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Kleine große Schritte - Roman

Jodi Picoult

 

Verlag C. Bertelsmann, 2017

ISBN 9783641212292 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Ruth

Das schönste Baby, das ich je gesehen habe, kam ohne Gesicht zur Welt.

Vom Hals abwärts jedoch war es perfekt: zehn Finger, zehn Zehen, ein rundes Bäuchlein. Aber wo sein Ohr sein sollte, befanden sich verdrehte Lippen und ein einzelner Zahn. Statt eines Gesichts hatte es einen verwirbelten Strudel aus Haut ohne Merkmale.

Seine Mutter – meine Patientin – war eine Dreißigjährige gravida 1 para 1, die zur Schwangerschaftsvorsorge einschließlich Ultraschalluntersuchung gegangen war, doch das Baby lag so, dass die Gesichtsdeformation nicht zu erkennen gewesen war. Rückgrat, Herz und die anderen Organe hatten alle gut ausgesehen, sodass keiner damit rechnete. Vielleicht hat sie sich aus diesem Grund auch dafür entschieden, im Mercy-West Haven, unserem kleinen Bezirkskrankenhaus, zu entbinden und nicht im Yale-New Haven, das für Notfälle besser gerüstet ist. Sie hatte das Kind ausgetragen und lag sechzehn Stunden in den Wehen, bis das Kind kam. Der Arzt hob das Baby hoch, und im Raum machte sich Stille breit. Lebhafte Stille.

»Ist alles in Ordnung mit ihm«, erkundigte die Mutter sich panisch. »Warum schreit er nicht?«

Ich hatte eine Lernkrankenschwester an meiner Seite, die zu schreien anfing.

»Gehen Sie«, befahl ich ihr angespannt und drängte sie aus dem Zimmer. Dann nahm ich dem Geburtshelfer das Baby ab, legte es auf die Wärmeplatte und wischte ihm die Käseschmiere von den Gliedmaßen. Der Geburtshelfer untersuchte ihn rasch, tauschte schweigend einen Blick mit mir und wandte sich dann an die Eltern, die inzwischen wussten, dass etwas Furchtbares geschehen war. Mit sanften Worten erklärte der Arzt ihnen, dass ihr Kind schwere Geburtsdefekte hatte und nicht lebensfähig sei.

In einem Kreißsaal ist der Tod sehr viel häufiger zu Gast, als man denkt. Wenn wir es mit Anenzephalie oder Totgeburten zu tun haben, wissen wir, dass die Eltern dennoch eine Bindung zu diesem Baby aufbauen und um es trauern wollen. Dieses Kind – das noch lebte, wie lang auch immer – war trotz allem der Sohn dieses Paars.

Deshalb säuberte und wickelte ich ihn, wie ich das auch bei jedem anderen Neugeborenen getan hätte, während hinter mir das Gespräch der Eltern mit dem Arzt stockte und wieder in Gang kam, wie ein abgewürgter Automotor im Winter. Warum? Wie? Was, wenn Sie …? Wie lange bis …? Fragen, die keiner jemals stellen und auch keiner jemals beantworten möchte.

Die Mutter weinte noch immer, als ich ihr das Baby in die Armbeuge legte. Es schlug mit seinen winzigen Händen um sich. Mit beseeltem Blick lächelte sie es an. »Ian«, flüsterte sie. »Ian Michael Barnes.«

Ihr Gesichtsausdruck spiegelte dabei eine Liebe und eine so heftige Trauer, wie ich sie nur von Bildern in Museen kannte, Gefühle, die sich zu etwas Neuem, Elementarem verbanden.

Ich wandte mich an den Vater. »Möchten Sie Ihren Sohn im Arm halten?«

Er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Ich kann nicht«, murmelte er und hetzte aus dem Zimmer.

Ich folgte ihm, wurde aber von der Lernkrankenschwester aufgehalten, die aufgewühlt war und sich entschuldigte. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es ist nur … es war ein Monster

»Es ist ein Baby«, korrigierte ich sie und drängte mich an ihr vorbei.

Im Elternzimmer trieb ich den Vater in die Enge. »Ihre Frau und Ihr Sohn brauchen Sie.«

»Das ist nicht mein Sohn«, sagte er. »Dieses … Ding …«

»Wird nicht sehr lange auf dieser Welt sein. Und aus diesem Grund sollten Sie ihm jetzt tunlichst alle Liebe geben, die Sie für sein Leben gespeichert haben.« Ich wartete, bis er mir in die Augen sah, dann machte ich auf dem Absatz kehrt. Es war nicht nötig, mich umzublicken, um zu wissen, dass er mir folgte.

Als wir das Krankenzimmer betraten, liebkoste seine Frau noch immer das Baby, die Lippen an seine weiche Stirn gepresst. Ich löste das winzige Bündel aus ihren Armen und reichte es ihrem Ehemann. Er hielt den Atem an und zog dann dort die Decke weg, wo das Gesicht des Babys hätte sein sollen.

Ich habe mir meine Schritte gut überlegt. Ob ich das Richtige tat, indem ich den Vater zwang, sich mit seinem sterbenden Baby zu befassen; ob es mir als Krankenschwester zustand, dies zu tun. Hätte meine Vorgesetzte mich damals gefragt, hätte ich gesagt, dass ich dazu ausgebildet war, trauernde Eltern dabei zu unterstützen, einen Abschluss zu finden. Wenn dieser Mann sich nicht eingestand, dass etwas fürchterlich Schlimmes passiert war – oder, schlimmer noch, wenn er sich für den Rest seines Lebens vormachte, dass es gar nicht passiert war –, würde sich ein Loch in ihm auftun. Auch wenn es anfangs nur klein wäre, würde es im Lauf der Zeit immer größer und tiefer werden, bis er eines Tages, wenn er gar nicht damit rechnete, merkte, dass er völlig leer war.

