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Höllensturz - Europa 1914 bis 1949

Ian Kershaw

 

Verlag Deutsche Verlags-Anstalt, 2016

ISBN 9783641188726 , 768 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR


 

VORWORT

Dies ist der erste von zwei Bänden über die Geschichte Europas von 1914 bis in unsere Tage – und das wohl mit Abstand schwierigste Buch, an das ich mich je gewagt habe. Jedes meiner bisherigen Bücher war in gewisser Weise ein Versuch, mir selbst Klarheit über ein bestimmtes Problem der Vergangenheit zu verschaffen. In diesem Fall birgt das Thema – die jüngste Vergangenheit – jedoch eine Vielzahl äußerst komplexer Probleme. Aber ungeachtet aller Schwierigkeiten war die Verlockung unwiderstehlich, zu versuchen diejenigen Kräfte besser zu verstehen, die in der jüngeren Vergangenheit unsere heutige Welt geformt haben.

Natürlich gibt es nicht einen einzigen Weg, eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert anzugehen. Einige ausgezeichnete Darstellungen mit unterschiedlichen Interpretationen und unterschiedlichem Aufbau liegen bereits vor: darunter, jeweils mit einem eigenen Blick auf das Jahrhundert, die Arbeiten von Eric Hobsbawm, Mark ­Mazower, Richard Vinen, Harold James, Bernard Wasserstein und Heinrich August Winkler. Der vorliegende Band und der noch folgende sind, anders kann es gar nicht sein, ein persönlicher Zugang zu diesem so bedeutungsschweren Jahrhundert. Und wie jeder Versuch, ein breites Panorama über einen längeren Zeitraum hinweg zu erfassen, muss sich auch dieser auf Pionierarbeiten anderer Forscher stützen.

Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass für so gut wie jeden Satz, den ich geschrieben habe, Fachuntersuchungen in Fülle, oft von hoher Qualität, zur Verfügung stehen. Nur für einige Teilgebiete, vor allem zu Deutschland zwischen 1918 und 1945, kann ich in Anspruch nehmen, selbst Grundlagenforschung betrieben zu haben. Ansonsten war ich auf vielen unterschiedlichen Gebieten von den exzellenten Arbeiten anderer Forscher abhängig. Selbst wenn meine Sprachkenntnisse weiter reichten, wäre dies unvermeidlich gewesen. Kein einzelner Forscher wäre in der Lage, in ganz Europa Archivarbeit zu betreiben; ein Versuch, der zudem sinnlos wäre, schließlich wurde diese Arbeit von Experten für einzelne Länder oder bestimmte historische Themen bereits ausnahmslos getan. Ein Überblick, wie ich ihn mit diesem Buch biete, wird stets auf den ungezählten Leistungen anderer beruhen.

Im Format der Reihe Penguin History of Europe sind Anmerkungen generell nicht vorgesehen, so bleiben die vielen Werke historischer Forschung, auf die ich angewiesen war, an Ort und Stelle ungenannt: Monographien, Editionen zeitgenössischer Dokumente, statistische Untersuchungen, Spezialstudien zu einzelnen Ländern. Die Bibliographie lässt gleichwohl das Wichtigste dessen erkennen, was ich anderen Forschern zu verdanken habe. Sie werden mir, so hoffe ich, nachsehen, dass ich ihre Arbeiten nicht durch Fußnoten nachweisen konnte, und zugleich meine tiefe Anerkennung ihrer großen Leistungen annehmen. Eigenständig sind an diesem Buch darum allein Aufbau und Interpretation – die Art und Weise, wie die Geschichte geschrieben ist, und die zugrunde liegende Argumentation.

Die Einleitung »Europas Epoche der Selbstzerstörung« skizziert den interpretativen Rahmen dieses Bandes und deutet zugleich an, wie der zweite (noch zu schreibende) Band angelegt sein wird. Zum Aufbau des Ganzen nur so viel: Ich habe die folgenden Kapitel chronologisch angeordnet und in thematische Unterabschnitte gegliedert. Das spiegelt die Absicht dieses Buches: Ich wollte genau verfolgen, wie sich das Drama entwickelte und was die Ereignisse bestimmte, indem ich mich auf recht kurze Zeitabschnitte konzentriere und innerhalb dieser Zeitabschnitte zwangsläufig die prägenden Kräfte getrennt behandle. Darum gibt es keine Kapitel, die sich eigens mit Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Ideologie oder Politik befassen; diese Themen finden, wenn auch nicht immer mit derselben Gewichtung, ihren Ort innerhalb der einzelnen Kapitel.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Gegenstand dieses Bandes, war bestimmt von Krieg. Daraus entspringen ganz eigene ­Fragen. Wie lassen sich die gewaltigen und bedeutungsschweren Themen­komplexe des Ersten und Zweiten Weltkriegs überhaupt im Rahmen eines so weitgespannten Bandes wie diesem behandeln? Zu beiden Konflikten gibt es ganze Bibliotheken. Doch wollen Leser verständlicherweise nicht einfach nur auf andere Werke verwiesen werden (obwohl sie natürlich jedes Thema dieses Bandes in solchen Werken weiterverfolgen können). Darum hielt ich es für sinnvoll, die ­Kapitel, die den beiden Weltkriegen gewidmet sind, durch äußerst knappe Zusammenfassungen des jeweiligen Frontgeschehens einzuleiten. Das dient vor allem der Orientierung. In kürzest möglicher Form sollen das Ausmaß der Katastrophen und deren unermesslichen Folgen sichtbar werden. Wie entscheidend diese Ereignisse waren, ist trotz der verknappten Darstellung offensichtlich. In anderen Fällen überlegte ich ebenfalls, ob ich davon ausgehen dürfe, dass alle Leser beispielsweise mit dem Aufstieg des Faschismus in Italien oder mit dem Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs vertraut sind, und kam zu dem Schluss, dass auch hier kurze Zusammenfassungen von Nutzen sein könnten.

