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Verstand und Gefühl

Jane Austen

 

Verlag Re-Image Publishing, 2016

ISBN 9783936137439 , 380 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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0,99 EUR


 

Kapitel 1


 

Die Familie Dashwood war schon seit langem in Sussex ansässig. Die Größe ihres Besitztums war beträchtlich, und ihr Wohnsitz befand sich im Norland Park, in der Mitte ihres Gutes, wo sie seit vielen Generationen ein so achtbares Leben geführt hatten, daß sie im Bekanntenkreis ihrer Umgebung in hohem Ansehen standen. Der vorige Besitzer dieses Gutes war ein unverheirateter Mann, der ein sehr hohes Alter erreichte und während vieler Jahre seines Lebens in seiner Schwester eine ständige Gefährtin und Haushälterin gefunden hatte. Doch ihr Tod, der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte eine große Veränderung in seinem Haus mit sich; denn als Ersatz für ihren Verlust lud er die Familie seines Neffen, Mr. Henry Dashwoods – des rechtmäßigen Erben von Norland und der Person, der er es auch zu vermachen beabsichtigte – ein und nahm sie bei sich auf. In der Gesellschaft seines Neffen und seiner Nichte und deren Kinder hatte der alte Herr ein angenehmes Leben, und er faßte eine noch größere Zuneigung zu ihnen allen. Die ständige Aufmerksamkeit, die Mr. und Mrs. Henry Dashwood seinen Wünschen entgegenbrachten und die nicht allein der Wahrung ihrer eigenen Interessen entsprang, sondern ihrer Herzensgüte, verschafften ihm das volle Maß an solider Behaglichkeit, das seinem Alter gemäß war; und die Fröhlichkeit der Kinder erhöhte die Freude an seinem Dasein.
Aus einer früheren Heirat hatte Mr. Henry Dashwood einen Sohn und von seiner jetzigen Gattin drei Töchter. Der Sohn, ein ordentlicher, achtbarer junger Mann, war reichlich versorgt durch das Vermögen seiner Mutter, das beträchtlich gewesen war und von dem ihm die Hälfte bei Erreichen seiner Volljährigkeit zufiel. Außerdem vermehrte er seinen Reichtum noch durch seine eigene Heirat bald nach diesem Ereignis. Die Nachfolge von Norland anzutreten war deshalb für ihn nicht wirklich von solcher Bedeutung wie für seine Schwestern; denn deren Vermögen konnte – unabhängig davon, was ihnen zufallen mochte, wenn ihr Vater dieses Besitztum erbte – nur sehr gering sein. Ihre Mutter besaß nichts, und der Vater hatte lediglich siebentausend Pfund zu seiner Verfügung; denn die verbleibende Hälfte des Vermögens seiner ersten Frau war ebenfalls ihrem Sohn vorbehalten, und Henry Dashwood hatte nur den lebenslänglichen Nießbrauch davon.
Der alte Herr starb; sein Testament wurde verlesen, und wie es nahezu bei jedem Testament ist, brachte es ebensoviel Enttäuschung wie Freude mit sich. Er war weder so ungerecht noch so undankbar, sein Besitztum seinem Neffen vorzuenthalten, doch hinterließ er es ihm zu Bedingungen, die die Hälfte des Wertes seines Erbes zunichte machten. Mr. Dashwood hatte es sich mehr um seiner Frau und seiner Töchter willen gewünscht als für sich selbst oder für seinen Sohn; doch war es für seinen Sohn und den Sohn seines Sohnes, einem Kind von vier Jahren, in einer Weise festgelegt worden, die ihm keine Befugnis gab, durch Belastung des Besitztums oder den Verkauf eines Teiles seiner wertvollen Wälder für diejenigen Vorsorge zu treffen, die ihm so teuer waren und die der Versorgung am meisten bedurften. Das Ganze war zugunsten des Kindes festgelegt, das bei gelegentlichen Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutter in Norland so weit die Zuneigung seines Onkels durch Reize gewonnen hatte, wie sie bei einem Kind von drei oder vier Jahren keineswegs ungewöhnlich sind – unvollkommene Aussprache, das dringende Verlangen, seinen Willen durchzusetzen, viele spitzbübische Streiche und eine Menge Lärm –, daß diese schließlich das ganze Gewicht all der Aufmerksamkeit überwogen, die er jahrelang von seiner Nichte und ihren Töchtern empfangen hatte. Er wollte jedoch nicht herzlos sein, und als Zeichen seiner Zuneigung zu den drei Mädchen hinterließ er jedem von ihnen tausend Pfund.
Mr. Dashwood war zu Anfang tief enttäuscht, aber er hatte ein heiteres, optimistisches Gemüt, und er konnte berechtigterweise hoffen, noch viele Jahre zu leben und bei einem sparsamen Leben eine beträchtliche Summe von den Erzeugnissen eines bereits großen und beinahe unverzüglich erweiterungsfähigen Gutes beiseite zu legen. Doch dieses Glück, das sich so spät eingestellt hatte, war ihm nur ein Jahr beschieden. Länger überlebte er seinen Onkel nicht; und zehntausend Pfund, einschließlich der letzten Hinterlassenschaften, war alles, was seiner Witwe und seinen Töchtern blieb.
Sobald man wußte, wie es um ihn stand, schickte man nach seinem Sohn, und ihm vertraute Mr. Dashwood mit der ganzen Kraft und Dringlichkeit, über die Krankheit gebieten kann, die Interessen seiner Stiefmutter und seiner Schwestern an.
