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Ich und die Walter Boys - Die Romanvorlage zur Netflix-Serie

Ali Novak

 

Verlag cbt Jugendbücher, 2016

ISBN 9783641188849 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Ich überflog meine Notizen und mir wurde flau im Magen.

Das war ein Witz, oder? Katherine hatte nicht nur zwölf Kinder, sondern zwölf Jungs! Ich wusste nichts, absolut nichts über die männliche Spezies. Ich hatte eine Privatschule für Mädchen besucht! Wie sollte ich jemals in einem Haus voller Jungen überleben? Sprachen die nicht irgendwie sogar eine eigene Sprache?

Gleich nach der Landung würde Onkel Richard einiges von mir zu hören bekommen. Aber wie ich ihn kannte, steckte er wahrscheinlich gerade in einer wichtigen Vorstandssitzung und würde meinen Anruf gar nicht erst entgegennehmen können. Ich konnte es nicht fassen! Er verfrachtete mich nicht nur zu einer Frau, die ich nicht kannte, sondern überließ mich auch noch einer Meute Jungs. So wäre es für mich am Besten, hatte er gesagt, vor allem da er eh nie zu Hause sei. Ich hatte im Laufe der letzten drei Monate allerdings eher den Eindruck gewonnen, dass er sich einfach nicht wohl dabei fühlte, plötzlich Vater zu sein.

Richard war nicht mein richtiger Onkel, aber ich kannte ihn schon seit ich ganz klein war. Im College hatte er das Zimmer mit meinem Dad geteilt und nach dem Abschluss waren sie Geschäftspartner geworden. Jedes Jahr zu meinem Geburtstag bekam ich von ihm eine Tüte mit meinen Lieblings-Geleebonbons und eine Karte mit fünfzig Dollar.

Seit Januar war Richard mein Vormund, und um die Situation erträglicher für mich zu machen, war er in unser Penthouse in der Upper East Side gezogen. Zuerst war es merkwürdig mit ihm im Haus, aber er zog sich meistens ins Gästezimmer zurück, und schon bald hatte sich unser Tagesablauf ganz gut eingespielt. Normalerweise sah ich ihn nur beim Frühstück, da er immer bis spät in die Nacht arbeitete. Letzte Woche hatte sich das alles allerdings schlagartig geändert. Als ich von der Schule nach Hause kam, war der Esstisch gedeckt, und er hatte sich viel Mühe gegeben, selbst etwas zu kochen. Dann eröffnete er mir, dass ich nach Colorado ziehen würde.

»Ich verstehe nicht, warum du mich wegschickst«, rief ich erbost, nachdem wir zehn Minuten gestritten hatten.

»Ich habe dir das bereits erklärt, Jackie«, antwortete er mit gequältem Gesichtsausdruck, als reiße diese Entscheidung ihn von dem Ort weg, an dem er sein Leben lang gewohnt hatte, und nicht mich. »Deine Schultherapeutin macht sich Sorgen um dich. Sie hat heute angerufen, weil sie glaubt, du kommst nicht gut zurecht.«

»Erstens wollte ich nie zu dieser blöden Therapeutin gehen«, fuhr ich ihn an und knallte meine Gabel auf den Tisch. »Und zweitens: Wie kann sie auch nur andeuten, ich würde nicht gut zurechtkommen? Meine Noten sind super, wenn nicht sogar besser als im ersten Semester.«

»Du machst deine Sache in der Schule hervorragend, Jackie.« Ich konnte das Aber kommen hören. »Sie denkt aber, dass du dich in die Arbeit stürzt, damit du dich nicht mit deinen Problemen auseinandersetzen musst.«

»Mein einziges Problem ist, dass sie keinen Schimmer hat, wer ich bin! Ich bitte dich, Onkel Richard. Du kennst mich. Ich bin immer fleißig gewesen und habe hart gearbeitet. Das heißt es eben, eine Howard zu sein.«

»Jackie, du bist seit dem Beginn des Semesters drei neuen AGs beigetreten. Meinst du nicht, dass du dich ein wenig überforderst?«

»Wusstest du, dass Sarah Yolden letzten Sommer ein Stipendium bekommen hat, um in Brasilien eine gefährdete Pflanzenart zu untersuchen?«, fragte ich stattdessen.

»Nein, aber …«

»Sie durfte ihre Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen. Sie ist außerdem die erste Vorsitzende der Geigen-AG und durfte in der Carnegie Hall auftreten. Wie soll ich damit bitte konkurrieren? Gute Noten alleine reichen einfach nicht, wenn ich nach Princeton will.« Ich versuchte, mich zu beherrschen und abgeklärt zu klingen. »Meine Bewerbung muss schon eindrucksvoll sein, wenn ich eine Chance haben will. Und daran arbeite ich.«

»Das verstehe ich ja, aber ich glaube auch, dass dir vielleicht ein Tapetenwechsel guttun würde. Die Walters sind tolle Leute, und sie freuen sich, dich aufzunehmen.«

»Tapetenwechsel? Das ist, wenn ich eine Woche am Strand rumhänge!«, schrie ich und schnellte von meinem Stuhl hoch. Dann beugte ich mich über den Tisch und funkelte Onkel Richard an. »Das ist grausam. Du schickst mich quer durchs ganze Land.«

Er seufzte. »Ich weiß, dass du das jetzt nicht verstehst, Jackie, aber ich verspreche dir, dass das letztlich das Richtige ist. Du wirst schon sehen.«

Bisher verstand ich es nicht. Je näher wir Colorado kamen, umso nervöser wurde ich. Und egal, wie oft ich mir sagte, dass alles gut werden würde, ich glaubte es nicht. Ich kaute auf meiner Unterlippe, bis sie wund war, und grübelte darüber nach, wie schwierig es für mich sein würde, mich ans Leben bei den Walters zu gewöhnen.

