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Fehlstart

Dick Francis

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257606690 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{5}Teil eins: Jonathan


1


Ich sagte den Jungs, sie sollten sich ruhig verhalten, während ich mein Gewehr holen ging.

Normalerweise klappte es. Für die fünf Minuten, die ich brauchte, um zu dem Spind im Lehrerzimmer und wieder zurück ins Klassenzimmer zu kommen, konnte man darauf zählen, daß dreißig vierzehnjährige, halbunterdrückte Rowdys einen Zustand brüchigen guten Benehmens durchhielten, gezügelt nur durch die Verheißung einer Unterrichtsstunde, auf die sie sich wirklich gefreut hatten. Physik im allgemeinen erachteten sie für unannehmbar schwere Geistesarbeit, aber was geschah, wenn ein Gewehr eine Kugel ausspuckte … das war interessant.

Jenkins hielt mich im Lehrerzimmer einen Augenblick auf: Jenkins mit der sauren Miene und dem schlechtgelaunten Schnurrbart, der mir sagte, Impuls könne man mit Kreide auf einer Tafel besser erklären, und eine richtige Schußwaffe sei einfach zügellose Selbstdarstellung meinerseits.

»Sie haben ohne Zweifel recht«, sagte ich kühl und drückte mich an ihm vorbei.

Er sah mich wie üblich mit frustrierter Gehässigkeit an. Er haßte meine Taktik, ihm immer beizupflichten, was freilich der Grund war, weshalb ich es tat.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich im Weitergehen. »Die 4A wartet.«

{6}Die 4A jedoch wartete nicht in dem erhofften Zustand leise siedender Erregung. Sie war statt dessen ein kollektives Gekicher, das sich rasch einem leichten hysterischen Anfall näherte.

»Hört mal«, sagte ich rundheraus, denn schon beim ersten Schritt durch die Tür spürte ich die Stimmung, »beruhigt euch, oder ihr schreibt Notizen ab.«

Diese schrecklichste aller Drohungen zeigte keine Wirkung. Das Gekicher war nicht abzustellen. Die Blicke der Klasse schossen zwischen mir und meinem Gewehr und der Tafel, die für mich hinter der offenen Tür noch außer Sicht war, hin und her, und auf jedem der jungen Gesichter lag die ausgelassenste Vorfreude.

»Okay«, sagte ich und schloß die Tür, »was steht denn wieder Schönes …«

Ich hielt inne.

Es stand nichts an der Tafel.

Einer der Jungen stand davor, kerzengerade und still: Paul Arcady, der Witzbold der Klasse. Er stand kerzengerade und still, weil auf seinem Kopf ein Apfel balancierte.

Das Gekicher rings um mich explodierte in Gelächter, und ich selbst konnte auch kein ernstes Gesicht bewahren.

»Können Sie ihn runterschießen, Sir?«

Die Stimmen übertönten ein allgemeines Geschrei.

»Wilhelm Tell hat es gekonnt, Sir.«

»Sollen wir ’n Krankenwagen rufen, Sir, für alle Fälle?«

»Wie lange braucht eine Kugel, um Pauls Schädel zu durchqueren, Sir?«

»Sehr lustig«, sagte ich warnend, aber natürlich war es sehr lustig, und sie wußten es. Nur, wenn ich zuviel lachte, würde ich die Kontrolle über sie verlieren, und die Kontrolle über solch eine launische Masse war immer prekär.

»Wirklich geistreich, Paul«, sagte ich. »Geh und setz dich hin.«

{7}Er war zufrieden. Er hatte sich vollendet in Szene gesetzt. Er nahm den Apfel mit angeborener Eleganz vom Kopf, kehrte ordentlich auf seinen Platz zurück und nahm die bewundernden Scherze und die neidischen Pfiffe als gebührenden Lohn entgegen.

»Also schön«, sagte ich und pflanzte mich entschlossen dort auf, wo er gestanden hatte. »Am Ende dieser Stunde werdet ihr alle wissen, wie lange eine Kugel brauchen würde, um bei einem bestimmten Tempo eine bestimmte Entfernung zu durchmessen …«

Das Gewehr, das ich in die Stunde mitgebracht hatte, war ein simples Luftgewehr, doch ich erzählte ihnen auch, wie eine Büchse funktionierte und wieso eine Kugel oder ein Bleikorn jeweils schnell heraustrat. Ich ließ sie das glatte Metall anfassen: Für viele von ihnen das erste Mal, daß sie ein richtiges Gewehr, sei es auch nur ein Luftgewehr, aus nächster Nähe sahen. Ich erklärte, wie Kugeln gemacht wurden und wie sie sich von den Bleikörnern, die ich dabeihatte, unterschieden. Wie Lademechanismen funktionierten. Wie die Rillen in einem Gewehrlauf die Kugel rotieren ließen, um sie schnell drehend auszustoßen. Ich erzählte ihnen von Luftwiderstand und Hitze.

Sie hörten konzentriert zu und stellten die Fragen, die sie immer stellten.

»Können Sie uns sagen, wie eine Bombe funktioniert, Sir?«

»Eines Tages«, sagte ich.

