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Alea Aquarius 1. Der Ruf des Wassers

Tanya Stewner

 

Verlag Verlag Friedrich Oetinger, 2015

ISBN 9783862747795 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

4,99 EUR


 

Der Fluss wirkte heute grauer als sonst. Grau und traurig, aber das empfand Alea wahrscheinlich nur so, weil sie selbst traurig war. Mit hängenden Schultern stand sie am Hafen und starrte auf das Wasser. Die Elbe war ein gigantischer Fluss, ein Wasserkoloss, der sich machtvoll ins Land hineinpflügte. Wie oft hatte sie schon hier gestanden und die Elbe beobachtet, ihrem leisen Rauschen gelauscht und ihre Geheimnisse zu enträtseln versucht? Geheimnisse, die sie niemals ergründen würde, denn sie durfte dem Fluss nicht zu nahe kommen – der Elbe nicht und auch keinem anderen Fluss.

Alea warf einen Blick auf ihr Handy. Keine verpassten Anrufe. Natürlich nicht. Wie hätte sie auch einen Anruf verpassen sollen, so angespannt, wie sie immer wieder auf das Display starrte?

Alea verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Sie stand schon lange hier, und sie war müde. Seufzend schaute sie sich nach einem Sitzplatz mit ausreichend Abstand zum Wasser um, in dessen Nähe sich keine Pfützen befanden, mit denen Vorbeigehende sie nass spritzen könnten. Aber Pfützen gab es heute ohnehin nicht, denn es hatte seit Tagen nicht geregnet.

Sie entdeckte eine passende leere Bank, die ihre Bedingungen erfüllte. Eine Zeit lang saß sie nun einfach da, hielt ihr Handy umklammert und sah den Menschen zu, die an ihr vorübermarschierten – Touristen und Einheimische, Arbeiter und Leute, die sich mit einem Lunchpaket auf die Kaimauer setzten. Hier war viel los, so wie an jeder von Hamburgs unzähligen Anlegestellen. Alea kannte alle. An jeder hatte sie schon gestanden und aufs Wasser geschaut. Doch diesen Anleger mochte sie besonders gern. Hier fühlte sie sich zu Hause, und ein Gefühl von Zuhause brauchte sie heute dringender denn je.

Alea holte tief Luft und versuchte, die Angst zu unterdrücken, die sich gerade wieder in ihr ausbreiten wollte. Das, was heute geschehen war, war jedoch zu ernst. Ihre Pflegemutter hatte an diesem Morgen einen Herzinfarkt gehabt. Alea war gerade gut gelaunt aufgestanden und hatte überlegt, was sie an ihrem ersten Sommerferientag anstellen würde, als sie Marianne in der Küche entdeckt hatte – kreidebleich und schweißgebadet. Alea hatte sofort den Notarzt gerufen, der ihre Pflegemutter wenig später ins Krankenhaus brachte. Sie war fünfundsechzig Jahre alt und litt schon lange an Herzproblemen, aber Alea hatte immer die Augen davor verschlossen, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Denn Marianne war alles, was sie hatte. Falls sie nicht mehr in der Lage wäre, sich um Alea zu kümmern, oder gar sterben sollte, würde das Jugendamt eine neue Pflegefamilie für sie suchen. Und dann müsste sie zu fremden Leuten, die sie nicht kannte und die nichts über ihre Krankheit wussten. Bei dem Gedanken zog sich alles in Alea zusammen. Allein aus Angst vor dem Jugendamt saß sie hier und nicht im Krankenhaus an Mariannes Bett …

Alea spürte, wie das mulmige Gefühl langsam ihren Rücken hinaufkroch. Marianne hatte gesagt, sie würde anrufen, sobald sie telefonieren konnte. Das Handy würde bestimmt jeden Moment klingeln. Jeden Moment …

Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie wollte nicht weinen, aber sie fühlte sich einfach hilflos – und allein.

Ihr Blick fiel auf ihre Hand. Die einzelne Träne, die sie gerade fortgewischt hatte, glitzerte auf ihrem schwarzen Lederhandschuh. Einen Moment lang schien es ihr, als sähe sie etwas in der Träne, als leuchtete darin etwas blau und grün. Aber dann sickerte die Träne in einen Riss im Leder und war verschwunden.

Alea ballte und öffnete ihre Faust mehrmals. Wie bei all ihren Handschuhen hatte sie die Fingerspitzen abgeschnitten, damit sie ihre Hände normal benutzen konnte, aber heute störten sie die Handschuhe trotzdem. Es herrschten siebenundzwanzig Grad, und Alea schwitzte unter dem Leder.

Sie richtete sich auf und versuchte, ruhig zu atmen. Sie musste sich zusammenreißen! Konzentriert ließ sie den Blick über den Hafen schweifen. Vielleicht konnte sie sich mit irgendetwas ablenken, während sie auf Mariannes Anruf wartete. Vertäute Boote schaukelten auf dem Wasser, ein riesiger Verladekran ächzte am anderen Ufer …

Da bemerkte Alea ein uriges, altes Segelschiff, das gerade am Kai anlegte. Am Bug prangte ein fast verwitterter Schriftzug: Crucis. Sie kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin, denn das Schiff sah interessant aus. Es hätte dringend einen Anstrich nötig gehabt. Die hellgrüne Farbe an den Seiten blätterte schon ab. Eigentlich wirkte das Boot regelrecht heruntergekommen, sodass man sich fragte, ob es überhaupt noch seetauglich war, aber Alea konnte nicht aufhören, es anzustarren. Obwohl sie nicht hätte sagen können, woran das lag, hatte sie das Gefühl, etwas Außergewöhnliches vor sich zu haben.

