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Leben auf dem Mississippi

Mark Twain

 

Verlag Nexx, 2016

ISBN 9783958705807

Format ePUB

Kopierschutz frei

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0,99 EUR


 

Der Fluss und seine Geschichte


Es lohnt sich wohl der Mühe, von dem Mississippi zu lesen. Er ist kein gewöhnlicher Fluss, sondern in jeder Beziehung merkwürdig. Betrachtet man den Missouri als seinen Hauptarm, dann ist er der längste Fluss der Welt, volle viertausenddreihundert englische Meilen lang. Auch kann man mit Sicherheit behaupten, dass er der gekrümmteste Fluss der Welt ist, da er auf einem Teil seines Weges eintausenddreihundert Meilen weit fließt, um eine Entfernung zurückzulegen, welche in der Luftlinie nur sechshundertundfünfundsiebzig Meilen beträgt. Er ergießt dreimal so viel Wasser ins Meer wie der St. Lorenz-Strom, fünfundzwanzigmal so viel wie der Rhein und dreihundertundachtunddreißigmal so viel wie die Themse. Kein anderer Strom entwässert ein so ungeheures Becken; er entnimmt sein Wasser achtundzwanzig Staaten und Territorien zwischen Delaware an der Atlantischen Küste und Idaho an den Abhängen des Stillen Meeres, eine Entfernung von fünfundvierzig Längengraden. Der Mississippi nimmt das Wasser von vierundfünfzig geringeren Flüssen, die für Dampfboote schiffbar sind, und von einigen hundert, welche von Leichtern und Flachbooten befahren werden, in sich auf und führt es dem Golf zu. Das Areal des von ihm entwässerten Beckens ist so groß wie der Flächenraum von England, Wales, Schottland, Irland, Frankreich, Spanien, Portugal, Deutschland, Österreich, Italien und der Türkei zusammen, und fast das ganze weite Gebiet ist fruchtbar, das eigentliche Mississippi-Tal sogar in hohem Grad.

 

Der Mississippi ist ein bemerkenswerter Fluss auch insofern, als er nach der Mündung zu nicht breiter wird, sondern sich verengert: er wird schmäler und tiefer. Von der Mündung des Ohio bis zu einem Punkt, etwa halbwegs abwärts nach dem Meer, beträgt die Breite bei hohem Wasserstand durchschnittlich eine englische Meile; von da verringert sich die Breite bis zum Meer stetig, bis sie bei den ›Pässen‹, oberhalb der Mündung, nur noch wenig mehr als eine halbe Meile ist. Am Ausfluss des Ohio ist die Tiefe des Mississippi siebenundachtzig Fuß; dann nimmt sie allmählich zu, bis sie eben oberhalb der Mündung einhundertundneunundzwanzig Fuß erreicht.

 

Ebenso ist der Unterschied beim Steigen und Fallen des Wassers, zwar nicht auf dem oberen, aber auf dem unteren Lauf des Flusses bemerkenswert. Bis nach Natchez (dreihundertundsechzig englische Meilen oberhalb der Mündung) hinab ist das Steigen ein ziemlich gleichmäßiges – etwa fünfzig Fuß: bei Bayou La Fourche steigt der Fluss aber nur vierundzwanzig, bei New Orleans fünfzehn und gerade oberhalb der Mündung sogar nur zwei und einen halben Fuß.

 

Nach den Berichten erfahrener Fachleute entleert der Mississippi alljährlich vierhundertundsechs Millionen Tonnen Schlamm in den Golf von Mexiko, eine Menge, die, zu einem festen Körper vereinigt, einen Flächenraum von einer englischen Quadratmeile bedecken und eine Höhe von zweihunderteinundvierzig Fuß haben würde. Die Schlamm-Ablagerungen lassen das Land allmählich anwachsen, doch geschieht dies nur sehr langsam, da dasselbe in den zweihundert Jahren, welche verflossen sind, seitdem der Fluss seinen Platz in der Geschichte eingenommen hat, nur um eine Drittelmeile vorgerückt ist. Die Gelehrten meinen, dass die Mündung des Flusses früher bei Baton Rouge, wo das hügelige Terrain aufhört, gelegen habe und dass die zweihundert Meilen Land zwischen dem genannten Punkt und dem Golf vom Fluss angeschwemmt worden seien. Daraus würde sich ohne Mühe das Alter dieses Landes auf einhundertundzwanzigtausend Jahre berechnen lassen.

 

Noch in einer anderen Beziehung ist der Mississippi bemerkenswert, nämlich durch seine Neigung, wunderbare Sprünge zu machen und schmale Landzungen zu durchschneiden, um auf diese Weise seinen Lauf zu begradigen und zu verkürzen. Mehr als einmal hat er sich mit einem einzigen Sprung um dreißig englische Meilen verkürzt! Diese Richtwege haben seltsame Folgen gehabt: es sind dadurch verschiedene am Fluss gelegene Städte mitten in ländliche Distrikte hinein versetzt und vor ihnen Sandbarren und Wälder aufgebaut worden. Die Stadt Delta hat sonst drei Meilen unterhalb Vicksburg gelegen: ein vor einiger Zeit vom Fluss eingeschlagener Richtweg hat die Lage aber radikal geändert, denn Delta liegt jetzt zwei Meilen oberhalb von Vicksburg.

 

Beide genannten Städte sind durch jenen Durchbruch vom Fluss ins Land hinein versetzt worden. Ein solcher Richtweg des Flusses zerstört zuweilen sogar die Staatsgrenzen: beispielsweise kann ein Mann, der heute im Staat Mississippi lebt, infolge eines über Nacht erfolgten Durchbruches sich und sein Land morgen auf der andern Seite des Flusses wiederfinden, wo er im Gebiet des Staates Louisiana ist und unter dessen Gesetzen steht! Passierte derartiges in den früheren Zeiten am oberen Lauf des Flusses, dann konnte es vorkommen, dass ein Sklave auf diese Weise von Missouri nach Illinois versetzt und zum freien Mann wurde.