»Eine Atombombe?«

»Eines Tages.«

»Eine Wasserstoff- … Kobalt- … Neutronenbombe?«

»Eines Tages.«

Sie fragten niemals, wie Radiowellen den Äther durchquerten, was für mich das größere Rätsel war. Sie fragten nach Zerstörung, nicht Schöpfung, nach Macht, nicht Symmetrie. Die Saat der Gewalt, die jedes männliche Kind in sich trägt, schaute {8}aus jedem Gesicht, und ich wußte, wie sie dachten, weil ich selbst so gewesen war. Warum sonst hatte ich in ihrem Alter zahllose Stunden hindurch mit einem 22er Kadettengewehr auf einem Schießstand geübt, meine Kunst verbessert, bis ich auf fünfzig Meter ein Ziel von der Größe eines Daumennagels neun von zehn Malen treffen konnte. Eine seltsame, sinnlose, sublimierte Kunst, die ich nie auf ein lebendes Wesen anzuwenden gedacht, aber seither nicht verlernt hatte.

»Stimmt es, Sir«, sagte einer von ihnen, »daß Sie eine olympische Medaille im Gewehrschießen gewonnen haben?«

»Nein, es stimmt nicht.«

»Was denn, Sir?«

»Ich möchte, daß ihr alle mal die Geschwindigkeit einer Kugel im Vergleich zur Geschwindigkeit eines anderen Gegenstandes, den ihr alle kennt, betrachtet. Glaubt ihr nun, ihr könntet in einem Flugzeug nebenher fliegen und aus dem Fenster schauen und eine Kugel sehen, die Schritt hält mit euch, so daß es scheint, als ob sie da vor dem Fenster stillsteht?«

Die Stunde lief weiter. Sie würden sich ihr Leben lang daran erinnern, wegen des Gewehrs. Ohne das Gewehr, was immer Jenkins auch glauben mochte, wäre sie in dem allgemeinen Staub untergegangen, den sie jeden Nachmittag um vier von ihren Schuhen schüttelten. Unterrichten, so schien es mir oft, war ebensosehr eine Sache des Bilderbeschwörens wie des Mitteilens wirklicher Information. Die witzig dargebrachten Fakten waren diejenigen, die sie in Prüfungen richtig hinkriegten.

Ich unterrichtete gerne. Besonders gern unterrichtete ich Physik, ein Fach, dem ich mit Leidenschaft und Freude anhing, wobei ich durchaus wußte, daß die meisten Leute entsetzt davor zurückscheuten. Physik war nur die Wissenschaft der unsichtbaren Welt, wie Geographie die der sichtbaren. Physik war die Wissenschaft von all den ungeheuer mächtigen Unsichtbarkeiten – Magnetismus, Elektrizität, Schwerkraft, Licht, Schall, {9}kosmische Strahlen … Physik war die Wissenschaft von den Rätseln des Universums. Wie konnte irgend jemand sie für langweilig halten?

Ich war seit drei Jahren Leiter der Physikabteilung der Gesamtschule von East Middlesex und hatte vier Lehrer und zwei technische Fachkräfte unter mir. Da ich jetzt dreiunddreißig war, hatte ich für die Zukunft noch Aussicht auf ein Konrektorat, höchstwahrscheinlich in Verbindung mit einem Ortswechsel, und vielleicht sogar auf ein Rektorat, obwohl ich das, wenn ich es mit vierzig nicht erreicht hatte, vergessen konnte. Schulleiter wurden Jahr für Jahr jünger; vor allem, wie Zyniker munkelten, weil die Behörden den Mann, den sie ernannten, um so mehr herumkommandieren konnten, je jünger er war.

Ich war alles in allem zufrieden mit meiner Stellung und glaubte an meine Zukunft. Nur zu Hause standen die Dinge nicht so gut.

Die 4A lernte den Impuls zu berechnen, und Arcady aß seinen Apfel, als er dachte, ich sähe nicht hin. Mein Blickfeld aber war nach zehn Jahren Lehrberuf derart scharf erweitert, daß sie zuweilen glaubten, ich könne buchstäblich mit dem Hinterkopf sehen. Es schadete nichts: Es machte die Kontrolle leichter.

»Laß die Kitsche nicht auf den Boden fallen, Paul«, sagte ich mild. Es war eine Sache, ihn den Apfel essen zu lassen – er hatte es sich verdient –, aber eine ganz andere, ihn glauben zu lassen, ich hätte es nicht gesehen. Die Monster im Griff zu behalten war ein immerwährendes psychologisches Spiel, aber auch die erste Priorität. Ich hatte erlebt, wie Stärkere als ich durch den Jagdrudelinstinkt von Kindern bis zum Nervenzusammenbruch erschöpft wurden.

Als die Schlußklingel kam, erwiesen sie mir die größte aller Höflichkeiten und ließen mich ausreden, ehe sie in wilder Flucht heimwärts stürmten. Schließlich war es Freitag, die letzte Stunde – und Gott sei gedankt für die Wochenenden.

{10}Ich machte langsam die Runde durch die vier Physiklabors und die zwei Apparateräume und prüfte, ob alles in Ordnung war. Die beiden Techniker, Louisa und David, waren dabei, alle Geräte auseinanderzunehmen und wegzuräumen, die am Montag nicht gebraucht wurden. Sie demontierten das Werk der 5E, die sich an Radioschaltsystemen versucht hatte, und legten die Batterien, Klammern, Grundplatten und Transistoren wieder in die zahllosen Ständer und Fächer.

»Jemand Bestimmtes auf der Abschußliste?« sagte Louisa mit Blick auf das Gewehr, das ich bei mir hatte.

»Wollte es nicht unbeaufsichtigt lassen.«

»Ist es geladen?« Ihre Stimme klang beinahe hoffnungsvoll. Freitags gegen Ende war sie stets in der Verfassung, wo man sie besser nicht um eine Gefälligkeit bat – es sei denn, man war gewillt, weinerliche zehn Minuten à la »Sie ahnen ja nicht, wie dieser Job einen...