Nachdem das Flugzeug gelandet war, machten Katherine und ich uns auf die Suche nach ihrem Mann.

»Ich habe den Kindern letzte Woche gesagt, dass du bei uns einziehst, sie wissen also, dass du kommst«, plauderte sie, während wir uns durch die Menge kämpften. »Du bekommst auch ein eigenes Zimmer. Ich konnte es nur noch nicht herrichten, deshalb … George! George, hier sind wir!«

Katherine winkte einem hochgewachsenen Mann von Anfang fünfzig zu und hüpfte dabei aufgeregt herum. Dass er ein bisschen älter als seine Frau sein musste, schloss ich aus seinen komplett grauen Haaren und Bartstoppeln und den Falten, die seine Stirn durchzogen. Er trug ein schwarzrotes Flanellhemd und zerrissene Jeans, schwere Arbeitsstiefel und einen Cowboyhut.

Als wir ihn erreichten, umarmte er Katherine und strich ihr übers Haar. Die Geste erinnerte mich an meine Eltern und ich zuckte zusammen, drehte mich weg. »Ich habe dich vermisst«, hörte ich ihn dann sagen.

Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich habe dich auch vermisst.« Dann löste sie sich von ihm und wandte sich zu mir. »George, Liebling«, sagte sie und nahm meine Hand. »Das ist Jackie Howard. Jackie, das ist mein Mann.«

George wirkte unbehaglich, als er mich musterte. Wie begrüßt man jemanden, der gerade seine ganze Familie verloren hat? Freut mich, dich kennenzulernen? Wir sind glücklich darüber, dich aufnehmen zu dürfen? Stattdessen streckte George seine Hand aus und murmelte ein schnelles Hallo.

Dann straffte er sich mit einem Ruck und wandte sich an Katherine. »Holen wir das Gepäck und dann ab nach Hause.«

Nachdem all meine Koffer auf der Ladefläche des Pick-ups verstaut waren, kletterte ich auf die Rückbank und fischte meinen MP3-Player aus meiner Jacke. George und Katherine unterhielten sich leise über den Flug, und ich setzte meine Kopfhörer auf, weil ich ihr Gespräch nicht mit anhören wollte. Ich wurde nervöser und nervöser, als wir immer weiter von der Stadt weg aufs Land hinaus fuhren. Um uns herum war nichts als grüne Felder und vereinzelte Hügel, die entlang der Straße auftauchten, aber ohne die hohen, stolzen Gebäude von New York City fühlte ich mich irgendwie ungeschützt. Colorado war wunderschön, aber wie sollte ich mich hier jemals zu Hause fühlen?

Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, lenkte George den Wagen auf eine Schotterstraße. Zuerst sah ich nicht, wohin sie führte. Dann konnte ich auf einem Hügel in der Ferne vage ein Haus erkennen. Gehörte das ganze Land wirklich ihnen? Als wir oben ankamen, erkannte ich dann, dass es weniger ein einzelnes Haus war als vielmehr drei aneinandergebaute Häuser. Ich schätze, für zwölf Jungs braucht man eine Menge Platz.

Das Gras musste dringend gemäht werden und die hölzerne Veranda hätte einen Anstrich vertragen können. Der Rasen war mit Spielzeug übersät, hier waren wohl die kleineren Jungs zugange gewesen. George betätigte eine Fernbedienung, die am Blendschutz befestigt war. Die Garagentür öffnete sich, und dabei kippte ein Fahrrad um, gefolgt von einigen weiteren Spielsachen, die dem Pick-up jetzt den Weg zu seinem Parkplatz versperrten.

»Wie oft müssen wir ihnen noch sagen, dass sie ihre Sachen nicht überall rumliegen lassen sollen?«, brummte George.

»Ärgere dich nicht, Liebling. Ich kümmer mich drum«, antwortete Katherine, löste ihren Sicherheitsgurt und schlüpfte aus dem Wagen. Ich sah zu, wie sie das Chaos wegräumte, damit ihr Mann in die Garage fahren konnte. Als der Wagen endlich geparkt war, schaltete George den Motor ab, und wir saßen schweigend im Halbdunkel. Dann drehte er sich zu mir um.

»Bist du bereit, Jackie?«, fragte er. Er musterte mich und runzelte die Stirn. »Du siehst irgendwie blass aus.«

Natürlich sah ich blass aus! Ich war gerade mit einer Frau, die ich nicht kannte, durch das halbe Land geflogen, weil meine Familie tot war. Hinzu kam, dass ich mit zwölf Kindern zusammenziehen würde, die allesamt Jungs waren! Aller Voraussicht nach würde es dieser Tag nicht mehr ganz in die Top Ten schaffen.

»Es geht mir gut«, murmelte ich automatisch. »Ich bin wohl bloß ein bisschen nervös.«

»Nun, der beste Tipp, den ich dir geben kann, was meine Jungs betrifft …« – er löste seinen Sicherheitsgurt – »Hunde, die bellen, beißen nicht. Lass dich nicht von ihnen einschüchtern.«

Inwiefern sollte das jetzt beruhigend sein? George sah mich an, deshalb nickte ich. »Ähm, danke«, sagte ich.

Er nickte mir kurz zu, stieg dann aus und ließ mich allein, damit ich mich sammeln konnte. Ich starrte durch die Windschutzscheibe. Vor meinen Augen...