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Der gute Sohn - Thriller

Jeong Yu-jeong

 

Verlag Unionsverlag, 2019

ISBN 9783293309784 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Wer bin ich?


Hae-jin, bist du das?«

Es war an einem frühen Morgen im Februar vor zehn Jahren. Mutter fuhr mich gerade zum Training, als sie im Auto einen Anruf von Hae-jin bekam.

»Ja, ich bin es.«

Sie schaltete die Freisprecheinrichtung ein. Ich hörte seine weinende und zitternde Stimme. Etwas musste passiert sein. Mutter schien es erraten zu haben, denn sie fragte nicht, was los sei, sondern wo er gerade war.

»Im Krankenhaus. Opa ist gerade gestorben.«

Er erklärte, der diensthabende Arzt habe nach einem volljährigen Angehörigen gefragt, der sich um die Formalitäten nach dem Tod kümmern könnte. Die einzige Erwachsene, die Hae-jin einfiel, war meine Mutter. Sie wollte offensichtlich etwas sagen, blickte dann aber stumm auf ihr Handy. Mehrmals öffnete und schloss sie ihren Mund. Ich hatte den Eindruck, dass sie nach passenden Worten suchte, was sonst kaum vorkam. Bevor sie den Mund aufmachte, hatte sie normalerweise bereits genau überlegt, was sie sagen und nicht sagen wollte. Ungeduldig blickte ich zu ihr und fragte mich, warum sie nicht antwortete. Sie hätte doch einfach sagen können, dass wir kommen.

Los, schnell, wir fahren hin, bedeutete ich ihr lautlos. Sie sah mich kurz an, als ob sie fragen wollte, ob es mir nichts ausmachte, wenn ich das Training versäumte. Ich nickte, dann schaltete sie die Warnblinkanlage ein und wendete quer über zwei Fahrbahnen. Zu Hae-jin sagte sie: »Wir sind in fünf Minuten da.«

Zugedeckt mit einem weißen Laken, lag Hae-jins Großvater auf einer Rollbahre. Hae-jin saß daneben auf dem Boden und sah auf seine Fußspitzen. Er wirkte, als hätte ihn seine Seele verlassen. Er bemerkte uns nicht einmal, als wir direkt vor ihm standen. Erst als Mutter seinen Namen rief, straffte er verschreckt seine Schultern und blickte vage in unsere Richtung. Ich fragte mich besorgt, ob er uns überhaupt sah. Er begrüßte meine Mutter nicht etwa mit einem Dank fürs Kommen, sondern sagte nur: »Tut mir leid.«

Wortlos breitete sie ihre Arme aus, drückte ihn an sich und streichelte sanft seinen Rücken. Ich stand etwas abseits und beobachtete sie gedankenverloren. Sie runzelte die Stirn, und tiefe Furchen bildeten sich zwischen den Augenbrauen. Nase und Wangen röteten sich, und sie schluckte mehrmals krampfhaft. Ihr Gesichtsausdruck war undurchschaubar und fremd. Ob sie so traurig war wie Hae-jin, sie seine Gefühle nachvollziehen konnte, sie ihm bedeuten wollte, dass sie ihm alles abnehmen wollte und er sich keine Sorgen zu machen brauchte? Ob alles zutraf oder nichts von alldem? Ich wusste es nicht. Hae-jin aber schien die Bedeutung des Streichelns zu verstehen. Ein Wimmern entwich seinen zusammengepressten Lippen und wurde langsam zu einem Schluchzen, während er zögernd seine Arme hob und Mutter umarmte. Sie war etwa einen Kopf kleiner, aber er legte sein Gesicht auf ihre Schulter und weinte sich aus.

Ich konnte seine Traurigkeit nachvollziehen, und doch spürte ich absolut nichts. Hae-jin schluchzte, auch Mutter weinte. Selbst die Krankenschwester hatte rote Augen. Nur ich stand verloren da und sah verwirrt zu. So konnte ich ihm nicht ein einziges tröstendes Wort sagen.

Drei Tage nach der Beerdigung, dem Tag, an dem sich alle Angehörigen traditionell am Grab versammeln, sprach Mutter über ihre Gründe zu Hae-jins Adoption. Sie fragte mich: »Was hältst du davon?«

Er war ein Waise ohne einen einzigen Angehörigen und mochte nicht ins Heim. Wir Jungs verstanden uns, und zufällig hatten wir ein freies Zimmer. So wie ich meine Mutter kannte, war ihre Frage, was ich davon hielt, nicht als Frage gemeint. Sie bedeutete vielmehr, dass ich doch nichts dagegen einzuwenden hatte. Nicht, dass dies ihre Meinung verändert hätte, aber ich hatte auch tatsächlich nichts dagegen. Er war mein einziger Freund, und von allen Menschen auf der Welt mochte ich ihn am meisten. Außerdem konnte Mutter es sich leisten, zwei Jungs großzuziehen.

Zwei Tage später teilte sie es mir auf dem Weg zum Morgentraining mit. »Heute zieht Hae-jin zu uns.«

Damals wohnten wir in einem fünfstöckigen Geschäftshaus in Yonghyon-dong, einem Ortsteil von Incheon. Das Gebäude gehörte meiner Mutter, und unsere Wohnung belegte die ganze oberste Etage. Das Zimmer neben der Wohnungstür war für meinen verstorbenen Bruder Yu-min eingerichtet. Mutter hatte alle seine Möbel, Bücher und sogar die Vorhänge aus der alten Wohnung in Bangbae-dong mitgenommen und genau gleich platziert. Immer wenn ich daran vorbeiging, sagte ich mir, das sei das Zimmer meines großen Bruders.