Durchweg war ich darauf bedacht, persönliche zeitgenössische Erfahrungen in die Darstellung einfließen zu lassen, um wenigstens anzudeuten, wie es war, in dieser Epoche zu leben, die uns zeitlich so nah ist und zugleich so grundverschieden vom heutigen Europa. Natürlich bleiben solche Erfahrungen persönlich und sind nicht statistisch repräsentativ. Aber sie geben Hinweise – spiegeln verbreitete Haltungen und Mentalitäten. In jedem Fall gewinnt man durch die Einbeziehung persönlicher Erfahrungen lebendige Momentaufnahmen, die im Gegensatz zu Abstraktionen und unpersönlichen Analysen spüren lassen, wie Menschen auf die mächtigen Kräfte reagierten, die ihre Leben durchschüttelten.

Selbstverständlich kann eine Geschichte Europas nicht die Summe nationaler Geschichten sein. Vielmehr geht es um die treibenden Kräfte, die den Kontinent als Ganzen oder zumindest die meisten seiner konstitutiven Teile geformt haben. Eine allgemeine Darstellung muss selbstverständlich eher die Perspektive eines Vogels als die eines Wurms bieten. Sie muss verallgemeinern, kann sich nicht auf Einzelheiten konzentrieren, allerdings werden einzelne Entwicklungen auch nur durch ein Weitwinkelobjektiv sichtbar. Ich habe mich bemüht, kein Gebiet Europas zu vernachlässigen und häufig die besonders tragische Geschichte der Osthälfte des Kontinents hervorzuheben. Einige Länder aber spielten unvermeidlich eine größere (oder unheilvollere) Rolle als andere, verlangen insofern auch mehr Aufmerksamkeit. In diesem wie auch im folgenden Band wird Russland (die spätere Sowjet­union) als Teil Europas behandelt; ein für die Geschichte Europas derart entscheidender Spieler kann unmöglich unberücksichtigt bleiben, selbst wenn geographisch gesehen weite Teile des russischen, dann sowjetischen Imperiums außerhalb Europas liegen. Aus ähnlichen Gründen wird auch die Türkei dort einbezogen, wo sie maßgeblich in europäische Angelegenheiten verwickelt war, was aber nach Auflösung des Osmanischen Reiches und Gründung des türkischen Nationalstaats 1923 schlagartig nachließ.

Dieser Band beginnt mit einem kurzen Überblick über das Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die nächsten Kapitel verfolgen sodann dessen Verlauf und die unmittelbare Nachkriegszeit, die kurzlebige Erholung Mitte der 1920er Jahre, die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise (im angelsächsischen Sprachraum Große Depression genannt), die heraufziehende Gefahr eines weiteren Weltkriegs, die tatsächliche Entfachung dieses zweiten Weltenbrands innerhalb einer Generation, zuletzt den verheerenden Zusammenbruch der Zivilisation, den dieser Zweite Weltkrieg verursachte. An diesem Punkt unterbreche ich die chronologische Folge durch ein strukturgeschichtliches Kapitel (Kapitel neun), das sich langfristigen Entwicklungen und strukturellen Fragen widmet, die über die knappen zeitlichen Grenzen der vorangehenden Kapitel hinausgreifen – der demographische und sozioökonomische Wandel, die Stellung der christlichen Kirchen, die Haltung der Intellektuellen und das Wachstum der Unterhaltungsindustrie. Das Schlusskapitel nimmt den chronologischen Faden wieder auf.

Eigentlich wollte ich ursprünglich diesen ersten Band mit dem tatsächlichen Ende der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs beschließen. Doch obgleich die offenen Feindseligkeiten in Europa im Mai 1945 endeten (der Krieg gegen Japan dauerte noch bis in den August), war der schicksalhafte Verlauf der Jahre 1945 bis 1949 so offensichtlich von diesem Krieg und den Reaktionen darauf bestimmt, dass ich es für gerechtfertigt hielt, über den Moment hinauszublicken, an dem offiziell der Frieden auf den Kontinent zurückkehrte. 1945 waren die Umrisse eines neuen, eines Nachkriegseuropas noch kaum sichtbar; erst allmählich zeichneten sie sich ab. Darum erschien es mir angemessen, ein Schlusskapitel anzufügen, das sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit beschäftigt, die nicht nur eine Periode fortgesetzter Gewalt war, sondern auch dem geteilten Europa, das bis 1949 entstand, seine Gestalt gab. Darum endet der erste Band mit diesem Jahr und nicht mit 1945.

Fußballkommentatoren greifen, wenn mit der Halbzeitpause ein erstaunlicher Wechsel des Spielglücks eingetreten ist, gerne zu einem ihrer Lieblingsklischees: »Es ist ein Spiel mit zwei Hälften.« Es ist sehr verlockend, sich auch Europas 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert mit zwei Halbzeiten vorzustellen, vielleicht sogar als eines mit einer »Verlängerung«, die 1990 begann. Dieser Band beschäftigt sich nur mit der ersten Hälfte eines außerordentlichen und dramatischen Jahrhunderts, mit der Epoche, in der Europa zwei Weltkriege...