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Stürme der Sehnsucht - Roman

Johanna Lindsey

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641163518 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Kapitel 1

Judith Malory kniete neben ihrer Cousine Jacqueline vor dem Fenster des Schlafzimmers, das sie miteinander teilten. Fasziniert blickten sie zu der Ruine hinter dem Herrschaftshaus des Duke of Wrighton und den gepflegten Gärten hinüber. Obwohl ein paar Monate jünger als Judith, war »Jack« – so hatte ihr Vater sie genannt, nur um seine amerikanischen Schwäger zu ärgern – stets die Anführerin oder vielmehr Anstifterin gewesen. Sie behauptete von sich, sie würde in die Fußstapfen ihres Vaters James Malory treten, der ein wilder Draufgänger gewesen war, ein Pirat, ein erstklassiger Faustkämpfer … Damit fand die Liste noch längst kein Ende. Judith hatte einmal gefragt, warum Jack nicht ihrer Mutter nacheifere.

Prompt hatte die Cousine erwidert: »Weil das langweilig wäre.«

Da strebte Judith ganz andere Ziele an. Sie wollte eine Ehefrau und Mutter werden, in dieser Reihenfolge. Und die Erfüllung dieser Wünsche lag keineswegs in ferner Zukunft. Dieses Jahr wurden beide Mädchen achtzehn Jahre alt. Judith hatte ihren Geburtstag vor einer Woche gefeiert, und Jack musste sich noch ein paar Monate gedulden. Im Sommer würden die Cousinen ihre erste Saison erleben. Aber das Debüt würde nicht in London, sondern in Amerika stattfinden, und Judith fürchtete, sie würde dieses Ereignis ohne ihre beste Freundin nicht ertragen. Jetzt blieben ihr nur mehr wenige Wochen, um dieses Problem zu lösen.

Seit die Töchter der beiden jüngeren Malory-Brüder James und Anthony denken konnten, waren sie unzertrennlich. Und jedes Mal, wenn sie ihre Mütter zum Ahnensitz des Duke in Hampshire begleiteten, um ihren Vetter Brandon und ihre Cousine Cheryl zu besuchen, verbrachten sie viele Stunden vor dem Schlafzimmerfenster. Inständig hofften sie das unheimliche Licht in der Ruine wiederzusehen. So aufregend war die Nacht gewesen, in der sie es zum ersten Mal entdeckt hatten.

Danach war es nur mehr zweimal aufgeflammt. Aber als sie Laternen ergriffen, den ausgedehnten Rasen überquert und das alte, verfallene Gemäuer auf dem benachbarten Grundstück erreicht hatten, war das Licht verschwunden.

Natürlich hatten sie ihrem Vetter Brandon davon erzählen müssen. Wenn er auch ein Jahr jünger war – sie wohnten in seinem Haus. Denn er hatte den Landsitz und den Titel des Duke of Wrighton durch seine Mutter Kelsey geerbt, die Ehefrau Dereks, eines Vetters von Judith und Jack. Nach Brandons Geburt hatten seine Eltern beschlossen, auf den Landsitz zu übersiedeln, damit er im Bewusstsein seines Status und seiner Verantwortung aufwachsen konnte. Glücklicherweise war er trotz seines erlauchten Titels weder arrogant noch verwöhnt.

Weil er das Licht nie gesehen hatte, kümmerte er sich nicht darum, und er wollte auch nicht an einer dieser Nachtwachen teilnehmen. Im Moment saß er mit Judiths jüngerer Schwester Jaime am anderen Ende des Raums und brachte ihr bei, Whist zu spielen. Und da er eben erst siebzehn geworden war und nicht mehr wie ein Junge, sondern wie ein Mann aussah, interessierte er sich verständlicherweise mehr für Mädchen als für Geister.

»Bin ich jetzt alt genug für das Geheimnis?« Brandons jüngere Schwester Cheryl stand in der Tür des Schlafzimmers.

»Kann ich’s endlich hören?«

»O ja!« Jaime Malory sprang von dem kleinen Spieltisch auf und rannte zu ihr, packte sie an der Hand und zerrte sie zum Fenster. »Als du’s mir erzählt hast, war ich so alt, wie sie jetzt ist, Judith!«

Es war Jacqueline, die geringschätzig antwortete: »Erst letztes Jahr, Mäuschen. Und was für dich nicht gilt – Cheryl wohnt hier. Sag’s ihr, Brand, sie ist deine Schwester. Aber vorher muss sie versprechen, niemals auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen.«

»Nachforschungen?«, wiederholte Cheryl. »Wie kann ich denn was versprechen, wenn ich gar nicht weiß, was ich verspreche?«

»Mit Logik hat es nichts zu tun, Mäuschen«, erklärte Judith. »Versprich es erst mal. Das musste Jaime auch, und sie wohnt nicht einmal hier. Aber du wohnst hier. Ohne das Versprechen müssten wir uns ständig Sorgen um dich machen. Das willst du doch nicht, oder?«

Bevor Cheryl den Kopf schüttelte, dachte sie kurz nach. »Also gut, ich versprech’s.«

Judith stieß Jacqueline an, die es übernahm, das jüngere Mädchen einzuweihen. »In deiner Nachbarschaft haust ein Geist.«

»Was?« Cheryl kicherte, bis ihr Judiths und Jacquelines todernste Mienen auffielen. Sie riss die Augen auf. »Tatsächlich? Habt ihr ihn gesehen?«

»Vor etwa fünf Jahren«, sagte Judith.

»Judy hat sogar mit ihm gesprochen«, betonte Jacqueline.

