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Das Ohnmachtsfrühstück - Roman

Jane Steinbrecher

 

Verlag Periplaneta, 2018

ISBN 9783959960946 , 308 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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7,99 EUR


 

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Ich schlug mich durch das Schuljahr. Meine Fehlzeiten waren dabei so unbegreiflich wie mein Notendurchschnitt. In Sport, Musik und Englisch sehr gut, in Deutsch und Geschichte gut. Dafür in Hauswirtschaft und Mathe sehr schlecht, aber das durften die Lehrerinnen nicht schreiben, darum stand auf dem Zeugnis mangelhaft und ungenügend. Ich war auch in Physik ziemlich schlecht, in Biologie dafür in Ordnung. Mein Notendurchschnitt war trotz der paar Schandflecken im Zweierbereich. Die Lehrer waren sich nicht schlüssig, ob ich talentiert oder dumm war, genehmigten einen Notenausgleich und sicherten mein Vorrücken in die nächste Jahrgangsstufe.

Ich nahm mir vor, in diesem frischen Schuljahr einiges anders zu machen. Ich wollte in die Schule gehen, selbstbewusst, unabhängig, aber vor allem: präsent. Wie zu Neujahr hielten die guten Vorsätze ungefähr eine Woche lang. Sie prallten, wie zu schnell um die Kurve rasende Autos, gegen die Realität und zerschellten. Professor Peter Kruse hat einmal in Anlehnung an das Ashbysche Gesetz gesagt: Wo immer wir ein hochdynamisches komplexes Problemsystem haben, brauchen wir Minimum ein so komplexes dynamisches Lösungssystem. Das heißt, wenn wir keine gegengleiche Komplexität haben, sind wir nicht lösungsfähig. Was meine Mitschüler und mich betraf: Wir waren nicht lösungsfähig. Ashby bezieht sich eigentlich auf Kybernetik, Professor Kruse überträgt die Regel auf einen Vortrag über Kreativität. Ich aber spreche von Sozialisation. Ich spreche von den Möglichkeiten unseres uneingeschränkten Denkens und den Unmöglichkeiten des eingeschränkten Denkens. Das Ineinander dessen, was unsere Denkart und unsere Standpunkte bestimmt.

Ich zerdachte alles. Andere dagegen nahmen Verhaltens- und Denkmuster so an, wie sie ihnen übergeben wurden. Von ihren Eltern, ihren Freunden. Sie blieben in ihrer Mentalität verschleißfest. Was unser Komplexitätsniveau betraf, waren wir nicht deckungsgleich. Ich vermute mittlerweile, dass einige Menschen aus meiner Vergangenheit vielseitiger und schlauer waren, als sie mir damals vorkamen, aber sie neben mir, das kam mir damals vor, als vergleiche jemand ein Uhrwerk mit einem Stein. Es gibt eben mehr Steine als Uhren auf der Welt. Ich möchte niemanden beleidigen. Vor allem nicht die Steine. Aber ich hatte unter den Steinen zu leiden. Sie schlugen immer wieder auf mich ein, und hätte ich kein festes Gehäuse besessen, ich wäre daran zerbrochen. Ich würde lügen, würde ich sagen, ohne einen Sprung davongekommen zu sein.

„Warum bist du eigentlich so komisch?“, fragte mich Thomas einmal, als ihm in der Pause langweilig war und es ihm einfiel, mit mir zu sprechen. Ich kam ihm nur deswegen komisch vor, weil ich nicht dieser starren Norm entsprach, über die er nicht hinwegkam, weil er zu schwer von Begriff war. Ich war komisch, weil ich verloren und orientierungslos in der Selbstfindungsphase und voller Unsicherheit war, die ich mir nicht anmerken lassen wollte, aber auch nicht verheimlichen konnte. Ich war komisch, weil ich keinen festen Halt im Leben besaß. Und ich war verloren, weil ich das alles wusste. Vor allem war ich komisch, weil ich mich nicht, wie er und die anderen, mit den täglichen Belanglosigkeiten des Lebens zufriedengeben konnte. Weil ich immer Sucht nach der Ferne und dem unirdischen Vorhandensein hatte. Ich konnte vielleicht nicht schreiben wie Goethe, aber ich konnte fühlen, was er schrieb. Aber auch Goethe war mir zu diesseitig. Zu weltgebunden. Ich habe ständig etwas an meiner Seele ziehen gefühlt, was ich weder sehen noch benennen konnte. Diese verborgene Energie, die mich mit dem Unergründlichen verband. Ich wandelte am Abgrund zwischen dem Hier und dem Fort, dem Schlund, dessen Anziehungskraft aus der unbekannten Tiefe zu mir hinauf wirkte.

Ich nenne es das Gefühl der sonderbaren Anziehung, die kleine Euphorie die mich am Rand eines Bahnsteiges beschleicht oder auf hohen Brücken. Der Sturz ruft nach uns, die Welt wankt für einen kurzen Augenblick – bis wir den Schritt auf die sichere Seite tun und uns gerettet haben. Die sichere Seite hatte für mich stets den Ruch eines Vexierkastens. Ein Käfig, in dem wir alle saßen, uns gegenseitig beobachteten. Experimente anstellten und vielleicht daraus lernten. Kein Ort, an dem ein Schöngeist sein Glück findet.

„Ich bin nicht komisch“, sagte ich.

„Du bist der komischste Mensch, den ich kenne. Und der mit dem beschissensten Kleidergeschmack. Machst du später noch eine dunkle Messe auf dem Friedhof?“

Die Übermacht seiner Ignoranz lähmte mich. Ich konnte nichts Schlagfertiges aufbringen. Meine Kreativität fühlte sich in diesem Umfeld bedroht und versteckte sich zusammengekrümmt an einem unzugänglichen Ort in mir, zu dem ich nicht den Schlüssel besaß.

