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Das Genie

Klaus Cäsar Zehrer

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608243 , 656 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

{9}Erster Teil


{11}1


Das Erste, was Boris Sidis tat, nachdem er amerikanischen Boden betreten hatte, war, seinen beiden Reisebegleitern die Freundschaft zu kündigen. Sie hatten zwei Monate ihres Lebens miteinander geteilt, waren nachts im peitschenden Regen zwischen Radywyliw und Brody durch den Wald geirrt, um unbemerkt auf galizischen Boden zu gelangen, hatten sich erst nach Lemberg und von dort aus nach Wien durchgeschlagen, waren mit dem Zug nach Hamburg gereist, hatten eine Passage über Le Havre nach New York gekauft und drei Wochen unter Deck des Segeldampfers SS Lessing verbracht. Und nun standen Alexij und Wladimir morgens um halb acht, erschöpft von den Reisestrapazen und steinmüde, an der Südspitze Manhattans, im Rücken den gewaltigen Rundbau von Castle Garden, zwei von Millionen Einwanderern, die in den letzten Jahrzehnten dieses Tor zur Neuen Welt durchschritten hatten, und mussten sich von Boris zurechtweisen lassen wie Schuljungen.

Er habe bis jetzt geschwiegen, um das Ziel ihrer gemeinsamen Unternehmung nicht zu gefährden, sagte er. Aber nun, da es erreicht und die Stunde der Trennung gekommen sei, gebe es keinen Grund mehr zur Zurückhaltung. Trotz seiner Probleme mit dem linken Bein und {12}gelegentlicher Atemnot habe er während der gesamten Reise nicht ein einziges Mal über die widrigen Umstände geklagt, ganz im Gegensatz zu ihnen. Anstatt sich zu freuen, nach einem langen Tagesmarsch ein Bett in einer preiswerten Herberge vorzufinden, hätten sie sich fortwährend nur beschwert, über das knarrende Bettgestell, die klammen Decken, die Wanzen in den Matratzen. Anstatt dankbar zu sein, dass sie nicht einen einzigen Tag ohne Essen auskommen mussten, sei ihnen das, was sie von den Bauern bekommen hatten, nicht gut genug gewesen, das Brot zu hart, die Milch zu sauer, die Kartoffeln zu faulig. Anstatt sich mit jeder Werst, die sie zwischen sich und die Ukraine brachten, freier zu fühlen, hätten sie unaufhörlich gemurrt, über die Blasen an ihren Füßen, das schwere Gepäck, die Hitze, die Kälte, die Nässe, die Trockenheit, an allem hätten sie etwas zu mäkeln gefunden.

Kurzzeitig habe er gehoff‌t, dass wenigstens an Bord damit Schluss wäre. Von vereinter Wind- und Motorkraft wurden sie in kürzester Zeit über den Ozean geschoben, bei Vollverpflegung und mit einem Maß an Sicherheit und Komfort, von dem die Seefahrer aller Zeiten bloß hätten träumen können. Aber natürlich hätten sie sich gleich wieder an etwas gestört, an der abgestandenen Luft in den Kabinen, der Enge, der Dunkelheit und der Langeweile, die sie von früh bis spät mit Kartenspielen zu überwinden versuchten, freilich ohne Erfolg, weil derlei nichtiger Zeitvertreib die Langeweile nun einmal nicht besiege, sondern überhaupt erst erzeuge. Aber um das Offensichtliche zu sehen, dafür reiche es bei ihnen augenscheinlich nicht hier oben.

{13}Boris tippte sich an die Stirn und wartete einen Moment, um ihnen Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, doch da sie ihn nur stumpf anglotzten wie zwei Karpfen, fuhr er fort.

Die Entscheidung, sein amerikanisches Leben ohne sie zu beginnen, habe er vorhin getroffen, bei der Einfahrt in den Hafen, als das Schiff an dem gigantischen Monument vorüberglitt, das sich im Dämmerlicht gegen den Morgenhimmel abzeichnete. Ein ergreifender Anblick, für ihn ebenso wie für alle anderen Passagiere, die in andächtiger Stille auf dem Deck standen. Alle waren tiefbewegt, viele weinten vor Rührung. Nur Wladimir fiel nichts Besseres ein, als Spekulationen darüber anzustellen, was dieses Trumm wohl gekostet hatte, und daraus auf die Reichtümer zu schließen, die ihn in Amerika erwarteten. Schlimmer noch Alexij, der in der Gestalt lediglich ein dralles Riesenweib im Nachthemd erkennen konnte und an diese ohnehin reichlich geistverlassene Bemerkung einige Phantasien von unaussprechlicher Obszönität knüpf‌te, die Boris um keinen Preis wiederholen wollte.

Bei dem imposanten Denkmal, das im Übrigen bald eingeweiht werde, handle es sich – dies als letzter Hinweis, bevor sich ihre Wege endgültig trennten – um die sogenannte Bartholdi-Statue, und die Figur verkörpere nichts Geringeres als die Freiheit, die das Fackellicht der Aufklärung über die Welt bringe. Dieses Licht sei es, das ihn hierher gelotst habe und von dem er sich zeitlebens führen zu lassen beabsichtige, mochten andere auch lieber den faulen Verlockungen des Goldes oder des Fleisches folgen. Er wünsche den beiden, das wahre Glück vom falschen unterscheiden {14}zu lernen, und nun habe er ihnen nichts mehr weiter zu sagen als Lebewohl.