»Aber Jack hat das Licht zuerst bemerkt. Von diesem Fenster aus. Deshalb mussten wir hingehen und nachschauen. Schon immer dachten wir, in dieser Ruine würde es spuken. Und wir hatten recht!«

Cheryl trat zögernd neben die beiden Mädchen ans Fenster und musterte den alten Schandfleck, über den sich ihre Eltern immer wieder beklagten. Als sie kein Licht sah, atmete sie erleichtert auf. So tapfer wie ihre Cousinen war sie nicht. Und im Mondschein sah sie viel zu deutlich die Umrisse des großen alten Herrschaftshauses, das schon lange, bevor irgendeiner von ihnen geboren worden war, zu zerfallen begonnen hatte. Wie ein unheimlicher düsterer Koloss stand es da.

Schaudernd lief sie zu ihrem Bruder zurück, um Schutz zu suchen. »Seid ihr wirklich da hineingegangen?«

»Ja, natürlich«, bestätigte Jack.

»Aber davor wurden wir alle gewarnt!«

»Nur weil es wegen der vielen zerbrochenen Bodenbretter und bröckelnden Mauern gefährlich ist. Ziemlich viele Dachziegel sind heruntergestürzt. Überall hängen Spinnweben. Beim ersten Mal haben Judy und ich endlos lange gebraucht, um das eklige Zeug aus unseren Haaren zu kämmen.«

Cheryl blinzelte. »Unglaublich! Warum habt ihr euch da hineingewagt? Noch dazu in der Nacht!«

»Wie sollten wir denn sonst rausfinden, was für ein Eindringling sich da unerlaubt herumtrieb? Damals wussten wir noch nicht, dass es ein Geist war.«

»Ihr hättet meinem Vater von dem Licht erzählen müssen.«

»Aber dann wär’s kein Spaß gewesen«, wandte Jack ein.

»Spaß? Ihr solltet nicht vortäuschen, ihr wärt furchtbar mutig, nur weil’s unsere Väter sind.« Als die beiden älteren Mädchen zu lachen anfingen, seufzte Cheryl. »Also habt ihr mich nur zum Narren gehalten? Das hätte ich mir denken können!«

Jacqueline drehte sich zu ihr um und grinste sie an. »Bildest du dir ein, wie hätten jahrelang ein Geheimnis gehütet, nur um dich zum Narren zu halten? Du wolltest es wissen, und jetzt haben wir’s dir endlich gesagt. So aufregend war es!«

»Nur ein ganz kleines bisschen gruselig«, ergänzte Judith.

»Und tollkühn«, behauptete Cheryl.

Verächtlich winkte Jacqueline ab. »Würden wir uns von so was aufhalten lassen, hätten wir gar keinen Spaß. Und wir waren bewaffnet. Ich habe eine Schaufel aus dem Garten mitgenommen.«

»Und ich meine Schere«, fügte Judith hinzu.

Schon immer hatte Cheryl sich gewünscht, sie wäre so tapfer wie diese beiden. Nun war sie froh, dass sie so feige war. Sie hatten offenbar erwartet, sie würden einen Landstreicher aufscheuchen. Stattdessen waren sie einem Gespenst begegnet. Ein Wunder, dass sie in jener Nacht keine weißen Haare bekommen hatten …

Aber Judys Haare schimmerten immer noch blond mit kupferrotem Glanz, ohne eine Spur von Grau. Und Jack war nach wie vor genauso goldblond wir ihr Vater.

»Als wir damals in die Ruine schlichen, konnten wir nicht herausfinden, woher das Licht kam«, erzählte Jacqueline. »Deshalb trennten wir uns.«

»Ich war’s, die ihn entdeckte«, setzte Judy den Bericht fort. »Das Licht bemerkte ich erst, nachdem ich eine Tür geöffnet hatte. Und da schwebte er mitten im Zimmer. Meine Ankunft freute ihn nicht besonders. Natürlich erklärte ich ihm, er hätte da nichts zu suchen. Da erwiderte er, es sei sein Haus und ich ein Eindringling. Als ich sagte, Geister könnten keine Häuser besitzen, streckte er einen Arm aus, zeigte zur Tür und befahl mir zu verschwinden. Weil er mir so bedrohlich erschien und mich sogar anknurrte, wandte ich mich ab und wollte gehen.«

»In diesem Moment kam ich dazu«, fuhr Jack fort. »Leider sah ich nur seinen Rücken, während er wegschwebte. Ich bat ihn zu warten. Das wollte er nicht, und er schrie: ›Haut ab, alle beide!‹ So laut, dass es die Dachbalken erschütterte. Oder was davon noch übrig ist. Wir rannten hinaus, und auf halbem Weg hierher wurde uns klar, dass er uns nichts antun konnte. Und wir würden die Gelegenheit verpassen, ihm bei seiner Mission zu helfen – was immer er vorhatte. Also kehrten wir um und durchsuchten jeden Raum im Erdgeschoss. Aber er war nicht mehr da.«

»Ihr wolltet ihm helfen?«, fragte Cheryl ungläubig.

»Nun ja, das war Judys Idee.«

Cheryl starrte die ältere der zwei Cousinen an. »Warum?«

Leicht verlegen zuckte Judith die Achseln. »Weil er so ein hübscher junger Mann war. Bei seinem Tod muss er etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein. So betrübt wirkte er, als ich ihn aufspürte – bevor er mich entdeckte und seine Ruine so kampflustig verteidigte.«

»Und in jener Nacht verliebte sie sich in einen Geist«, verkündete Jack und kicherte.

Empört schnappte Judith nach Luft. »O nein!«

»Doch!«, wurde sie von ihrer besten Freundin gehänselt.

»Unsinn, ich will nur wissen, wieso er ein Geist geworden ist. Gewiss...