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Kinder psychisch kranker Eltern

Albert Lenz, Silke Wiegand-Grefe

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783840925894 , 185 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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21,99 EUR


 

|52|2 Leitlinien


2.1 Leitlinien zur Diagnostik


Da die Problematik von Kindern psychisch kranker Eltern in besonderer Weise und nur im Zusammenspiel mit ihren Eltern und ihrer Familie zu verstehen ist, sind bei der Diagnostik nicht nur das einzelne Kind, sondern auch die Eltern und, wenn möglich, die gesamte Familie zu berücksichtigen. Bei der Diagnostik von Familien werden üblicherweise drei Ebenen unterschieden: die Ebene der Eltern, die Ebene der Kinder und die Ebene des gesamten Familiensystems (Cierpka, 2003). Familien mit psychisch kranken Eltern müssen oftmals komplexe Problematiken bewältigen. Die Helfer, wie z. B. Psychotherapeuten, Ärzte oder Sozialarbeiter, finden häufig eine Ausgangslage mit vielfältigen psychosozialen Belastungen in der Familie und einer ebenso komplexen medizinischen Situation vor (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011).

Um frühzeitig gezielte und wirksame Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern einleiten zu können, ist eine Einschätzung der familiären Belastungen und Gefährdungen des Kindes sowie der individuellen, familiären und sozialen Ressourcen bzw. Resilienzen erforderlich. Die Bestimmung der Belastungen und Gefährdungen liefert die entscheidenden, handlungsleitenden Informationen und Hinweise darüber, was verändert werden soll. Für die Beantwortung der Frage jedoch, wie die Probleme am besten verändert, Gefährdungen reduziert und Belastungen bewältigt werden können, sind hingegen die Ressourcen und Resilienzen von großer Bedeutung.

Ressourcen stellen nicht nur eine wichtige Rolle in Bewältigungsprozessen dar, sondern bewirken darüber hinaus auch eine Verbesserung des Wohlbefindens einer Person. Sie sind als positive Potenziale und Möglichkeiten zu verstehen, die einer Person nicht nur als Mittel zur Bewältigung belastender Lebensereignisse dienen, sondern außerdem zur Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse zur Verfügung stehen (Lenz, 2008).

Eine differenzierte Diagnostik umfasst daher neben der Einschätzung der Probleme, Auffälligkeiten und Belastungen auch eine Einschätzung der Fähigkeiten, Stärken und Potenziale, die Menschen in einen Bewältigungs- und Veränderungsprozess einbringen können. Tabelle 1 liefert eine Übersicht über die Leitlinien zur Diagnostik.

Im Mittelpunkt der diagnostischen Einschätzung steht das Familiengespräch. Informationen über Belastungen, Gefährdungen und Ressourcen können primär über das Gespräch und die direkte Beobachtung der Familieninteraktionen gewonnen werden. In die Einschätzungen geht die Qualität folgender Interaktionen und Beziehungen ein:

  • |53|der Eltern-Kind-Interaktion,

  • der Beziehung zwischen den Eltern,

  • der Beziehung des Kindes zu seinen Geschwistern und zu anderen relevanten Bezugspersonen sowie

  • die Erwartungen an das Kind und die familiären Regeln.

Tabelle 1: Übersicht über Leitlinien zur Diagnostik

L1

Exploration psychischer Störungen der Eltern von Kindern mit psychischen Störungen und Exploration der Auswirkungen der psychischen Störungen der Eltern auf die Familie

L2

Exploration der Auffälligkeiten jedes Kindes, wenn Eltern an einer psychischen Störung leiden

L3

Exploration der Belastungen in der Familie

L4

Exploration der Gefährdungen für die Kinder

L5

Umgang mit Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung

L6

Exploration der Ressourcen

Ergänzt werden muss das diagnostische Bild durch Informationen über die Krankheit und den Krankheitsverlauf, den Umgang mit der Erkrankung, elterliche Persönlichkeitsmerkmale und die elterliche Familiengeschichte sowie die objektive materielle und soziale Lebenslage der Familie (vgl. dazu auch Lenz, 2010/2014; Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011; Plass & Wiegand-Grefe, 2012; Retzlaff, 2008).

