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In einer fenster- und türlosen Zelle - Die Romane Franz Kafkas

Annette Horn, Peter Horn

 

Verlag wbv Media, 2016

ISBN 9783898968737 , 318 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR

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Karl Roßmanns Verwandlung in einen ›Negro‹ in Der Verschollene


1 Die Ausfahrt ins mythische Land des Kapitals


Politzer sieht den Amerikaroman unter dem Thema der Voyage interieure, der Reise ins Innere, als sentimentalen Erziehungsroman, dessen irrender Zögling Anschauungsunterricht erteilt bekommt, wie es um Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt bestellt ist. Die Früchte dieser Erziehung sind Resignation und Bescheidung. Einer der sich behaupten wollte, endet als Namenloser, als Negro, ist als Teilchen einer großen und anonymen Masse verschollen. »Der Verschollene zeigt bereits im Titel die traurige Moral der Fabel an. Von einem Ausbruch in das Land wird erzählt, das vermeintlich Selbstverwirklichung gewährt. Dort sieht sich Karl betrogen. Unbeschränkt waltet heteronome Willkür.« (Pfaff 1987a: 16)[1]

Das Bild, das die Sekundärliteratur beherrscht, das Bild von der »Erlösung«, ist so keineswegs zu halten, und die Entsagung des Helden zur Quintessenz des Romans zu erklären, hieße doch allzu leichtfertig das Vorbild von Goethes Wanderjahren auf Kafkas Roman zu projizieren, mit dem er höchstens die Anspielung auf die neue Welt gemeinsam hat. Nun knüpfen sich an die Fahrt aus Europa in die »Neue Welt« traditionell ganz bestimmte Vorstellungen. Schon die »Ausfahrt des Kolumbus war, wie die Reise Unzählbarer nach ihm, westwärts über das Meer, dem Bewusstsein der Handelnden nach der konkrete, oft bitter erzwungene und mühselige, gefährdete Versuch, Verheißenes geschichtlich einzulösen, mythisch Versprochenes, seit langem kollektiv Erträumtes in die Wirklichkeit einzulösen.« (Binder 1979: 134)

Verglichen wurde er mit dem Exodus Israels, des Volkes Gottes, aus der ägyptischen Gefangenschaft, der Reise aus Ägypten in das gelobte Land Kanaan. Und in Platens Gedicht »Colombo’s Geist« segelt die Freiheit auf bekränzten Schiffen westwärts, mit der Mütze der Freiheit auf dem Mast (eben die Mütze, die Karl Roßmann schon früh im Roman verliert). Der »Traum von Amerika« war schon für Goethe die konkretisierbare und konkretisierte Utopie.[2] Andererseits gab es viele, gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts, die in ihren Schriften diesen Traum enttäuschten, die nachwiesen, wie jene Utopie verfehlt, oder wie jene Utopie in ihrer Verwirklichung eigentlich die Hölle war. Die auf der amerikanischen Dollarnote beschworene »Novus ordo seclorum«, die elysischen Felder auf den Great Plains, hat sich der Welt inzwischen mit einem anderen Gesicht gezeigt: einem Gorgonengesicht, vor dem die Welt in Schrecken erstarrt ist. So ist es denn bezeichnend, dass der Held Kafkas nicht die Freiheitsstatue mit der Fackel der Revolution und der leidenschaftlichen Befreiung, sondern die »Goddess Justice« mit dem Schwert aber ohne ihre gerecht abwägende Waage erblickt, als er zum ersten Mal New York sieht.[3] Allerdings trägt selbst die »Goddess Liberty« auf dem Entwurf des Wappenbilds der USA »spear and cap«. Die Hoffnung auf die »new American Aera«, mit der die Vereinigten Staaten begannen, ist zu Kafkas Zeiten bereits weitgehend geschwunden. Jenes Land, das sich selbst »A new birth of freedom« (Abraham Lincoln) versprochen hatte, und sich auf Moses berief: »Proclaim liberty throughout the land, unto all inhabitants thereof« und das die »Pursuit of happiness« gleich nach der Freiheit als höchstes Ziel in der Verfassung verankerte, hat der Mehrheit seiner Einwohner weder Freiheit noch Glück gebracht; den Einwohnern des Landes, denen Freiheit und Fülle des Lebens versprochen wurde, wird nichts gegeben als die Chance, sich zu Tode zu arbeiten. Das Versprechen des kalifornischen Goldes, des allgemeinen Reichtums und der allgemeinen Wohlfahrt, hat sich nicht erfüllt, statt dessen ist der Mensch den Gesetzen des Taylorismus unterworfen, die seine letzten Kräfte aus ihm herauspressen. Von der »Befreiung«, der »Freizügigkeit«, ist nur das Nomadenleben übriggeblieben, das die Menschen wie trockenes Laub von einem Ort zum anderen weht, ewig auf der Suche nach Arbeit, Schutz und Ruhe. Die radikale Demokratie, wie sie sich im »Wilden Westen« und seinem Präsidenten Jackson verwirklicht sah, musste schon bald der Plutokratie weichen, unter der sich der Glaube an das Volk als Herrschaftsträger nur noch illusionär aufrechterhalten ließ.