Boris ergriff energisch seinen Koffer, machte mit einer demonstrativ schwungvollen Bewegung auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter einer italienischen Großfamilie, die sich unter aufgeregtem Geschrei und wild gestikulierend über die Frage zankte, wie der beachtliche Haufen an Flechtkörben und Taschen in ihrer Mitte weiterzutransportieren sei.

Irgendetwas missfiel ihm an seinem Abgang, kam ihm inkonsequent und unvollständig vor. Ein paar Straßen weiter sah er unter einem Holzverschlag ein jämmerliches Paar mit fünf schmutzigen Kindern – den rotblonden Haarschöpfen, der ungesund blassen Haut und dem zerlumpten Leinenzeug nach zu urteilen handelte es sich um Iren –, und da fiel es ihm ein. Er stellte den schweren Reisekoffer, das Abschiedsgeschenk seiner Mutter, vor ihnen ab und entfernte sich so zügig, wie sein linkes Bein, das er stets ein wenig nachzog, es ihm erlaubte. Während die Familie noch rätselte, wer der eigenartige Fremde war und was er bezweckte, kam er zurück, zog seine gesamte Barschaft, genau dreiundvierzig Dollar, aus seinem Strumpf, klemmte die Scheine unter den Koffergriff und bog, diesmal endgültig, um die nächste Ecke.

Im Battery Park setzte sich Boris auf eine Bank am Ufer und blickte hinüber zum Freiheitsdenkmal, dessen Kupfer in der Morgensonne glänzte wie eine Flammenzunge. Er vergegenwärtigte sich seine Lage. Nüchtern betrachtet, stand er vor dem Nichts. Allein, mittellos und ohne Beruf in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, wo {15}niemand ihn erwartete, wo er seine beiden einzigen Bekannten soeben von sich gestoßen hatte und dessen Sprache er nicht beherrschte. Er sprach nur Russisch, Ukrainisch, Polnisch, Hebräisch und Jiddisch, zudem, allerdings nicht ohne Akzent, Ungarisch, Bulgarisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Auf Tschechisch, Rumänisch, Niederländisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch und Armenisch konnte er sich leidlich verständigen. Und Altgriechisch und Latein lesen, selbstverständlich. Sein Sanskrit war leider noch immer stark verbesserungsbedürf‌tig, er hatte es für längere Zeit vernachlässigen müssen. Und zum Englischen hatte er bislang noch gar keinen Zugang gehabt, sah man von ein paar Shakespeare- oder Milton-Zitaten ab, die ihm im Augenblick nicht besonders hilfreich waren. Die Schilder, die er bislang gesehen hatte, waren gleichwohl eine leichte Prüfung gewesen: Immigration, Passport Control, Bread & Cof‌fee.

Seine Heimat würde er nach allem Ermessen nie mehr wiedersehen, nicht seine Familie, keinen seiner Freunde. Ihm fiel ein, dass sich im Koffer eine gerahmte fotografische Aufnahme seiner Eltern und seiner vier Geschwister befand. Sie hatten sie vor seiner Abreise eigens für ihn anfertigen lassen. Sollte er noch einmal zurückgehen und sich wenigstens die wiedergeben lassen? Ach, sei’s drum. Alles unnützer Ballast. Besser, einen Schlussstrich zu ziehen.

Es gefiel ihm, dass er nichts mehr besaß, mit Ausnahme von dem, was er am Leibe trug und was er im Kopf hatte. Es gefiel ihm ganz praktisch – kein Gepäck mehr schleppen, vor keinen Dieben mehr auf der Hut sein {16}müssen –, und noch mehr gefiel es ihm als Vorstellung. Den Idealzustand, die paradiesische Voraussetzungslosigkeit eines Neugeborenen, würde er als Erwachsener nie wieder erreichen können, aber das hier kam dem immerhin nahe.

Boris griff in seine Manteltasche und stieß zu seiner Überraschung auf ein paar Centstücke. Ach ja, das Wechselgeld vom Frühstück, das er sich vorhin, noch in der Einwanderungsstation, bei einem fliegenden Händler besorgt hatte. Er ließ die Münzen ein wenig in der Hand klimpern, bevor er sie ins Wasser schleuderte.

Er schloss die Augen, prüf‌te sich und stellte fest, dass er glücklich war. Das Gefühl war so klar und rein, dass er meinte, einem Selbstbetrug aufzusitzen. Ein zweites Mal hörte er in sich hinein, etwas länger und tiefer, aber er konnte nichts anderes entdecken als ungetrübte Ruhe, freudige Zuversicht und unstillbaren Lebensdurst. Ja, er stand vor dem Nichts. Aber das Nichts war kein schwarzer Abgrund, es war eine leere Leinwand, auf die er das Bild seines Lebens malen durf‌te, nach seinem eigenen Entwurf. Was, wenn nicht das, war Freiheit?

Wieder schaute er hinüber zum Monument. War das wirklich eine Fackel, was Fräulein Libertas emporhielt? Von hier aus betrachtet, hätte man es auch für einen Pinsel halten können.

Es war Dienstag, der 5. Oktober 1886. Boris Sidis beschloss, das Datum künf‌tig zu behandeln wie seinen Geburtstag.

 

{17}Ohne weiteren Verzug sprach er den nächstbesten Parkbesucher an: Er sei neu in der Stadt und auf der Suche nach einer Beschäf‌tigung, irgendeiner, egal was, egal wo. Er wiederholte sein Anliegen in verschiedenen Sprachen, bis der andere sich mit einer Geste des Bedauerns abwandte. Auch mit dem Nächsten und dem Übernächsten misslang der Versuch einer Verständigung.

Erst der Vierte, ein...