„Nein.“

„Kannst du auch mehr antworten als einen Satz?“

„Nein.“

„Warum nicht?“, fragte er. Er wiederholte die Frage innerhalb kurzer Abstände dreimal. „Warum nicht? Warum nicht?”

„Weil ich nicht mit dir reden will.“

Er entriss mir das Buch, in das ich während des Unterrichts schrieb. Geschichten, Gedichte, Briefe an Blanka.

„Willst du jetzt mit mir reden? Ich hab dein Tagebuch. Ich kann es auch einfach lesen, dann müssen wir nicht sprechen.“

„Ich kann dir auch einfach in dein blödes Maul hauen.“

„Uh, jetzt habe ich aber Angst.“ Er wich meinen Griff nach dem Buch aus. Ich hätte ihn gern geschlagen. Zwei Hemmschwellen standen mir im Weg. Ich lehnte Gewalt ab. Und ich hatte Angst, nicht aufzuhören, sollte ich einmal beginnen, auf ihn einzudreschen, ihm versehentlich irgendetwas zu brechen und dafür Schwierigkeiten zu bekommen. Ich wollte auch selbst nichts abbekommen. Unbewusst hatte ich die seltsame Überzeugung, sofort die Nase gebrochen oder einen Zahn ausgeschlagen zu bekommen, sollte ich mich je prügeln. Ich habe es mir nie eingestanden, aber vielleicht waren meine wahren Hemmschwellen Eitelkeit und Feigheit. Ich hatte mich erhoben und umrundete meinen Tisch. Immer wieder wich der Kobold Thomas mir aus. Wenigstens bekam er keine Gelegenheit, mein Buch zu öffnen. Jedes gelesene Wort wäre vergeudet an ihn. Er verstand nichts von der bewussten Traurigkeit über die Vergänglichkeit aller Dinge. Nichts von der unnachahmlichen Freundschaft zweier Hobbits namens Frodo und Sam, über die ich ganze Abhandlungen geschrieben hatte (ich war ein traumversunkenes Mädchen). Thomas’ geistige Anteilnahme galt anderen Themen. Seine Leidenschaft hatte nichts mit dem Vanitas-Gedanken oder Tolkien zu tun, sondern damit, wuchtvoll in ein Frikadellenbrötchen zu beißen und seinem Banknachbarn dann ins Gesicht zu rülpsen.

„Gib her.“

„Schreibst du da was über deine Opferungen rein?“

„Gib her!“

Gute, spontane Antworten fielen mir in der Regel sieben Stunden später ein, zu Hause, wenn ich unter der Dusche stand, aber niemals dann, wenn ich aufgebracht war und sie brauchte. Nick trat von draußen ins fast leere Klassenzimmer und hatte bereits Sekunden später das Buch in der Hand. Er wusste erst nicht, wie ihm geschah, als er es im Reflex aufgefangen hatte, drehte es, verstand das Spiel und gab es mir zurück.

„Lass es“, warnte er mit dünnem Lächeln Thomas’ Protest entgegen. Mich würdigte er danach keines Blickes mehr. Ich blieb ihm einen Dank schuldig.

Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag ... Die Tage reihten sich aneinander, die wenigsten auch nur eine Erwähnung wert. Im Englischunterricht wurde das Zimmer abgedunkelt. Die Lehrerin zeigte uns eine Dokumentation über die Geschichte von New York, das Auf und Ab der Stadtviertel, die Broken-Windows-Theorie. Diese besagt, dass ein unordentliches, kaputtes Umfeld kriminelles Verhalten begünstigt. Kaputte Fenster und andere Anzeichen von Schäbigkeit müssen also gleich beseitigt werden. Ich hörte zum ersten Mal von dieser Theorie, es interessierte mich, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Im flimmernden Licht, das von vorne her zu meinen Platz ganz hinten drang, sah ich zwei Mitschüler zu mir kommen. Ich saß mittlerweile nicht mehr neben Monika. Sie und die anderen hatten sich eine Reihe weiter nach vorn verlegt, denn so richtig gehörte ich ihrem Gespann nicht an, deshalb wollten sie mich auch nicht neben sich haben. Ich war allein in der letzten Reihe. Jetzt nicht mehr. Nick und ein anderer Junge aus meiner Klasse, Lukas, sein bester Freund, der sich ebenfalls großer Beliebtheit bei Mädchen und Mitprimaten erfreute, befanden sich gleich links und rechts von mir. Es wunderte mich nicht, die hinteren Plätze waren beliebt. Im regulären Unterricht saßen die Jungen nur permanent vorn, weil sie es nie lange ausgehalten hatten, nicht zu stören, und umgesetzt worden waren. Ich kam mir mit einem Mal seltsam vor. Ich wollte nicht mehr atmen. Daran merkte ich, dass sie mir zu nahe saßen. Meine Lunge fühlte sich an, als drücke jemand von außen darauf. Ich fühlte einen plötzlichen Ekel vor mir selbst, den ich nur so erklären kann, dass ich mir all meiner Makel, tatsächlicher und eingebildeter, verheerend bewusst war. So war es immer, wenn jemand die Distanz zu mir auf ein unangenehmes Maß reduzierte. Ein zu penetranter Blick genügte. Ich fühlte, dass ich nicht so schlank war wie die meisten Mädchen meiner Klasse, dass meine Formen frühreif und weiblich waren. Ich glaubte außerdem, mein Gesicht forme sich seltsam unter den intensiven Beobachtungen von außen und fürchtete, komisch zu riechen. Die vielen Makel, derer ich mir sicher war, schreckten mich selbst, nicht aber Nick...