Man könnte – das ist eine mögliche Lesart – Karl Roßmanns Weg durch Amerika mit dem Lebensweg des Menschen – einem subversiven Pilgrim’s Progress durch dieses Jammertal[4] – vergleichen. Kafka selbst vergleicht die Ankunft Karl Roßmanns in Amerika mit der Geburt (der Erschaffung) des Menschen: »Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl sich vorläufig ernsthaft nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch, damit nur Karl keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne als wenn man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und daß man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe.« (V 55f., meine Hervorhebungen) Das Innere des Schiffes[5] hat ja Ähnlichkeit genug mit einer Gebärmutter, einem Geburtskanal, durch dessen dunkle Gänge der junge Karl schließlich ans Licht kommt, wo er von der Gesellschaft, einschließlich seiner Verwandten schon erwartet wird.[6]

2 Die Erbsünde ist immer schon da, schon bevor wir irgendetwas getan haben


Das, was wir Entfremdung nennen, ergreift auch jene Maschinen, die wir normalerweise als letzten Hort der Humanität begreifen: die Familien-Maschinen, die Freundschafts-Maschinen, die Liebes-Maschinen, die von Begierden besetzt sind, die sie für fremde Zwecke einspannen. Der Ödipus, der die Wünsche so übercodiert, dass sie in den Körper des Kapitals einmünden, macht sich überall breit und vergiftet jeden Wunsch: »Das maßlos überzeichnete Bild des Vaters wird auf die geographische, historische und politische Karte der Welt projiziert, um weite Flächen von ihr zu bedecken«. Und Kafka antwortet: »Und es ist mir dann als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen«. Aber auch das Fluchtland Amerika liegt in der Reichweite des Vaters: der neue Vater steht schon an der Landungsbrücke bereit, als Karl Roßmann sich noch im Innern des Schiffes versteckt. Wie ihm entgehen? Oder ist das, wie Deleuze und Guattari meinen, die falsche Frage? »Die Vaterfrage heißt nicht, wie man sich vom Vater befreien kann (Ödipusfrage), sondern wie man dort einen Weg findet, wo er keinen gefunden hat«. Der Vater selbst hat ja seinen eigenen Wunsch verraten müssen und den Sohn nur darum zur Unterwerfung aufgefordert und ihn nur darum verstoßen, »weil er sich selbst einer herrschenden Ordnung in einer scheinbar aussichtslosen Lage unterworfen hat.«

Allerdings hat Karl, wenn auch ungewollt, sich selbst erzeugt. Die groteske Szene, in der er von dem Dienstmädchen (Köchin) Johanna Brummer verführt wird,[7] ist ja die Ursache seiner »Geburt« in Amerika, der Neuen Welt. »Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.« (V 7)[8] Wie Binder (1966: 266) sagt: »hier ist […] die ganze monatelange Vorgeschichte der Auswanderung Karls und dessen Ankunft in New York in einem einzigen Satz zusammengerafft«.

Die verzerrte Liebe zur Mutter taucht in der Szene auf, in der Karl von dem Dienstmädchen (einem deutlichen Freudschen Mutterersatz) verführt wird[9] – und eben nicht selbst verführt – denn es ist immer das Begehren der Eltern, das die Verführung einleitet und das dann im Kind sich selbst bestraft:

»Einmal aber sagte sie ›Karl‹ und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals, und während sie ihn bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemanden mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt. ›Karl, o du mein Karl!‹ rief sie, als sähe sie ihn und bestätigte sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen, und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, daß Karl Kopf und Hals aus dem Kissen herausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn – ihm war, als sei sie ein Teil seiner selbst, und vielleicht aus diesem Grund hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen....