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Tagebuch eines Buchhändlers

Shaun Bythell

 

Verlag btb, 2019

ISBN 9783641246365 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

MÄRZ


Als ich in einem Antiquariat arbeitete – das Leute, die nicht darin arbeiten müssen, so gern als eine Art Paradies schildern, in dem vornehme ältere Herren unermüdlich in alten, kalbsledergebundenen Folianten schmökern –, fiel mir am meisten auf, wie selten sich echte Büchernarren dort blicken ließen.

– George Orwell: Erinnerungen an eine Buchhandlung

Echte Büchernarren sind wahrlich ausgesprochen selten, wohingegen es eine riesige Gruppe von Leuten gibt, die sich für solche halten. Und die erkennt man besonders leicht daran, dass sie sich oft als »Büchermenschen« vorstellen, sobald sie den Laden betreten, und keine Gelegenheit versäumen, zu betonen, dass »wir Bücher lieben«. Sie tragen T-Shirts oder Stofftaschen mit aufgedruckten Sprüchen, die jeden wissen lassen, wie sehr sie davon überzeugt sind, Bücher zu lieben, dabei kann man sie am sichersten dadurch identifizieren, dass sie niemals ein einziges Buch kaufen.

Heutzutage finde ich so selten die Zeit zu lesen, dass es sich, wenn es mir mal gelingt, wie die höchste Form von Genuss anfühlt – mehr als jede andere sinnliche Erfahrung. Als mit Mitte dreißig eine für mich wichtige Beziehung zerbrach, war Lesen das Einzige, wozu ich in der Lage war. Ich baute um mich einen Stapel Bücher auf, in die ich versank, um der Welt um mich herum und in mir zu entfliehen. Die Landschaften von Jonathan Meades, William Boyd, José Saramago, John Buchan, Alastair Reid, John Kennedy Toole und anderen schützten mich vor meinen eigenen Gedanken, die in den Hintergrund rückten, wo sie still arbeiten konnten, ohne mich zu belasten. Ich schuf eine physische Mauer aus Büchern, und während ich sie las, wurde die Mauer langsam immer niedriger, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

Tatsächlich sind Bücher auch das Gut, mit dem ich Handel treibe, und die riesige Anzahl von ihnen, die in der Welt existiert, stimuliert einen anderen Teil meines Gehirns. Wenn ich ein Haus betrete, um dort Bücher zu sichten, empfinde ich eine Vorfreude wie bei nichts sonst. Es fühlt sich an, als würde ich ein Netz auswerfen und nie wissen, was sich darin verfangen hat, wenn ich es wieder einziehe. Ich vermute, dass Antiquare und Antiquitätenhändler wahrscheinlich dieselbe Art von gespannter Erwartung empfinden, wenn sie sich auf die Suche nach neuen Schätzen machen. Wie Gogol es in seinen Toten Seelen beschreibt: »In meiner weit zurückliegenden und unwiederbringlich entschwundenen Jugend hat es mir immer Vergnügen gemacht, an einen mir unbekannten Ort zu kommen.«

SAMSTAG, 1. MÄRZ


Online-Bestellungen: 5

Gefundene Bücher: 5

Ein wunderbarer sonniger Tag.

Unsere Amazon-Performance ist auf »schlecht« gesunken.

Kate, die Postbotin, hat heute Morgen um zehn wie immer die Post gebracht. Unter den üblichen Rechnungen und Bettelbriefen von Wohltätigkeitsorganisationen fand sich auch ein Schreiben der Royal Mail, in dem ich informiert wurde – als Teil einer Effizienz-Kampagne –, dass sie ihre Preise anheben. Angeblich sollen wir dadurch allesamt Geld sparen, denn die Erhöhung liege deutlich unter der Inflationsrate. Ich habe ein paar Rechnungen angestellt und herausgefunden, dass mein durchschnittliches Päckchen statt 1,69 Pfund nun 1,87 Pfund kosten wird. Das ist eine Steigerung von zehn Prozent. Die Inflationsrate hingegen liegt meiner Meinung nach bei etwa zwei Prozent. Ob Amazon seine Portogebühren auch entsprechend anheben wird? Höchstwahrscheinlich nicht. Die momentan veranschlagten 2,80 Pfund Kosten für eine Buchsendung stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten, wenn man einzelne Bücher mit der Post verschickt. Bei einigen schwereren Büchern verlieren wir Geld durch das Amazon-Porto, was für uns ärgerlich ist, während wir bei den kleineren Büchern durch das Porto etwas dazuverdienen, was für die Kunden ärgerlich ist. Der einzige Gewinner ist Amazon, dort kassiert man 49 Pence von jedem Porto, das den Kunden in Rechnung gestellt wird, wodurch für uns pro Buch 2,31 Pfund übrig bleiben.

Um die Mittagszeit wollte ein Kunde wissen, ob bei uns manchmal Bücher gestohlen werden. Es ist kein Thema, über das ich viel nachgedacht habe, obwohl der labyrinthisch angelegte Laden potentiellen Dieben ein leichtes Spiel ermöglicht. Gelegentlich kann ich ein Buch nicht finden und nehme dann hier und da an, dass es geklaut worden sein könnte, doch fast immer taucht es an einem anderen Ort wieder auf. Es scheint moralisch weniger verwerflich zu sein, ein Buch zu stehlen als zum Beispiel eine Armbanduhr. Vielleicht liegt es daran, dass Bücher allgemein als belehrend gelten, wodurch die Erkenntnisse, die in einem Buch stecken und die man sich durch den Diebstahl aneignen will, das verbrecherische Tun auf einer gesellschaftlichen Ebene irgendwie aufzuwiegen scheinen. Irvine Welsh setzte sich mit dieser Idee in seinem Roman Trainspotting auseinander, in dem Renton und Spud bei einem Diebstahl in der Buchhandlung Waterstones erwischt werden. Vor Gericht gibt Spud zu, dass er die Bücher geklaut hat, um sie weiterzuverkaufen, während Renton behauptet, dass er den Band von Kierkegaard, mit dem er geschnappt wurde, an sich genommen hat, um ihn zu lesen. Als ihn der skeptische Richter über sein Wissen hinsichtlich des existenzialistischen Philosophen ausfragen will, erwidert Renton:

Ich interessiere mich für seine Vorstellung über Subjektivität und Wahrheit, vor allen Dingen für seine Gedanken über die Entscheidungsfreiheit; die Vorstellung, dass eine freie Entscheidung aus Zweifel und Unsicherheit erwächst, ohne jeden Bezug zur Erfahrung oder den Rat anderer. Man könnte mit einiger Berechtigung sagen, dass dies vorrangig eine bourgeoise, existenzielle Philosophie ist, die darauf abzielt, die kollektive, gesellschaftliche Weisheit zu unterlaufen. Gleichzeitig handelt es sich dabei allerdings auch um eine befreiende Philosophie, denn wenn die gesellschaftliche Weisheit negiert wird, wird auch die Basis der Sozialkontrolle des Individuums geschwächt und … aber ich sabble schon zu viel. Ich breche ab. Die Typen hier hassen Klugscheißer. Kann man sich ganz leicht ne höhere Geldstrafe oder, Scheiße, ne längere Haftstrafe zusammenquatschen. Ehrerbietung, Renton, Ehrerbietung.

Der Richter spricht Renton daraufhin frei, während Spud verurteilt wird.

Wie dem auch sei – ich jedenfalls verabscheue Überwachungskameras und verliere lieber hier und da ein Buch, anstatt diese Art von störender Dauerkontrolle im Laden zu haben. Hier ist nicht 1984.

Es stinkt wieder nach Katzenurin.

Einnahmen insgesamt: £236

14 Kunden

MONTAG, 3. MÄRZ


Online-Bestellungen: 9

Gefundene Bücher: 8

Ein weiterer herrlicher Tag, der bereits recht früh von einem Kunden ruiniert wurde, als er einen Stapel Bücher umwarf und diesen dann einfach liegen ließ. Kurz danach kaufte ein pfeifender Kunde mit einem Pferdeschwanz und einem Hut, der meiner Meinung nach nur von einem Clown stammen konnte, eine Ausgabe von Paulo Coelhos Der Alchimist. Ich vermute, dass er das absichtlich tat, um meinen Glauben an die Menschheit zu untergraben und meine Laune noch schlechter werden zu lassen.

Ein Buch mit dem Titel Orient-Express. A Personal Journey, das wir über Amazon verkauft und bereits vor drei Wochen verschickt haben, kam heute mit folgender Mitteilung des Kunden zurück: »Leider nicht wie erwartet. Brauche eine Version mit mehr Bildern. Bitte austauschen oder Rückerstattung.« Ich nehme an, dass der Kunde uns wie eine Internetbibliothek benutzt und das Buch vor der Rücksendung erst einmal gelesen hat.

Eliot traf um 17 Uhr für einen Besuch ein, dessen Dauer noch ungewiss ist. Ich bin mir recht sicher, dass er im Laufe der Woche eine Vorstandssitzung als Festivalleiter hat, von der er mir allerdings noch nichts erzählt hat.

Einnahmen insgesamt: £90

4 Kunden

DIENSTAG, 4. MÄRZ


Online-Bestellungen: 6

Gefundene Bücher: 6

Wir haben im Laden einen Stammkunden, der sich William oder Agnes nennt, je nachdem in welcher Laune er oder sie ist, wenn er oder sie aufwacht. Meistens taucht er/sie mit einer Tasche voller Bücher auf, um sie zu verkaufen. William oder Agnes ist ein achtzigjähriger Transgender aus Irvine, der einen Reliant Robin fährt. Ich bin mir nicht sicher, von welchem Geschlecht in welches er/sie gewechselt hat, weshalb ich diese Er/Sie-Formulierung verwende. Er/sie trug diesmal riesige Kreolen und war ziemlich aufgeregt wegen der Bücher, die er/sie mitgebracht hatte, auch wenn sie wie immer völlig wertlos waren. Ich habe ihm/ihr vier Pfund dafür gegeben. Er/sie beschwerte sich noch eine Weile über die Komplexität des Sozialleistungssystems, um dann mit dem Satz zu enden: »Ich bin als Mann-Schrägstrich-Frau schließlich sehr beschäftigt.«

Seitdem Wigtown seinen Status als Bücherdorf hat, zieht es immer mehr Leute an, die nicht nur Bücher kaufen, sondern auch welche verkaufen wollen. Die Idee für ein solches Bücherdorf hatte in den siebziger Jahren als Erster Richard Booth. Er überredete verschiedene Buchhändler, in das Waliser Städtchen Hay-on-Wye zu ziehen, um seine Theorie zu überprüfen, dass ein Ort voller Buchläden genügend Besucher anziehen würde, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bekommen. Es funktionierte, und das Konzept schaffte es irgendwann auch bis nach Schottland. Wigtown wurde 1998 zum Bücherdorf bzw. -städtchen. Ursprünglich begegneten viele Ortsansässige dieser Veränderung mit großem Misstrauen, doch inzwischen hat sich das Ganze sehr positiv ausgewirkt, und Wigtown...