Ein kleiner Junge sprang von Bord und machte die Leinen fest. Er war höchstens neun oder zehn Jahre alt. Als er fertig war, hüpfte er wieder aufs Boot und verschwand unter Deck.

Wenig später trat aus dem Deckshäuschen des Schiffes ein Jugendlicher, der die Crucis offenbar gesteuert hatte. So wie der kleine Junge sprang auch er mit einem geübten Satz vom Boot auf den Kai. Er war vielleicht achtzehn Jahre alt, und er sah nett aus. Er war braun gebrannt und hatte ein freundliches Gesicht. Seine Haare waren wild verstrubbelt wie bei einem Rockstar, und im Ärmel seines T-Shirts prangte ein Loch. Außerdem trug er einen Gitarrenkoffer in der Hand.

Alea war dankbar für alles, was sie vom Grübeln und Warten ablenkte, und so beobachtete sie, was der ältere Junge tat. Jetzt spazierte er an ihr vorbei, offenbar in Richtung eines nahe gelegenen Cafés.

Alea merkte, dass sie großen Durst hatte. Sie kramte in ihrem Rucksack, doch dann fiel ihr ein, dass sie ihre Thermoskanne zu Hause liegen gelassen hatte. Normalerweise hatte sie die Kanne immer dabei. Aber nach Mariannes Herzinfarkt hatte sie die Wohnung so überstürzt verlassen, dass sie nicht nur ihre Thermoskanne, sondern auch ihren Regenschirm vergessen hatte – und das war wirklich dumm! Der Himmel war momentan zwar wolkenfrei, aber falls es doch regnen sollte, würde sie ohne Schirm ein ernstes Problem bekommen.

Nun sprang auch der kleinere Junge, der die Crucis soeben festgemacht hatte, leichtfüßig von Bord und machte sich mit einer abgewetzten Trommel unter dem Arm auf den Weg zum gleichen Café wie der Rockstar-Junge. Als der Kleine an ihrer Bank vorbeikam, trafen sich ihre Blicke, und er lächelte sie an. »Ahoi!«, sagte er und zeigte ein breites Zahnlückengrinsen. Alea lächelte verdutzt zurück, da war er schon vorübergegangen.

Sie stand auf. Ohne die Thermoskanne musste sie sich wohl oder übel etwas Warmes zu trinken kaufen. Mit dem Handy in der Hand machte sie sich auf den Weg zum Café. Dort angekommen, entdeckte sie sogleich den kleinen und den großen Jungen, die zusammen an einem Tisch saßen und Limonade tranken. Alea setzte sich an einen freien Tisch in ihrer Nähe. Sie hatte bemerkt, dass der kleinere Junge barfuß war, und das gefiel ihr, obwohl sie selbst niemals mit nackten Füßen herumlaufen würde. Aber diese Jungs schienen ein bisschen freakig zu sein, und sie mochte Freaks. Schließlich war sie irgendwie selbst einer.

Eine Kellnerin kam, und Alea bestellte Tee. »Muss nicht heiß sein, nur warm«, erklärte sie.

Die Kellnerin zog die Augenbrauen zusammen. »Möchtest du vielleicht einen Eistee?«

Alea winkte ab. »Auf keinen Fall!«

Die Kellnerin starrte auf Aleas schwarze Handschuhe. Alea konnte förmlich hören, was sie dachte: Es ist viel zu warm für Handschuhe! Und erst recht für Tee!

Alea lächelte angestrengt, und die Kellnerin hob die Achseln. »Einmal lauwarmen Tee«, fasste sie zusammen und verschwand.

Da bemerkte Alea, dass die Jungs zu ihr herübersahen. Der Kleine rief: »Cooles Outfit!«

Alea zuckte überrascht zusammen, und als sie merkte, dass sie rot wurde, zog sie ihre Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Sie trug eine altrosafarbene Seidenjacke, ein Männerunterhemd, mehrere lange Ketten, eine zerrissene Jeans, schwere Boots, ihre meerblaue Lieblingsmütze und eben ihre Handschuhe. Sie wusste, dass das ein ziemlich cooles Outfit war – das war ja auch der Sinn der Sache. Schon vor Jahren hatte Alea damit angefangen, sich extrem ausgefallen anzuziehen, und das aus einem einzigen Grund: um davon abzulenken, dass sie jeden Tag Handschuhe trug. In der Nachbarschaft oder in der Schule wusste niemand etwas von ihrer Krankheit. Ihre Mitschüler und Lehrer glaubten, die Handschuhe wären nur einer von ihren vielen Modeticks. Und Alea fand es weitaus besser, für flippig als für krank gehalten zu werden. Nur Marianne wusste, wie sehr die Krankheit Alea in ihrem täglichen Leben einschränkte und wie viel von ihrer Freiheit sie ihr raubte. Niemand sonst sollte das erfahren, denn Alea wollte kein Mitleid.

»Danke«, nuschelte sie nun und spürte, wie ihre Wangen noch heißer wurden.

Glücklicherweise begannen die Jungs, sich zu unterhalten, und blickten nicht mehr herüber. Unter dem Tisch packten beide belegte Brote aus und bissen immer dann hinein, wenn die Kellnerin nicht in ihre Richtung schaute.

Alea musste lächeln und stellte fest, dass sie am liebsten auch so ein belegtes Brot gehabt hätte. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen.

Die Kellnerin brachte ihr den Tee. Er war brühend heiß, und Alea musste ihn erst einmal stehen lassen.

An den Tisch der beiden Jungs trat ein Mädchen. Sie hatte schwarze Haut und lange Dreadlocks, die sie zu einem hohen Zopf zusammengebunden hatte. Darüber hinaus trug...