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Amartya Sen zur Einführung

Christian Neuhäuser

 

Verlag Junius Verlag, 2018

ISBN 9783960600428 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

Einleitung


Amartya Sen gehört ganz ohne Zweifel zu den wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit.1 Dies kommt nicht nur durch den Nobelpreis für Ökonomie zum Ausdruck, der ihm 1998 verliehen wurde, sondern auch in den mittlerweile über neunzig Ehrendoktorwürden, die er erhalten hat. Seine intellektuelle Bedeutung geht darauf zurück, dass Sen zugleich und vollumfänglich Ökonom und Philosoph ist. Er hat es stets verstanden, diese Forschungsgebiete für seine Zwecke auf fruchtbare Weise miteinander zu verbinden. Dies hat zu wesentlichen Beiträgen in der mathematischen Sozialwahltheorie, der Grundlagenökonomie, der Entwicklungs- und Wohlfahrtsökonomie, aber auch in der Moralphilosophie, der Gerechtigkeitstheorie und der politischen Philosophie ganz allgemein geführt, um nur seine wesentlichen Betätigungsfelder zu nennen.

Hinzu kommt, dass Sen immer wieder eine spezifisch indische Perspektive auf seine Fragestellung einnimmt. Er ist in Indien aufgewachsen, er hat dort studiert und auch als Professor gearbeitet. Später hat er die meiste Zeit seiner wissenschaftlichen Laufbahn an britischen und amerikanischen Eliteuniversitäten verbracht. Seine indische Staatsbürgerschaft hat er jedoch stets exklusiv behalten und sich in besonderem Maße für die Entwicklungen in Indien interessiert. Er nimmt dort auch intensiv an der öffentlichen Debatte teil. Dieser Verweis auf seine indische Perspektive sollte jedoch nicht missverstanden werden. Er betrifft sein Erkenntnisinteresse und nicht den Begründungszusammenhang. Die allgemeingültige Begründungsqualität seiner wissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten steht außer Zweifel. Wissenschaftliche Qualität wird derzeit gern in der Anzahl der in Journals mit dem höchsten Ranking publizierten Artikel gemessen. Das findet Sen wahrscheinlich etwas kurzsichtig, dennoch hat er über hundert von solchen Artikeln, so viele wie sonst wohl niemand, veröffentlicht.

Das Erkenntnisinteresse von Sen ist durch seinen von Indien ausgehenden und über England in die USA führenden Lebensweg geprägt. Geboren wurde Sen im Jahre 1933 im westindischen Santiniketan. Seine Familie lebte jedoch in Dhaka, damals noch indisch und heute Hauptstadt von Bangladesch. Sein Vater war an der dortigen Universität Professor für Chemie, was Sen dazu veranlasste, seine Autobiografie für den Nobelpreis mit den Worten zu beginnen: »Ich wurde auf einem Universitätscampus geboren und scheine mein ganzes Leben auf dem einen oder anderen Campus verbracht zu haben.«2 In Santiniketan ist er in die berühmte Schule von Rabindranath Thakur gegangen, was großen Einfluss auf seine im kosmopolitischen Sinne humanistische Bildung hatte, weil Tagore es in seiner Schule verstand, so genanntes »westliches und östliches« Denken als Ausdruck kultureller Diversität leicht miteinander zu verbinden.3

Nach der Schule hat Sen von 1951 bis 1953 in Kalkutta zunächst einen B.A. in Ökonomie und Mathematik erworben und sich viel mit politischen Fragen beschäftigt. Dann ging er 1953 nach Cambridge ans Trinity College, um in dem dortigen intellektuell kompetitiven Klima, wie er befand, einen B.A. in Ökonomie zu machen und im Anschluss zu promovieren. Noch während der Promotionszeit kehrte er nach Kalkutta zurück und erhielt im Alter von 23 Jahren eine Professur für Ökonomie, was einiges Aufsehen erregte. Sogar Karikaturen mit dem »Babyprofessor« waren in Umlauf, wie Sen selbst berichtet. Er entschied sich dann jedoch, ein Stipendium des Trinity Colleges anzunehmen, um sich einige Jahre lang von 1957 bis 1963 vor allem philosophischen Studien hinzugeben. Danach begann für Sen ein akademisches Nomadenleben, das ihn an ganz verschiedene Stationen in Indien und Großbritannien führen sollte, die Delhi Universität (1963–1971), die London School of Economics (1971–1977) und die Oxford Universität (1977–1988).

