah er wie ein typischer Hagestolz aus, die Miene leicht säuerlich, verkniffen, asketisch, die Lippen schmal, die Augen skeptisch verengt. Andererseits bekam er im Moment des Redens, auch wenn er sein Glas hob und in erstaunlich kurzen Intervallen trank, etwas Lüstern-Bukolisches. Er erinnerte dann an einen Faun, der in anstößigen Phantasien schwelgt.
»Als Ihr Namensvetter Francesco seine Laura im Jahre 1327 in der Kirche der Clarissinnen zu Avignon kennenlernte, war er ganze dreiundzwanzig Jahre alt. Ein höchst entflammbares Alter, wie Sie wissen. Man hat sich bereits die Finger an der Liebe verbrannt, ohne sich schon an ihr Feuer gewöhnt zu haben. Als Italiener neigte Francesco sowieso zu übertriebenen Gefühlswallungen. Bedenken Sie, er stammte aus der Toscana. Dort wurde die schönste, die klarste Sprache des Landes gesprochen, aus dem einfachen Grunde, weil es die sinnlichsten und unklarsten Gefühle zu verbergen galt. Weniger sinnliche Menschen neigen eher zur Schweigsamkeit oder zum stümperhaft normalen Reden.« Monsieur Bazin lehnte sich genießerisch zurück und hob sein Weinglas gegen das Licht.
»Haben Sie, Francesco, schon mal den Wein der Toscana gekostet? Ich sage Ihnen, ein wahres Teufelszeug, es ähnelt dem Blut des Liebeskranken, dickflüssig, dunkel und süß.«
Bazin verdrehte die Augen und ließ sich noch einen einheimischen Roten kommen. Er trank und verzog das Gesicht. »Unser Zeugs hingegen ist sauer. Es fördert die Liebe nicht, es hilft eher, sich von ihr zu befreien. Es ist etwas für Mönche und Junggesellen wie mich.«
Er zündete sich eine Zigarette an und formte eine Serie von Heiligenscheinen aus blauem Rauch. »Es ist anzunehmen, daß unser junger Emigrant hell entflammt war, als er Donna Laura zum erstenmal sah. Wahrscheinlich belauschte und beobachtete er sie, hinter einer Säule versteckt, wie sie das Abendmahl nahm. Ein Augenblick höchster Intensität. Der Priester legt die weiße Oblate auf eine Frauenzunge. Donna Laura trug übrigens bei dieser Gelegenheit ein grünes Kleid.«
Monsieur Bazin schloß die Augen, als mache er den Versuch, das von ihm beschriebene Bild in der Dunkelheit seines Kopfes zu betrachten.
»Laura war damals zwanzig. Sie litt an dem bitteren Los, mit einem um viele Jahre älteren Mann verheiratet zu sein. Solche Mesalliancen des Fleisches waren damals noch häufiger als heutigentags. Bedauernswerte Laura. Ihr Sklavenhalter war noch dazu einer der de Sades. Dieses Geschlecht hatte immer schon einen schlechten Ruf. Verknöcherte, ängstliche, impotente Burschen. Ihre Geilheit war nichts als eine Maske ihrer sexuellen Unfähigkeit. Ich bitte Sie, Francesco, ein blühendes Mädchen wie Laura ausgerechnet in den Händen eines solchen Veteranen der Langeweile. Er wird sie gequält haben, seelisch und physisch. Ach, es ist ein Jammer!«
Monsieur Bazin fuhr sich sichtlich bewegt über die Stirn und rückte dabei seine Baskenmütze um etliche Zentimeter nach hinten. »Als sie nun da kniete, in der kühlen, nach Weihrauch duftenden Kapelle, sah Francesco, daß sie apfelgleiche Brüste hatte. Denn sie beugte sich vor, um den Segen des Priesters in Empfang zu nehmen. Armer Francesco! Er war verloren. Er war ihr fortan in heißer Sinnenglut verfallen, und darum zog er sich an diesen Ort des kühlen Wassers zurück. Hier badete er seinen brennenden Leib oft in dem kristallklaren, kalten Wasser, das nie wärmer als zwölf Grad ist; hier schrieb er Sonette, nachdem das toskanische Blut in seine abgestorbenen Glieder zurückgekehrt war. «
Bazin machte erneut eine Pause, um seine Worte wirken und einen neuen Roten bringen zu lassen. Dann fuhr er fort, wobei er sich in die Pose schärfsten Nachdenkens warf: »Wissen Sie, Francesco, vielleicht sind Sie mit ihren fünfzig Jahren immer noch zu unreif, um die Wahrheit zu begreifen, die Petrarca bereits mit dreiundzwanzig Jahren dämmerte: Große Liebe ist nichts anderes als hundert Prozent körperliche Leidenschaft, verbunden mit ebensoviel Prozent Enthaltsamkeit. Dies ist die platonische Leidenschaft, die allein den Namen Liebe verdient. Alles andere ist Stümperei, ist Kompromiß, der weder dem Körper, der Seele, noch dem Verstand bekommt.« Nachdem er diese Erklärung abgegeben hatte, erhob sich Bazin und ging. Er ließ ein halb geleertes Glas Rotwein und einen vollen Aschenbecher zurück. Und einen nachdenklichen Francesco. Wie ein guter Schauspieler hatte sein Freund ein feines Gespür für den richtigen Zeitpunkt eines Abgangs.
In diesen Wochen, die Francesco in Fontaine de Vaucluse verbrachte, kam ihm zuweilen der Verdacht, daß seine Freundin eine Phantasiegestalt war, die ihre Anziehungskraft aus einer Täuschung der Sinne bezog: So fern sie ihm in der Wirklichkeit erschien, so sehr sie durch ihre leibliche Abwesenheit zum Gegenstand seiner Sehnsucht und seines Verlangens wurde, so nah war sie seinem Gefühl. Laura war ihm näher als ein Mensch, den man berühren kann. Denn sie war in ihm. Sie war ein Teil seiner Wünsche und Träume, ein Bild, das nur in seinem Inneren existierte.