Mr. John Dashwood war nicht mit so starken Gefühlen gesegnet wie die übrige Familie; doch war er durch die Fürsprache von solcher Art zu einer solchen Zeit berührt, und er versprach, alles zu tun, was in seiner Macht lag, um ihnen ein sorgenfreies Leben zu verschaffen. Sein Vater war erleichtert durch diese Versicherung, und Mr. John Dashwood konnte dann nach Belieben überlegen, wieviel für sie zu tun vernünftigerweise in seiner Macht liegen mochte.
Er war kein junger Mann von schlechtem Charakter, es sei denn, man wollte ihn schon aufgrund von ein wenig Kaltherzigkeit und Selbstsucht so nennen; doch er war im allgemeinen wohlgeachtet, denn er erfüllte mit Anstand seine alltäglichen Pflichten. Hätte er eine liebenswürdigere Frau geheiratet, hätte ihn das vielleicht noch achtbarer gemacht, und vielleicht wäre er sogar selbst liebenswürdig geworden; denn er war noch sehr jung, als er heiratete, und er liebte seine Frau sehr. Doch Mrs. John Dashwood war ein entschiedenes Zerrbild seiner selbst – sie war noch engstirniger und selbstsüchtiger.
Als er seinem Vater das Versprechen gab, erwog er in seinem Innern, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk von eintausend Pfund für jede von ihnen zu vermehren. Er fühlte sich zu der Zeit wirklich imstande dazu. Die Aussicht auf viertausend Pfund im Jahr zusätzlich zu seinem gegenwärtigen Einkommen, neben der verbleibenden Hälfte des Vermögens seiner eigenen Mutter, erwärmte ihm das Herz und ließ ihn an seinen Edelmut glauben. Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben; das wäre großzügig und nobel! Es wäre genug, um sie vollkommen sorgenfrei zu machen. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so beträchtliche Summe ohne viel Schwierigkeiten erübrigen. Er dachte den ganzen Tag daran, und noch viele weitere Tage danach, und er bereute es nicht.
Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, als Mrs. John Dashwood auch schon, ohne ihre Schwiegermutter vorher von ihrer Absicht zu unterrichten, mit ihrem Kind und ihrer Dienerschaft erschien. Niemand konnte ihnen das Recht bestreiten, dorthin zu kommen; das Haus war vom Augenblick des Todes seines Vaters an das Eigentum ihres Gatten; doch um so größer war die Taktlosigkeit ihres Verhaltens, und jeder Frau in Mrs. Dashwoods Lage hätte dies, wenn sie auch nur von gewöhnlicher Empfindsamkeit war, höchst unangenehm sein müssen; sie aber besaß ein so starkes Ehrgefühl und eine so romantische Großmütigkeit, daß jede Kränkung dieser Art, wer immer sie auch zufügte oder empfing, für sie eine Quelle unerschütterlichen Abscheus war. Mrs. John Dashwood war bei niemand in der Familie ihres Gatten jemals beliebt gewesen; aber sie hatte bis dahin keine Gelegenheit gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Aufmerksamkeit für das Wohlergehen anderer Leute sie handeln konnte, wenn es der Anlaß erforderte.
So tief empfand Mrs. Dashwood dieses unfreundliche Verhalten ihrer Schwiegertochter und so ernstlich verachtete sie diese dafür, daß sie bei ihrer Ankunft das Haus für immer verlassen hätte, wäre sie nicht durch die dringende Bitte ihrer ältesten Tochter veranlaßt worden, doch erst einmal die Schicklichkeit eines solchen Fortgehens zu bedenken; und so bestimmte ihre zärtliche Liebe zu all ihren drei Kindern sie schließlich, zu bleiben und um ihretwillen einen Bruch mit deren Bruder zu vermeiden.
Elinor, die älteste Tochter, deren Rat so wirksam war, besaß einen klugen Verstand und ein besonnenes Urteilsvermögen, die sie befähigten, obgleich sie erst neunzehn Jahre alt war, die Ratgeberin ihrer Mutter zu sein, und die es ihr häufig zu ihrer aller Nutzen ermöglichten, der Ungeduld Mrs. Dashwoods entgegenzuwirken, die meistens eine Unklugheit herbeigeführt haben würde. Sie besaß ein treffliches Herz, ein liebevolles Wesen und war starker Gefühle fähig, die sie jedoch zu beherrschen wußte; und das war etwas, was ihre Mutter nie gelernt hatte – und was eine ihrer Schwestern beschlossen hatte, sich niemals beibringen zu lassen.
Mariannes Fähigkeiten glichen denen Elinors in vieler Hinsicht. Sie war vernünftig und klug, doch in allen Dingen ungestüm; in ihrem Kummer und ihrer Freude konnte es keine Mäßigung geben. Sie war großmütig, liebenswürdig und anziehend, doch war sie alles andere als umsichtig. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war auffallend groß.
Elinor sah dieses Übermaß an Empfindsamkeit bei ihrer Schwester mit Besorgnis, doch Mrs. Dashwood schätzte und liebte es. Sie bestärkten sich jetzt gegenseitig in der Heftigkeit ihres Kummers. Der unsagbare Schmerz, der sie anfangs überwältigte, wurde vorsätzlich wiederbelebt, wurde gesucht und immer wieder neu entfacht. Sie gaben sich ganz und gar ihrem Kummer hin und suchten bei jeder Betrachtung, die dazu Anlaß bot, ihr Elend zu vergrößern, und wehrten sich gegen den Gedanken, jemals in Zukunft Trost zuzulassen. Elinor war ebenfalls tief betrübt, aber dennoch konnte...