Besonders jüngere Kinder können durch eine gemeinsame Gesprächssituation kognitiv und emotional überfordert werden, da die komplexe Struktur des Familiensettings kognitive Kompetenzen voraussetzt, die Piaget als Stufe der formalen Denkoperationen beschrieben hat und die erst ab einem Alter von ca. 12 bis 15 Jahren entwickelt ist (vgl. Lenz, 2010). Zudem befinden sich die Kinder in einem Setting, das bereits rein quantitativ betrachtet von Erwachsenen dominiert wird und in dem sie die hierarchisch schwächste Position innehaben: Da sind einmal die Eltern, die als natürliche Autoritätspersonen Belohnungen gewähren und Sanktionen verhängen können, und zum anderen die Therapeuten, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung sowie ihrer fachlichen und personalen Kompetenzen ein hohes Maß an Autorität ausstrahlen. Wie die sozialpsychologische Beeinflussungsforschung gezeigt hat, greifen Menschen gerade in Anwesenheit vieler Beobachter eher auf gut eingeübte und vertraute als auf neu erworbene, noch wenig erprobte Handlungsmuster zurück. Reaktions- und Verhaltensweisen, die Kinder in ihrem alltagsweltlichen Kontext eventuell schon einigermaßen beherrschen, können sie in der ungewohnten Situation des Familiengesprächs, zumindest in der |54|Anfangsphase, nicht zeigen. In Anwesenheit der Eltern werden sie daher eher sozial erwünschte Antworten geben, zumal der interaktionale Schutzraum auch nur für die Dauer des Gesprächs funktioniert und die Kinder anschließend möglicherweise Sanktionen durch die Eltern befürchten müssen. Hinzu kommt, dass es sowohl für die Kinder als auch für die Eltern peinlich und hemmend sein kann, wenn das erste Gespräch gemeinsam geführt wird. Damit die Familienmitglieder offen über ihre Erfahrungen, Gefühle und Erlebnisse sprechen können, kann es empfehlenswert sein, Eltern und Kinder zunächst getrennt zu explorieren und gemeinsame diagnostische Familiengespräche erst danach durchzuführen (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011). Die Reihenfolge und Kombination der verschiedenen Gesprächssettings hängt vom Einzelfall, den gegebenen Rahmenbedingungen und auch vom Alter der Kinder ab. Erfahrungen zeigen, dass es Eltern in Familien mit jüngeren Kindern von etwa 8 bis 10 Jahren, vor allem aber, dass Eltern von noch wenig aufgeklärten Kindern es gern annehmen, zunächst allein zum Erstgespräch zu kommen. Dagegen ist es in Familien mit Kindern ab ca. 10 Jahren und vor allem mit Jugendlichen wichtig, die Jugendlichen von Beginn an mit in die Gespräche einzubeziehen. Manche Jugendliche sind misstrauisch hinsichtlich dessen, was ihre Eltern schon über sie berichtet haben könnten, wenn sie selbst erst später in die Gespräche einbezogen werden. Insbesondere bei Familien mit Jugendlichen ist es wichtig, diese gleichzeitig mit den Eltern einzuladen.

Neben der Erhebung von Problemen und Belastungen sowie der Identifizierung und Analyse von Ressourcen dient das diagnostische Handeln als erster intensiver Kontakt zum Aufbau einer tragfähigen, vertrauensvollen Beziehung und einer ausreichenden Motivation auf Seiten der Familie. Insbesondere die Ressourcendiagnostik fördert die Beziehung und das Selbstwertgefühl auf Seiten der Familie. So erwarten die von ihren Eltern als Problemkind vorgestellten, demoralisierten und belasteten Kinder in der diagnostischen ...