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Aquamarin (1)

Andreas Eschbach

 

Verlag Arena Verlag, 2015

ISBN 9783401804750 , 408 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Sie warten auf mich, das sehe ich sofort. Wie sie da stehen, am Ende des langen glitzernden Fischbeckens vor Thawte Hall, kann es überhaupt keinen anderen Grund geben.

Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen. Alles in mir schreit danach, genau das zu tun. Aber das wäre der größte Fehler, den ich machen könnte, denn dann wüsste Carilja, dass sie mich besiegt hat.

Also gehe ich weiter, als wäre nichts, gehe direkt auf sie und ihr Gefolge zu.

Es ist ein Donnerstag, kurz nach halb elf Uhr – oder 44 Tick, wie man außerhalb unserer Zone sagt. Donnerstag, der 4. November 2151, um exakt zu sein. Der Himmel ist strahlend blau. Es wird ein heißer Tag werden, Vorbote eines grandiosen Sommers, der vor uns liegt. Ein Geruch nach Algen erfüllt die Luft. Vom Hafen her hört man das Quietschen der Ladekräne und die Rufe der Männer, die dort arbeiten, doch in diesem Moment unterstreichen diese Geräusche nur das unnatürliche, bedrohliche Schweigen, dem ich entgegengehe.

In mir verkrampft sich alles. Sie werden gemein zu mir sein, wie immer. Ich weiß noch nicht, was genau mich heute erwartet. Ich weiß nur, dass es mir nicht gefallen wird.

Es gibt keinen anderen Weg, den man nehmen könnte. Das Schulgelände erhebt sich wie eine Trutzburg auf dem Felsvorsprung, der den Hafen vom Stadtstrand trennt, und das Tor ist der einzige Zugang. Das Tor und der Plattenweg dahinter, der zwischen der Strandmauer links und Thawte Hall rechts zum Schulhof führt, wo ich in Sicherheit wäre.

So gehe ich an dem Becken entlang, das mir seit meinem ersten Tag an der Schule unheimlich ist. Ich erspähe eine Gruppe Clownfische darin, rot, schwarz und weiß gestreift, die wirken, als verfolgten sie gespannt, was nun gleich geschehen wird.

Vielleicht geschieht gar nichts. Ich tue so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass Carilja mit ihren ergebenen Freunden hier herumlungert, werfe ihnen nur einen superkurzen Blick zu und versuche, ohne ein Wort an ihnen vorbeizugehen. Wenn ich den Hof erreiche, bin ich gerettet, denn dort sind jetzt gerade alle anderen und auch die Lehrer, die Aufsicht führen.

Aber natürlich klappt das nicht. Carilja stellt sich mir in den Weg und fragt: »Na? Gut geschlafen?«

Was soll ich darauf sagen? Sie fragt das ja nicht, weil sie sich um mein Wohlergehen sorgt – nichts läge ihr ferner –, sondern weil sie und die anderen donnerstags in den ersten drei Stunden Sport haben, und zwar Schwimmen oder irgendetwas anderes, das mit Wasser zu tun hat und von dem ich aus medizinischen Gründen befreit bin. Ich hätte bis zehn Uhr ausschlafen können, wenn ich gewollt hätte. Tatsächlich stehe ich donnerstags aber auf wie jeden Tag und hole in der freien Zeit irgendwelche Lektionen nach. Heute habe ich für den Chinesischtest gelernt, der uns kommende Woche erwartet.

In einem letzten Versuch, der Konfrontation zu entgehen, murmle ich »Ging so« und will mich links an ihr vorbeidrücken.

Sie versperrt mir den Weg ein weiteres Mal. »Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede, Fischgesicht!«

Nicht Saha. Nur die Lehrer nennen mich bei meinem Namen. Meine Schulkameraden nennen mich Fischgesicht.

Falls sie mich überhaupt zur Kenntnis nehmen. Mir ist es lieber, sie tun es nicht.

Ich trete einen Schritt zurück und presse meine Tafel gegen die Brust, obwohl ich natürlich weiß, dass mich das vor nichts schützen wird. Aber ich habe nichts anderes.

Was ist überhaupt los? Warum ausgerechnet heute? Ist Carilja neidisch auf mich, weil ich freihatte und sie nicht? So dumm ist sie nicht, dass sie ein ganzes Schuljahr braucht, um das zu merken.

Zwei der Jungs aus ihrem Gefolge treten neben sie. Brenshaw, ihr Lover. Und Raymond, ihr treuer Diener.

Die anderen umringen mich von hinten. Keine Chance zu entkommen.

»Was willst du?«, frage ich.

Carilja verzieht den Mund. »Was ich will? Dein hässliches Gesicht nicht mehr jeden Tag sehen müssen. Das will ich.«

Wenn irgendjemand anderes das gesagt hätte, es hätte lächerlich geklungen. Aber es ist Carilja Thawte, die das sagt, und deswegen klingt es bedrohlich. Ihr Großvater hat Thawte Hall gestiftet, ihr Vater ist so etwas wie der König von Seahaven, folglich sieht sich Carilja als Kronprinzessin und denkt, dass ihr die Stadt gehört. Mindestens.