Zwischendurch hatte Sen einige Gastaufenthalte in den USA, unter anderem am MIT, in Stanford und Berkeley. Auch in Harvard unterrichtete er bereits von 1968 bis 1969. Aus dieser Zeit berichtet er:

»Die meiste Arbeit an ›Collective Choice and Social Welfare‹ leistete ich in Delhi, aber wesentlich zum letzten Feinschliff beigetragen hat ein Kurs in ›Sozialer Gerechtigkeit‹, den ich gemeinsam mit Kenneth Arrow und John Rawls in Harvard unterrichtet habe. Beide haben mir auf wunderbare Weise mit ihren Einschätzungen und Hinweisen geholfen. Das gemeinsame Seminar war in der Tat ein ziemlicher Erfolg, sowohl darin, viele wichtige Themen zu diskutieren, als auch darin, einen beachtenswerten Kreis an (den Kurs als ›Begutachter‹ besuchenden) Teilnehmern aus der Gruppe etablierter Ökonomen und Philosophen der Harvard-Region einzubeziehen. (Der Kurs war auch außerhalb des Campus sehr bekannt: Von einem Sitznachbarn auf einem Flug nach San Francisco wurde ich gefragt, ob ich als Lehrer in Harvard von einem ›offensichtlich interessanten‹ Seminar gehört habe, das unterrichtet wurde von ›Kenneth Arrow, John Rawls und irgend so einem unbekannten Typen‹.)«

Später, im Jahre 1987, wechselte Sen permanent an die Harvard Universität, wo er seitdem Professor für Ökonomie und Philosophie und Senior Fellow an der Harvard Society of Fellows ist. Zwischendurch war er von 1998 bis 2003 noch Master am Trinity College in Cambridge. Das alles klingt nach einer glänzenden akademischen Karriere, die ein wenig an die Superlative der Universalgenies der Neuzeit erinnert. Doch zugleich war das Leben von Sen nie frei von persönlichen Schicksalsschlägen. Bereits im Alter von 18 Jahren war er an Mundkrebs erkrankt und mit der existenziellen Angst konfrontiert, vielleicht in so jungen Jahren sterben zu müssen. Er selbst schreibt über den Krebs:

»[…] er wurde mit einer heftigen Dosis Radioaktivität in einem eher einfachen Krankenhaus in Kalkutta behandelt. Das geschah nur sieben Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und die Langzeiteffekte von Radioaktivität waren nicht gut untersucht. Die Dosis an Radioaktivität, die ich erhalten habe, mag den Krebs geheilt haben, aber es hat auch die Knochen in meinem harten Gaumen abgetötet. 1971 sah es so aus, als kehrte entweder der Krebs zurück oder ich hatte einen schweren Fall von Knochennekrose.«

Es war zum Glück kein Krebs, und die Knochennekrose konnte behandelt werden.

Doch das hat den Krebs aus seiner Lebensgeschichte nicht für lange Zeit verbannt. Seine zweite Frau, Eva Colorni, mit der er seit 1973 zusammenlebte, starb im Jahre 1985 an Krebs. Sen hatte bereits mit seiner ersten Frau, der Literaturprofessorin und Poetin Nabaneeta Dev Sen, von der er seit 1971 getrennt lebte, zwei Töchter, die bei der Mutter lebten. Mit Eva Colorni hat er ebenfalls zwei Kinder, die zum Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter zehn und acht Jahre alt waren. Sen wurde zum alleinerziehenden Vater. Er schreibt über diese Situation und seine Kinder:

»[…] ich wollte sie in ein anderes Land bringen, wo sie nicht ständig ihre Mutter vermissen. Die Lebendigkeit Amerikas sprach uns als Alternative an und ich nahm die Kinder mit, um die Aussichten an den amerikanischen Universitäten, die mir ein Angebot gemacht hatten, zu ›testen‹.

Indrani und Kabir lernten schnell verschiedene Campus kennen (Stanford, Berkeley, Yale, Princeton, Harvard, UCLA, University of Texas in Austin, zum Beispiel), auch wenn ihre Kenntnisse von Amerika jenseits der universitären Welt eher beschränkt blieben. (Sie genossen es besonders, ihren Großonkel und ihre Großtante Albert und Sarah Hirschman am Institute for Advanced Study in Princeton und dort Trustee des Instituts zu besuchen; die Besuche in Princeton waren auch für mich sehr freudige Ereignisse.) Ich schätze, ich habe den Kindern zu einem gewissen Grad meine Präferenz für die akademische Atmosphäre aufgezwungen, indem ich die Auswahl auf Universitäten beschränkt habe, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sonst hätte tun können […]

Wir haben gemeinsam Harvard ausgesucht und es hat hervorragend geklappt.«

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Hindernisse ist die wissenschaftliche Energie und Arbeit von Sen stets ungebrochen geblieben. Er hat in seiner über sechzigjährigen akademischen Karriere etwa dreißig Bücher verfasst oder herausgegeben und über 500 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, fraglos ein gewaltiges Werk. Einen guten Eindruck von der Breite seiner wissenschaftlichen Arbeit verschafft die Einteilung seiner Aufsätze in zwanzig Themenbereiche, wie Sen selbst sie vorgenommen hat:4

1. Sozialwahltheorie

2. Wohlfahrtsökonomik

3. Ökonomische Messmethoden

4. Axiomatische Entscheidungstheorie

5. Rationalität und ökonomisches Verhalten

6. Ökonomische Methodik

7. Nahrung, Hungersnöte und Hunger

8. Gender, Familie und feministische Ökonomik

9. Kapital, Wachstum und Verteilung

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