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Kafkas Verwandlung - Das Urteil', 'Der Heizer', 'Die Verwandlung' und weitere Erzählungen in neuem Licht

Volker Drüke

 

Verlag Athena Verlag, 2016

ISBN 9783898968751 , 178 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

Einführung


Wenn in der Literatur auf traditionelle Weise erzählt wird, geht es um exakt das, was auf dem Deckel des Buchs geschrieben steht. Wenn dort etwa David Copperfield oder Eugénie Grandet zu lesen ist, dreht sich die Handlung in den Büchern um Figuren mit diesem Namen. Das hat eine lange Tradition. Bereits Homers Odyssee folgt dem namensgebenden Odysseus auf dessen Heimreise nach dem Trojanischen Krieg, und Vergils Aeneis ist der römische Gründungsmythos, in dem der Held und Gründer Roms Aeneas heißt. Es gibt also die Regel, dass Autoren ihre Werke leserichtungsweisend benennen.

Eine andere Konvention besagt, dass der Erzähler den Protagonist am Anfang einführt, Daten nennt, etwa zum Geburtsdatum, zum Geburtsort, zu zeitgeschichtlichen Umständen.

Dies sind nur zwei der zahlreichen traditionellen Schreib- und Lesarten, die Franz Kafka mit seinen Texten unterläuft und so Rezipienten regelmäßig auf eine »falsche Fährte« führte. So entspricht es dem Lese-Kanon auf der ganzen Welt, dass Die Verwandlung die traurige Transformation des Gregor Samsa meint, dass der Autor also von den Qualen eines immer weiter Ausgestoßenen erzählt, der schließlich zugrundegeht. Dieser war ja gleich im ersten Satz eingeführt worden, und aus seiner Perspektive wird lange erzählt. Er muss der Protagonist sein. Völlig einsichtig ist für die gleichen Literaturbetrachter, dass die Erzählung Der Heizer Machtstrukturen beleuchtet, aus denen der namenlos bleibende Heizer ausbrechen will und mit der Hilfe des Karl Roßmann auch ausbricht. Und klar scheint vielen auch, dass Das Urteil im Sinne des Vaters vollzogen wird, dass Georg Bendemann also ertrinkt – so wie es das väterliche Verdikt vorsah.

Vielen Literaturbetrachtern reichte es bislang also, in Kafkas Werk soziale Machtphantasien in den Mittelpunkt zu stellen, die im Familienrahmen einen bedeutenden Ausdruck fanden. Andere betonten die in der deutschen Literatur typischen Generationsprobleme am Ende der Kaiserzeit, bei denen die Söhne gegen die Väter aufbegehren – wie in der Wirklichkeit die Bürger gegen die Aristokraten. Die 1970er-Jahre verstärkten diese Tendenz. Die auf allen Kulturzweigen sichtbare Blüte der generationalen Konflikte zeigte sich eben auch auf dem der Literatur-Interpretation. Der wissenschaftliche Standard verließ sich damals auf Untersuchungen zu Befehls- und Gehorsamsstrukturen, auf Darstellungen gesellschaftlicher Macht- und Unterlegenheitskonstellationen – die es in Kafkas Werk ja tatsächlich zuhauf gibt – oder auf tiefenpsychologische Deutungen, die ihrerseits immerhin wichtige Impulse gaben, um interpersonelle Konflikte genauer zu verstehen. Doch auch diese Methode ist alleine ungeeignet, um der komplexen Erzähltechnik des Franz Kafka gerecht zu werden.

Die folgenden Seiten werden zeigen, dass die allgemein gültigen Interpretationsrichtungen zu früh eingeschlagen wurden. Es werden Denk- und Deutungsalternativen vorgestellt, die nach der Überzeugung des Autors sehr viel stimmiger sind und näher am Werk Kafkas bleiben. Selbstverständlich spielen hier Autoritäten, Vater-Sohn-Konflikte und existenzielle Ängste ihre Rollen. Doch bieten diese Allgemeinplätze der Kafka-Deutungswelt tatsächlich genügend Stoff für ausreichende Textanalysen dieser einzigartigen Erzählungen?

Literatur ist weit mehr als eine Quelle für wissenschaftliche Studien, soziologische oder psychoanalytische oder gar theologische. Literatur ist die Kunst des Erzählens, und die Kunst des Franz Kafka exakter zu betrachten, als es bislang geschah, ist das Ziel der nächsten Kapitel. Deutlich wird auf dem Weg dorthin, dass jene literatur- oder kulturwissenschaftlichen Mittel, mit denen üblicherweise etwa ein Dickens- oder ein Balzac-Roman analysiert wird, bei der Beschäftigung mit Kafkas Werken schlicht nicht ausreichen.

Die auf den nächsten Seiten angewandte Deutungsmethode ähnelt einer analytischen Begleitung: Es wird gleichsam am Text entlanggeschritten, bis die entscheidende Bruchstelle das Werk in eine Schieflage bringt, es zu kippen droht und dem Leser einen neuen Blickwinkel ermöglicht, eine andere Perspektive auf das Erzählte. Diese Bruchstellen sind immer in Szenen einer individuellen Wendung zu lesen, einer Weggabelung, eines Umbruchs, eines Schnitts, der in der Regel subtextuell vermittelt wird. Wir lesen dann von dramatischen Ereignissen, die von Franz Kafka häufig wie Theaterszenen gestaltet werden. (Der Theatereinfluss auf Kafka ist immens.) Es sind dies Situationen, die ungeheuer konkret beschrieben und emotional aufgeladen sind. Kafka ist ein Meister in der Darstellung emotionaler Zustände. Wenige Worte für große Gefühle. Häufig reicht das – wenn man die richtigen Worte findet. Und das gelang Kafka.