»Wenn dir mein Gesicht nicht gefällt«, sage ich trotzdem, »dann schau halt woandershin.«

Carilja ist nicht nur die Tochter reicher Eltern, sie ist auch schön wie ein Engel, mit blonden Haaren bis zur Hüfte und einem Körper, der alle Jungs in den Wahnsinn treibt. Sie war zweimal Schönheitskönigin von Seahaven, und bis auf Weiteres haben andere Mädchen nur dann eine Chance, wenn Carilja nicht antritt.

Das alles lässt ihr Haifischlächeln nur umso bedrohlicher wirken. »Das würde ich ja gern, stell dir vor«, sagt sie. »Aber ich muss einfach zu oft mit dir im selben Raum sein. Und außerdem, wenn ich woandershin schaue, kann es sein, dass ich deine komische Tante sehe.« Sie hebt die Hände und äfft etwas nach, was sie für Gebärdensprache hält.

Sie hat einen wunden Punkt bei mir getroffen, und das weiß sie genau. Ich weiß auch genau, dass sie das weiß, trotzdem kann ich nicht anders, als zu fauchen: »Lass meine Tante aus dem Spiel!«

Sie fuchtelt weiter mit den Händen. Ihr Gefolge lacht. »Normale Leute lassen es reparieren, wenn sie taubstumm sind.«

»Das geht bei meiner Tante nicht«, sage ich, obwohl ich weiß, dass das nicht das Geringste bringen wird. »Ihr fehlen die zugehörigen Nervenbahnen. Es ist ein Geburtsfehler.«

Carilja lässt die Hände sinken. »Oh. Ein Geburtsfehler«, macht sie mich nach. »Die scheinen bei euch in der Familie zu liegen, Geburtsfehler.«

Das Gelächter nimmt zu. Ich weiß immer noch nicht, was das alles soll.

In dem Moment wird Carilja übergangslos ernst. »Pass auf, Fischgesicht«, sagt sie. »Wir werden dieses Problem lösen, und zwar ein für alle Mal.«

Sie zieht ihre Tafel aus der Tasche, sucht etwas darin und macht dann die Wischbewegung in meine Richtung, mit der man Dokumente überträgt. Meine Tafel, die ich immer noch vor die Brust gedrückt halte, gibt jenes klackernde Geräusch von sich, das ihren Eingang anzeigt.

Ich nehme sie herunter und schaue darauf. Carilja hat mir zwei Formulare geschickt.

»Was soll das?«, frage ich.

»Das sind Anmeldeformulare für die Fachschulen in Weipa und Carpentaria«, sagt Carilja. »Man kann nach der zweiten Stufe Aufbauschule abgehen. Das machen viele. Als Qualifikation für eine Fachschule reicht das. Die werden dich nehmen, gute Noten hast du ja.« Sie sagt das geringschätzig, so, als seien gute Noten nichts Wichtiges. Was sie in ihrem Fall ja auch nicht sind. Carilja könnte das ganze Jahr ausschlafen, solange sie will, und würde die Schule trotzdem mit einem Abschluss verlassen, den sie nie im Leben brauchen wird.

»Warum sollte ich das tun?«, frage ich verdutzt. Was Carilja nämlich lässig unterschlägt in ihrer Zukunftsplanung für mich, ist, dass ich mir damit die Chance verbauen würde, je im Leben auf eine Hochschule zu gehen. Das kann man nur, wenn man alle vier Stufen der Aufbauschule absolviert hat.

»Warum du das tun sollst?« Carilja bringt ihr engelhaftes Gesicht dicht vor meines. »Weil ich es dir sage. Weil ich dein Fischgesicht nicht mehr länger sehen will. Weil wir alle dein Fischgesicht nicht länger sehen wollen.« Sie rümpft die Nase. »Weil du dir auf die Weise eine Menge Ärger ersparen wirst.«

Ohne dass ich es kommen sehe, stößt sie mich von sich weg. Ich pralle gegen Raymond, der mich ebenfalls wegstößt, und im Nu werde ich von einem zum anderen gestoßen, ohne dass ich etwas dagegen machen kann. Alle lachen und johlen.

Und dann stolpere ich plötzlich, ist auf einmal kein Boden mehr da, wo ich hintrete. Ich falle, falle ins Leere, falle ins Wasser. In das Wasser, das ich unbedingt meiden muss.

Kalt und nass umschlingt es mich, zerrt mich unbarmherzig in die Tiefe. Der blaue Himmel über mir weicht kochendem Silber, das höhnische Gelächter geht in dumpfem Rauschen und Gluckern unter. Ich kann nicht schwimmen, rudere nur hilflos mit den Armen, spüre Luftblasen aus meinem Mund aufsteigen. Ein jäher Schmerz an meiner Seite, als sei etwas gerissen, lähmt mich, während ich auf den Grund sinke. Über mir sehe ich die wild hin und her zuckenden Konturen von Gestalten, die sich über das Becken beugen – und sich dann abwenden und verschwinden.

Sie lassen mich im Stich. Sie wissen genau, dass ich nicht schwimmen kann, doch es kümmert sie nicht.

Ich sollte Todesangst haben, aber ich habe keine. Mir ist, als könnte ich unter Wasser atmen. Ein paar der Clownfische tauchen vor meinem Gesicht auf und beäugen mich neugierig. Ich will etwas sagen, was eine schlechte Idee ist, denn mit einem Schlag strömt Wasser in meinen Mund und meine Nase, und dann wird alles schwarz um mich herum.

Als ich wieder erwache, liege ich in einem Bett und sehe eine...