Vielleicht war ich deshalb so schockiert, als ich nach dem Training nach Hause kam und all seine Spuren verschwunden waren. Stattdessen standen dort fremde Sachen, die für Hae-jin zu sein schienen: Das Fenster war mit Gardinen halb verdunkelt, es gab einen großen Schreibtisch aus Holz, ein Bücherregal und einen Einbauschrank, das Bett war mit frischen weißen Laken bezogen, ein Heimkino war eingerichtet, und an der Wand hing ein Poster von City of God.

Auch wenn ich als Fünfzehnjähriger nicht viel von Inneneinrichtung verstand, so hatte ich trotzdem den Eindruck, dass alles genau durchdacht war. Die Farben, die Möbel und die Anordnung, alles war anders als früher, aber der Stil war mir nicht fremd. Bis auf das Filmposter entsprach alles Mutters Geschmack. Wenn mein Bruder noch leben würde, hätte sie ihm sicher so ein Zimmer eingerichtet.

Mich packte die Neugier. Seit wann hatte sie dieses Zimmer so geplant? Schon beim ersten Treffen? Als wir zusammen im NADA-Kino waren? Oder erst vor einer Woche im Krankenhaus? Über ihre wahren Absichten war ich mir nie sicher. Damals nicht und auch später nicht. Aber ich war noch nie so verwirrt deswegen wie an diesem Tag. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie den Wechsel so schnell vollziehen würde, und auch nicht damit, dass schon zwei Tage, nachdem sie das Thema Adoption angesprochen hatte, alles fertig war. Bis zu dem Tag war ich davon überzeugt, dass mein Bruder Yu-min für immer der Lieblingssohn meiner Mutter bleiben würde. Aber dieser Platz in Mutters Herz schien bereits auf Hae-jin übergegangen zu sein. Hae-jin musste nicht einmal seinen Familiennamen ändern. Weil er genauso wie Mutter Nachfahre der Kims aus Kimhae war, konnte er mit gleichem Namen erster Sohn meiner Mutter werden. Erst da wurde mir bewusst, dass von uns dreien nur ich einen anderen Nachnamen hatte.

»Yu-jin!« Mutter rief vom Eingang nach mir. Sie hatte Hae-jin mitgebracht.

»Yu-jin«, rief auch Hae-jin, als ob er mir damit sagen wollte, dass er erst eintreten könne, wenn ich ihm antworte. Ich trat aus dem Zimmer und sah ihn wie vermutet vor der Wohnungstür. Er trug noch seine Straßenschuhe, neben ihm standen eine Tasche und ein Koffer.

»Bin da«, sagte Hae-jin sichtlich befangen und schüchtern. Wie nach einem Geständnis wurden seine Wangen rot. Mutter stand hinter ihm und beobachtete mich. Ihr Gesicht wirkte etwas steif, als ob sie fragen wollte, warum ich in das unbewohnte Zimmer gegangen war.

Dessen ungeachtet, musste ich etwas loswerden und pflanzte mich dazu vor ihm auf. »Ich nenne dich trotzdem nicht großer Bruder.«

Egal, wie Mutter darüber dachte, es gab nur einen Menschen, den ich großen Bruder nennen konnte, und das war Yu-min. Bereitwillig akzeptierte Hae-jin das. Immer noch schüchtern, machte er einen ersten Schritt ins Wohnzimmer. Damit wurden wir drei zu einer Familie. Das Familienfoto, das noch heute im Wohnzimmer hängt, machten wir zur Feier des Tages in einem Fotostudio in der Nähe.

»Sind Ihre Söhne vielleicht Zwillinge? Sie gleichen sich ja fast wie ein Ei dem anderen.«

Diese Worte des Fotografen habe ich noch immer in den Ohren. In den letzten zehn Jahren haben wir wie echte Zwillinge gelebt. Wie alle anderen Brüder der Welt hatten wir ab und zu kleine Konflikte, aber im Wesentlichen war es friedlich. Bis gestern.

Kann es auch weiterhin so sein? Auf der Dachterrasse liegt meine ermordete Mutter, ich bin der Mörder und habe mich blutverschmiert in ihrem Zimmer versteckt, während Hae-jin die nach Blut stinkende Wohnung betritt. Ich rufe mir Mutters Umarmung von Hae-jin in Erinnerung, als er vor zehn Jahren ein Waise geworden war. Die in mir aufsteigende Kälte beginne ich erst jetzt zu verstehen. Das muss Einsamkeit sein. Sie unterscheidet sich aber von der damaligen, da die Mutter, die sagen könnte, dass sie mich versteht, nun tot ist.

»Hae-jin!«, rufe ich. Er rennt offenbar die Treppe zur oberen Etage hoch und macht dabei ein Geräusch wie ein Maschinengewehr. »Ich bin in Mutters Zimmer!« War das etwa zu leise? Immer noch höre ich seine Schritte die Treppe hochgehen. »Hae-jin!«, rufe ich also lauter. Fast so laut, wie man »Feuer!« ruft. Und ich brülle mit durchdringender Stimme: »Bin in Mutters Zimmer!« Mittlerweile weiß wohl die ganze Stadt, wo ich mich befinde.

Hae-jins Schritte verstummen: »Was? Wo bist du?« Er klingt desorientiert.

Um ihn herunterzulotsen, rufe ich noch lauter: »In Mutters Zimmer, sagte ich doch!«

»Und Mutter? Ist sie dort?«

Mist! Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich habe völlig vergessen, dass ich darauf eine Antwort haben muss. Denn dass Hae-jin gewöhnlich als Erstes nach Mutter sucht, wenn er nach Hause kommt, weiß ich doch. »Ich bin allein.«

Keine Antwort. Keine Schritte....