Wir werden auch erforschen, worin jene »geheime Verbindung« zwischen den Texten Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung besteht, die er gegenüber seinem Verleger ansprach und die wohl zu seiner Idee führte, sie in einem Band veröffentlicht zu sehen.

»Der Heizer«, »die Verwandlung« (die 1½ mal so groß wie der Heizer ist) und das »Urteil« gehören äußerlich und innerlich zusammen, es besteht zwischen ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung, auf deren Darstellung durch Zusammenfassung in einem etwa »Die Söhne« betitelten Buch ich nicht verzichten möchte. (Brief an Kurt Wolff, 11. April 1913)

Dass daraus nichts wurde, ist aus literaturhistorischer Sicht schade und hat Kafka damals sehr getroffen. Das ist umso verständlicher, wenn man sich klarmacht, welch ungeheure Bedeutung das Schreiben für diesen Mann hatte. So fanden Kafkas emotional wohl intensivsten Beziehungen zu anderen Menschen vor allem in Briefen einen Ausdruck, nicht etwa in intimen Momenten. Solche ergaben sich höchstens auf der Basis des Geschriebenen. Dass dies nicht gerade eine verlässliche Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen ist, hat Kafka dann auch erlebt.

Kafkas Briefe an Freundinnen – insbesondere die an Felice Bauer – sind teilweise so bewegend, dass nicht wenige sie in einen literarischen Rang hieven. Dies widerspricht allerdings Kafkas Selbstverständnis als Autor. Wer weiß, wie er mit Korrekturfahnen umging, wie wichtig ihm jedes Zeichen, jedes Detail war, ist weit davon entfernt, seine Briefe für Literatur zu halten. Zur Literatur werden Kafkas Texte erst dann, wenn sie tatsächlich in Druck gingen oder zumindest noch einmal abgetippt wurden und so eine Korrektur erfuhren. Kafkas Haltung gegenüber jenen eigenen Texten, die veröffentlicht werden sollten, war von einem hohen Präzisionsanspruch geprägt. Hier musste einfach alles stimmen, das galt auch für formale Details, wie ein Ausschnitt aus der Umbruchfahne des Bandes Ein Landarzt belegt (vgl. folgende Seite).

Weil es sinnvoll ist, zwischen den Textsorten Tagebuch, Brief und literarischer Text zu unterscheiden, betrachten wir in diesem Buch Erzählungen Kafkas, die – bis auf eine Ausnahme – fertig und somit vom Autor zu Kunstwerken erklärt wurden. Bei den anderen muss die entsprechende Deutung selbst Fragment bleiben. (So ist auch die Beleuchtung von Der Jäger Gracchus zu verstehen.) Hinzu kommt der Brief an den Vater aus dem Jahr 1919, ein literarisches Werk, das – als Brief getarnt – ein Selbstbeschreibungs- und Loslösungstext ist. Hier vollzieht sich Kafkas innere Trennung vom Vater, und diese findet auf dem Weg des Schreibens statt – wie alles Wesentliche in seinem Leben. Jedenfalls wurde der Brief an den Vater gleich zweimal geschrieben: handschriftlich und getippt. Abtippen ließ Kafka nur Texte, die auch veröffentlicht werden sollten. Und bezeichnenderweise gibt es zwischen der handgeschriebenen und der getippten Version ein paar Unterschiede – es gab also auch eine Korrekturphase. All dies weist darauf hin, dass dieser Text seinen Autor sehr zufriedenstellte. Und tatsächlich bot er ihn seiner späteren Freundin Milena zur Lektüre an – damit sie ihn, ihren Freund, besser versteht.

Setzer und Hersteller hatten es mit Kafka sicher nicht leicht. Wenn man sich dieses kleine Beispiel aus dem Januar 1918 ansieht, lässt sich erahnen, was in der Korrekturphase auf Textseiten noch so zu tun war.

Franz Kafka schrieb innerhalb von etwa zehn Wochen drei der bedeutendsten Erzählungen in deutscher Sprache. Zwischen Ende September und Anfang Dezember des Jahres 1912 kamen Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung zu Papier – ein ungeheures Tempo für drei unerhörte Geschichten. Kafka ahnte nicht nur, er wusste, was er hier geschaffen hatte, und erklärte sich danach sofort zum Schriftsteller. Im Frühjahr 1913 schreibt er seiner Freundin Felice wörtlich von seiner eigenen »Verwandlung« – er sei nun »ein anderer Mensch« (Brief an Felice vom 3. auf den 4. März 1913).

Bis zum Oktober 1914 schreibt er allerdings keine weiteren größeren Werke. Das sind fast zwei Jahre. Dann jedoch erschafft Kafka wiederum erstaunliche Geschichten und teils skurrile Figuren, die wir in diesem Buch in einem neuen Licht betrachten: Ein Landarzt ist dabei, auch Odradek aus Die Sorge des Hausvaters und ein Hungerkünstler, ein Trapezkünstler (der in Erstes Leid) und einige andere. Diese Figuren stehen in einer ganz spezifischen Beziehung zu ihrem Autor. Wir werden sehen, worin diese besteht – und...