Als der Vater anfing zu weinen, erschütterte sein Schluchzen den ganzen Körper wie ein Sturm, der einen Baum biegt. Er sank neben seiner Frau aufs Krankenhausbett, und sie legte eine Hand auf den Rücken ihres Ehemanns und die andere auf den Scheitel des Babykopfs.

Abwechselnd hielten sie ihren Sohn zehn Stunden lang. Diese Mutter versuchte sogar, ihn zu stillen. Ich konnte mich nicht von diesem Anblick lösen – und das nicht, weil er hässlich oder falsch war, sondern weil ich etwas derart Außergewöhnliches noch nie erlebt habe. Es fühlte sich an, als würde man in die Sonne sehen: Sobald ich mich abwandte, war ich blind für alles andere.

Irgendwann nahm ich die dumme Lernkrankenschwester mit ins Zimmer, vorgeblich, um die Mutter zu untersuchen, aber eigentlich, damit sie mit eigenen Augen sah, dass Liebe nichts mit dem zu tun hat, worauf man blickt, sondern es nur darum geht, wer darauf blickt.

Als das Kind starb, war es ein friedlicher Tod. Wir nahmen jeweils einen Gipsabdruck von der Hand und vom Fuß des Neugeborenen, damit die Eltern ein Andenken hatten. Ich erfuhr, dass dieses Paar zwei Jahre später wieder zu uns kam und eine gesunde Tochter zur Welt brachte, allerdings war ich nicht im Dienst, als das geschah.

Es soll nur zeigen: Jedes Baby wird schön geboren.

Nur das, was wir darauf projizieren, macht es hässlich.

Unmittelbar nachdem ich Edison vor siebzehn Jahren in ebendiesem Krankenhaus geboren hatte, machte ich mir keine Gedanken um die Gesundheit meines Babys oder wie ich als Alleinerziehende mit ihm klarkommen sollte, während mein Mann im Ausland war, oder wie sich mein Leben jetzt, da ich Mutter war, verändern würde.

Ich machte mir Gedanken wegen meiner Haare.

Das Letzte, woran man denkt, wenn man in den Wehen liegt, ist das eigene Aussehen, aber wenn man so gepolt ist wie ich, ist es das Erste, was einem in den Sinn kommt, sobald das Baby da ist. Der Schweiß, der die Haare meiner weißen Patienten immer an der Stirn platt drückt, bringt meine dazu, dass sie sich kräuseln und von meiner Kopfhaut abstehen. Glatte Haare bekomme ich nur, indem ich sie in einem Wirbel wie Softeis um meinen Kopf bürste und jede Nacht einen Schal darumbinde. Aber welche weiße Krankenschwester sollte das wissen oder begreifen, dass das kleine Fläschchen Shampoo, das man vom Krankenhaus bekam, meine Haare noch widerspenstiger machte? Ich war mir sicher, dass meine wohlmeinenden Kolleginnen, wenn sie zu mir kamen, um Edison kennenzulernen, beim Anblick des Durcheinanders auf meinem Kopf schockiert wären.

Schließlich wickelte ich mir ein Handtuch um den Kopf und erklärte den Besuchern, dass ich mich gerade erst geduscht habe.

Ich kenne Krankenschwestern, die in der Chirurgie arbeiten und von Männern berichten, die darauf bestehen, ihnen noch im Aufwachraum das Toupet anzukleben, bevor ihre Frauen zu ihnen kommen. Und ich kann gar nicht sagen, wie oft eine Patientin, die die ganze Nacht schreiend und pressend ihr Baby an der Seite ihres Ehemanns bekommen hat, diesen nach der Geburt aus dem Zimmer verbannt, damit ich ihr helfen kann, ein hübsches Nachthemd und einen Morgenmantel anzuziehen.

Ich habe Verständnis für das Bedürfnis der Leute, dem Rest der Welt ein bestimmtes Gesicht zu präsentieren. Und deshalb gehe ich, wenn ich morgens um 6.40 Uhr meine Schicht antrete, nicht als Erstes ins Schwesternzimmer, wo wir in aller Kürze von der diensthabenden Krankenschwester über die Ereignisse der letzten Nacht informiert werden. Sondern ich husche über den Flur zu der Patientin, um die ich mich am Vortag gekümmert habe, bevor meine Schicht zu Ende ging. Sie hieß Jessie, war ein kleines Ding und sah, als sie in den Kreißsaal kam, eher aus wie eine First Lady im Wahlkampf und nicht wie eine Frau in den Wehen: Ihr Haar war perfekt zurechtgemacht, ihr Gesicht geschminkt, selbst die Schwangerschaftsgarderobe war körperbetont und stylish. Das sagte alles, denn in der vierzigsten Schwangerschaftswoche sind die meisten zukünftigen Mütter froh um jedes zeltartige Kleidungsstück. Ich überprüfte ihre Krankenakte – G1 jetzt P1 – und grinste. Bevor ich Jessie der Fürsorge einer Kollegin übergab und nach Hause ging, hatte ich mich von ihr mit den Worten verabschiedet, dass sie bei unserem Wiedersehen ein Baby haben würde, und nun hatte ich tatsächlich einen neuen Patienten. Während ich schlief, hatte Jessie ein gesundes dreitausenddreihundertfünfundvierzig Gramm schweres Mädchen zur Welt gebracht.

Ich öffne die Tür und treffe Jessie dösend an. Das Baby liegt gewickelt im Körbchen neben dem Bett, Jessies Ehemann hat sich in einem Sessel ausgestreckt und schnarcht. Jessie regt sich, als ich hereinkomme, und ich lege mir sofort einen Finger auf die Lippen. Ruhig.

Aus...