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Achtsam morden - Roman

Karsten Dusse

 

Verlag Heyne, 2019

ISBN 9783641238971 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

EINS VORWEG: Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Ganz im Gegenteil. Ich habe mich zum Beispiel in meinem ganzen Leben noch nie geprügelt. Und den ersten Menschen habe ich auch erst mit zweiundvierzig Jahren umgebracht. Was, wenn ich mich so in meinem heutigen beruflichen Umfeld umsehe, eher spät ist. Gut, in der Woche darauf hatte ich dann schon fast das halbe Dutzend voll.

Das klingt jetzt vielleicht erst einmal unschön. Aber alles, was ich getan habe, habe ich in bester Absicht getan. Es war das logische Ergebnis einer achtsamen Lebensumstellung. Um meinen Beruf und mein Familienleben in Einklang zu bringen.

Meine erste Begegnung mit der Achtsamkeit war purer Stress. Meine Frau, Katharina, wollte mich zur Entspannung zwingen. Um an meiner geringen Belastbarkeit, meiner fehlenden Verlässlichkeit, meiner verdrehten Wertewelt zu arbeiten. Um unserer Ehe noch eine Chance zu geben.

Sie wollte den ausgeglichenen, aufstrebenden jungen Mann voller Ideale zurückhaben, in den sie sich vor zehn Jahren verliebt hatte. Hätte ich meiner Frau zu irgendeinem Zeitpunkt gesagt, ich hätte auch gerne ihren Körper zurück, in den ich mich vor zehn Jahren verliebt hatte, dann wäre unsere Ehe bereits an dieser Stelle beendet gewesen. Völlig zu Recht. Am Körper einer Frau darf die Zeit selbstverständlich Spuren hinterlassen. Aber an der Seele eines Mannes offensichtlich nicht. Und deshalb ging nicht meine Frau mit ihrem Körper zum Schönheitschirurgen, sondern ich mit meiner Seele zum Achtsamkeitstraining.

Zu dem Zeitpunkt war Achtsamkeit für mich nur ein weiterer Aufguss des immer gleichen Esoterik-Tees, der den Leuten in jedem Jahrzehnt wieder aufgewärmt und unter einem anderen Begriff als neu verkauft wird. Achtsamkeit war autogenes Training ohne Hinlegen. Yoga ohne Verbiegen. Meditation ohne Schneidersitz. Oder, wie es in dem Artikel des Manager-Magazins hieß, den mir meine Frau eines Tages demonstrativ auf den Frühstückstisch legte: »Achtsamkeit ist die wertungsfreie und liebevolle Wahrnehmung des Augenblicks.« Eine Definition, die auf mich genauso konturlos wirkte wie die Kieselsteine, die bis zur völligen Belanglosigkeit entspannte Menschen gerne am Strand sinnfrei zu Türmen stapeln.

Ob ich bei dieser Achtsamkeitssache überhaupt mitgemacht hätte, wenn es nur um uns beide, meine Frau und mich, gegangen wäre? Ich weiß es nicht. Aber wir haben eine kleine Tochter, Emily, und für die hätte ich mich auch von Sodom nach Gomorrha schicken lassen, wenn es in einer dieser Städte eine Chance für uns als Familie gegeben hätte.

Deshalb war ich an einem Donnerstagabend im Januar mit meinem neuen Achtsamkeitscoach verabredet. Als ich an der schweren Holztür seiner »Praxis« klingelte, um unter anderem über mein Zeitmanagement zu reden, war ich bereits fünfundzwanzig Minuten zu spät.

Der Coach hatte seine Räumlichkeiten im Erdgeschoss eines aufwendig renovierten Altbaus in einer nobleren Gegend unserer Stadt. Seinen Flyer hatte ich im Wellnessbereich eines Fünf-Sterne-Hotels gesehen. Seine Preisliste kannte ich aus dem Internet. Jemand, der anderen Menschen einen Batzen Kohle aus der Tasche zieht, um ihnen beizubringen, gelassener zu sein, würde wohl dazu in der Lage sein, bezahlte Verspätungen locker wegzumeditieren. Dachte ich. Doch auf mein Klingeln hin geschah erst einmal gar nichts.

Bis zu dem Zeitpunkt, wo sich der Entspannungsguru weigerte, die Tür aufzumachen, war ich eigentlich ganz gelassen gewesen, denn meine Verspätung war völlig verzeihlich. Ich war Rechtsanwalt – Strafrecht – und hatte noch am späten Nachmittag einen Haftprüfungstermin reinbekommen. Ein Mitarbeiter meines Hauptmandanten Dragan Sergowicz war nachmittags in einem Juweliergeschäft angetroffen worden, als er sich gerade einen Verlobungsring aussuchen wollte. Statt Geld hatte er allerdings nur eine geladene Pistole dabei. Als ihm die vorgelegten Ringe nicht gefielen, schlug er dem Juwelier die Waffe gegen die Schläfe. Da der Juwelier zu diesem Zeitpunkt bereits den stillen Alarm ausgelöst hatte, fand die Polizei bei ihrem Eintreffen einen am Boden liegenden Juwelier und einen Mann vor, der beim Anblick zweier auf ihn gerichteter Maschinenpistolen keinerlei Widerstand leistete. Sie nahmen ihn mit aufs Präsidium und verständigten sowohl mich als auch den Haftrichter.

Mit meinen früheren Idealen als Jurastudent hätte ich es als völlig gerecht empfunden, wenn ein solcher Vollassi bis zur Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft geblieben und anschließend für mehrere Jahre im Bau verschwunden wäre.

Mit meiner jahrelangen Erfahrung als Strafverteidiger für Vollassis hatte ich den Idioten nach zwei Stunden wieder auf freiem Fuß.

Ich war also nicht einfach zu spät zum Coaching gekommen. Ich war erfolgreich zu spät gekommen. Und wenn dieser Entspannungsfuzzi den Rest der Stunde nicht mit Bockigsein verplempern wollte, könnte ich ihm auch erzählen, warum ich so erfolgreich war.

Der junge Mann mit dem Hang zu bewaffneten Einkäufen war fünfundzwanzig Jahre alt und wohnte noch bei seinen Eltern. Er war bislang nicht wegen Gewaltdelikten vorbestraft – nur wegen Drogendelikten. Es bestand weder Flucht- noch Wiederholungs- noch Verdunklungsgefahr. Und er teilte die gesellschaftlichen Wertvorstellungen von Ehe und Familie. Denn deshalb war er ja im Juweliergeschäft gewesen: Durch das Entwenden eines Ringes wollte er seiner Bereitschaft Ausdruck verleihen, eine familiäre Bindung einzugehen.

Okay, für den Juwelier im Krankenhaus und die Polizisten auf Streife war es sicherlich schwer zu verstehen, dass ein Mensch, der ohne jeden Zweifel ein Gewalttäter war, heute Abend schon wieder im Kreise seiner Freunde den Dicken geben und den Staat verhöhnen konnte. Selbst meine Frau fand meine Arbeit diesbezüglich gelegentlich recht fragwürdig. Aber es war nicht meine Aufgabe, anderen Menschen unser Rechtssystem zu erklären. Es war mein Job, dieses System nach allen Regeln der Kunst auszunutzen. Ich verdiente mein Geld, indem ich schlechten Menschen Gutes tat. Punkt. Und das beherrschte ich perfekt. Ich war ein hervorragender Strafverteidiger. Angestellt in einer der renommiertesten Wirtschaftskanzleien der Stadt. Rund um die Uhr einsatzbereit.

Das war Stress, klar. Und das war nicht immer mit dem Familienleben in Einklang zu bringen. Deshalb stand ich ja jetzt auch vor der Tür dieses Achtsamkeits-Typen. Der mich nicht reinließ … Mein Nacken fing an, sich zu verspannen.

Aber für den Stress bekam ich ja auch jede Menge: Dienstwagen. Maßanzüge. Teure Uhren. Ich hatte vorher nie viel auf Statussymbole gegeben. Aber wenn Sie als Anwalt das organisierte Verbrechen vertreten, müssen Sie sich Statussymbole zulegen. Allein schon, weil sie als Anwalt selbst das Statussymbol ihres Mandanten sind.

Ich bekam ein großes Büro, einen Designerschreibtisch und ein fünfstelliges Monatsgehalt für meine Familie: meine traumhafte Tochter, meine tolle Frau und mich.

Gut – ein hoher vierstelliger Betrag davon ging schon mal für die Raten für das Haus drauf. Ein Haus, in dem ein traumhaftes Kind wohnte, das ich auf Grund meiner Arbeitszeiten nie sah. Bei einer liebenden Mutter, mit der ich mich, wenn ich sie sah, nur noch stritt. Ich, weil ich gereizt war vom Job, von dem ich meiner Frau nichts erzählen konnte, weil sie ihn hasste – und sie, weil sie den ganzen Tag allein auf unsere Kleine aufpassen musste und dafür ihren seriösen Job als Abteilungsleiterin bei einer Versicherung aufgegeben hatte. Wenn die Liebe zwischen uns beiden eine zarte Pflanze war, so hatten wir sie beim Umtopfen in den großen Familientopf offensichtlich zu wenig gepflegt. Kurz: Es ging uns wie so vielen erfolgreichen Jungfamilien – scheiße.

Um Job und Familie unter einen Hut zu bringen, und weil ich von uns beiden der einzige war, der über beides verfügte, hatte meine Frau mich dazu auserwählt, an mir zu arbeiten. Sie schickte mich zum Achtsamkeitscoach. Der nicht aufmachte. Idiot. Meine Nackenverspannungen begannen, sich bei jeder Kopfdrehung in leisen Knack-Geräuschen bemerkbar zu machen.

Ich klingelte erneut an der schweren Holztür. Sie schien frisch lasiert zu sein. Jedenfalls roch sie so.

Endlich wurde sie geöffnet. Ein Mann stand da, als hätte er die ganze Zeit lang hinter der Tür gelauert und auf das zweite Klingeln gewartet. Er war ein paar Jahre älter als ich, so Anfang fünfzig.

»Wir waren um zwanzig Uhr verabredet«, sagte er schlicht, bevor er sich umwandte und ohne ein weiteres Wort durch den kahlen Flur davonging. Ich folgte ihm in ein indirekt beleuchtetes, spärlich möbliertes Büro.

Der Mann wirkte asketisch. Kein Gramm Fett am sehnigen Körper. Der Typ von Mensch, bei dem eine Sahnetorte selbst dann keine Wesensveränderung bewirken könnte, wenn man sie ihm subkutan spritzen würde. Sein Äußeres wirkte gepflegt. Er trug eine ausgewaschene Jeans, eine grobgestrickte Wolljacke über einem schlichten, weißen Baumwollhemd und Pantoffeln an seinen ansonsten nackten Füßen. Keine Uhr. Kein Schmuck.

Der Kontrast hätte nicht größer sein können. Ich trug meinen dunkelblauen Maßanzug, weißes Hemd mit Manschettenknöpfen, blau-silberne Krawatte mit diamantbesetzter Krawattennadel, Breitling-Uhr, Ehering, schwarze Socken, Budapester Schuhe. Die Anzahl der Kleidungsstücke, die ich mehr anhatte als der Typ, überstieg die Anzahl der Möbelstücke in seinem Besprechungsraum. Zwei Sessel, ein Tisch. Ein Regal mit Büchern und ein Beistelltisch mit Getränken.

»Ja, sorry. War viel Verkehr.« Schon auf Grund seiner Nicht-Begrüßung hätte ich nicht übel Lust gehabt, sofort wieder zu gehen. Beruflich bedingte Verspätungen vorgeworfen zu bekommen konnte ich auch kostenlos...