 

Der Mississippi verändert sein Bett aber nicht allein durch diese Durchbrüche, sondern auch noch in anderer Weise, und zwar dadurch, dass er sich seitwärts bewegt. Bei ›Hard Times‹ im Staat Louisiana fließt der Fluss jetzt zwei englische Meilen westlich von der Stelle, die er früher einnahm. Eine Folge davon ist, dass der ursprüngliche Ort dieser Niederlassung sich jetzt nicht mehr im Staat Louisiana befindet, sondern am andern Ufer, im Staat Mississippi liegt. Fast die ganze, eintausenddreihundert englische Meilen lange Strecke des alten Mississippi, die La Salle vor zweihundert Jahren mit seinen Kanus befuhr, ist jetzt guter, fester, trockener Boden. An einzelnen Stellen fließt der Mississippi jetzt rechts, an anderen links von seinem alten Bett.

 

Während der Schlamm des Mississippi an der Mündung, wo die Wogen des Golfs ihn in Bewegung halten, nur langsam Land ansetzt, geschieht dies an besser geschützten Stellen weiter aufwärts umso schneller: beispielsweise maß die Propheten-Insel vor dreißig Jahren nur eintausendfünfhundert Acker, die seitdem jedoch von dem Fluss um siebenhundert vermehrt worden sind.

 

Verlassen wir nun die physische Geschichte des Mississippi und wenden uns seiner historischen zu, wenn man so sagen darf. Die Welt und die Bücher pflegen das Wort ›neu‹ so oft in Verbindung mit unserem Land zu gebrauchen, dass man bald den dauernden Eindruck gewinnt, als sei an demselben überhaupt nichts Altes. Wir wissen natürlich, dass es in der amerikanischen Geschichte einige verhältnismäßig alte Daten gibt, allein die bloßen Ziffern vermögen unserem Geist keine richtige Idee, kein bestimmtes Bild von der Zeitperiode, welche sie repräsentieren, zu geben. Wenn einer sagt, dass De Soto, der erste Weiße, der den Mississippi sah, ihn im Jahr 1542 erblickte, dann ist das eine Bemerkung, die eine bloße Tatsache widergibt, ohne sie zu erklären: es ist dasselbe, wie wenn man die Dimensionen der untergehenden Sonne nach astronomischen Maßen und ihre Farben mit den wissenschaftlichen Namen angibt; man hat dann die bloße Tatsache des Sonnenunterganges, kann sich von demselben aber kein Bild machen. Ebenso hat das Datum 1542 an und für sich für uns wenig oder gar keine Bedeutung; erst wenn man einige benachbarte historische Daten und Tatsachen um dasselbe gruppiert, gewinnt es Perspektive und Farbe und zeigt, dass es zu denjenigen amerikanischen Daten gehört, die ein ganz respektables Alter besitzen.

 

De Soto warf nur einen flüchtigen Blick auf den Fluss, starb dann und wurde von seinen Priestern und Soldaten in demselben begraben. Man sollte meinen, dass die Priester und Soldaten – nach damaliger spanischer Sitte – die Dimensionen des Flusses um das zehnfache vergrößert und dadurch andere Abenteurer veranlasst hätten, sofort aufzubrechen, um ihn zu erforschen. Allein als ihre Schilderungen die Heimat erreichten, erregten sie keineswegs solch große Neugier, vielmehr verflossen volle einhundertunddreißig Jahre, bis der zweite Weiße den Mississippi besuchte. Heutigen Tages lässt man keinen so langen Zeitraum vorübergehen, wenn jemand etwas Wunderbares geschaut oder erlebt hat. Entdeckte jetzt jemand einen Bach in der Nähe des Nordpols, so würden Europa und Amerika sofort fünfzehn Expeditionen dorthin senden, die eine, um den Bach zu erforschen, die übrigen vierzehn, um sich gegenseitig aufzusuchen. Schon länger als einhundertfünfzig Jahre waren an der atlantischen Küste Ansiedelungen der Weißen gewesen. Diese Leute standen in innigster Verbindung mit den Indianern: im Süden wurden letztere von den Spaniern beraubt, abgeschlachtet, zu Sklaven gemacht und bekehrt; weiter hinauf trieben die Engländer Tauschhandel mit den Indianern um Perlen und wollene Decken und schenkten ihnen die Zivilisation und den Branntwein; und in Kanada brachten die Franzosen ihnen die Elementarlehren bei, schickten Missionare zu ihnen und zogen zeitweilig ganze Stämme nach Quebec und später nach Montreal, um ihnen Pelze abzukaufen. Diese verschiedenen Gruppen von Weißen mussten notwendigerweise von dem großen Fluss des fernen Westens vernommen haben; sie hatten auch tatsächlich von ihm gehört, aber in so flüchtiger und unbestimmter Weise, dass sie sich kaum ein Bild von dem Lauf, den Verhältnissen und der Lage des Stromes machen konnten. Gerade das Geheimnisvolle der Sache hätte die Neugier anfachen und zur Nachforschung anspornen sollen, allein das geschah nicht. Offenbar wollte zufälligerweise niemand solchen Fluss haben, niemand brauchte ihn, niemand war neugierig auf ihn, und so blieb denn der Mississippi anderthalb Jahrhunderte lang außerhalb des Marktes und ungestört. Auch De Soto suchte, als er den Mississippi auffand, keinen Fluss und hatte im Augenblick keine...