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Lesehunger - Ein Bücher-Menu in 12 Gängen

Hanns-Josef Ortheil

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2009

ISBN 9783641025786 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

ERSTER GANG
Das Tagebuch der Lektüren
Stuttgart. Ein großes, hoch gelegenes Gartengelände mit Blick auf die Stadt, frühmorgens, ein sonniger Tag. Zwei bequeme Stühle und ein kleiner, kreisrunder Tisch auf einer Terrasse, Kaffee, Tafelwasser, Bücher, Papier, einige Stifte: Der Versuch eines entspannten Beginns.
 
Die Besucherin: Was für ein schönes Gelände! Seit wann leben Sie hier?
 
Ortheil: Seit siebenundzwanzig Jahren, ja, vor genau siebenundzwanzig Jahren habe ich dieses Gelände während eines Spaziergangs entdeckt. Damals war ich gerade zusammen mit meiner Frau nach Stuttgart gezogen, sie übernahm hier eine Stelle in einem Verlag. Ich kannte Stuttgart zu dieser Zeit noch kaum, deshalb war ich damals ununterbrochen zu Fuß unterwegs, um die Stadt und ihre Umgebung genauer kennenzulernen.
Und dann kam ich irgendwann während eines Spaziergangs an diesem Gelände vorbei und schaute herunter auf die Dächer der Stadt, es war ein Moment, den ich nie vergessen werde, ein Moment, wie es ihn sonst nur gibt, wenn man sich plötzlich, auf den ersten Blick, in jemanden verliebt. Ich stand still und starrte ins Tal. Ohne es zu ahnen, war ich auf ein Urbild meiner Vorstellungen von Landschaft gestoßen, auf älteste Zeichen, ältestes Bildinventar.
Was meinen Sie mit »Urbild«, meinen Sie, dass Sie dieses Bild bereits kannten, dass es Ihnen vertraut war?
 
Ja, es war etwas sehr Vertrautes in diesem Bild, und dieses Vertraute hatte mit meiner Kindheit zu tun. Die Räume, in denen wir als Kinder aufwachsen, prägen unsere Wahrnehmung ja besonders stark, die Innenräume der Wohnungen und Behausungen sowieso, aber natürlich auch die Außenräume, die Räume also, in denen wir als Kinder immer wieder gespielt und uns aufgehalten haben. Man sollte Biographien einmal von solchen Raumerfahrungen her entwerfen und Menschen präzise daraufhin befragen, wie ihre Kindheitsräume aussahen, das würde unsere beinahe ausschließliche Fixierung auf Zeit-Erfahrungen erschüttern. In den Kindheitsräumen haben wir oft viele Jahre verbracht, Tag für Tag, wir waren an ihre Atmosphären und Strukturen ebenso stark gebunden wie an bestimmte Menschen, mit denen zusammen wir groß wurden, das sollte uns doch zu denken geben.
In meinem Fall war einer dieser prägenden Kindheitsräume ein großes, ebenfalls auf einer Anhöhe gelegenes Waldgrundstück im Westerwald, auf dessen Erhebung sich meine Eltern in den fünfziger Jahren ein kleines Haus gebaut hatten. In diesem Haus und in seiner unmittelbaren Umgebung habe ich viel Zeit meiner Kindheit verbracht, zum einen bin ich in der Großstadt aufgewachsen, zum anderen aber auf dem Land, auf diesem Westerwald-Grundstück mit dem Blick in die Weite der Landschaft.
 
Dieses Westerwald-Grundstück war ein Hanggrundstück, wie dieses hier in Stuttgart?
 
Ja, sonderbar, nicht wahr? Das Westerwald-Grundstück war und ist ein Hanggrundstück mit vielen kleinen Plateaus und Aussichtsterrassen, von denen aus man einen immer neuen, anderen Blick auf die Landschaft hat. Die Plateaus und Terrassen waren eigens für solche Ausblicke angelegt worden, auf einigen standen kleinere Behausungen wie etwa ein Pavillon oder eine Blockhütte. Das führte dazu, dass wir uns nicht nur im Haus aufhielten, sondern zu den verschiedensten Gelegenheiten auch außerhalb, entweder im Freien oder in diesen Mini-Behausungen, die übrigens besonders auf ein Kind eine enorme Anziehungskraft ausübten.
Die Mini-Behausungen erlaubten eine kurzfristige Entfernung von den Eltern, es waren Räume, die das Kind für sich allein hatte, die es also selbst einrichten und oft allein benutzen durfte. Diese besonders intimen Räume, in denen ich nicht gestört wurde und in denen ich in Ruhe gelassen wurde, waren zunächst Räume zum Spielen und wurden mit der Zeit dann zu Lese- und fast gleichzeitig auch zu Schreibräumen.
 
Mini-Behausungen nennen Sie diese Räume, das heißt also, es waren sehr kleine, aber doch separate, geschlossene Räume?
 
Ja, es waren sehr kleine, meist geschlossene Räume, die es zum Teil heute noch gibt und deren frühere Einrichtung ich noch genau in Erinnerung habe. Aus dieser Zeit habe ich eine besondere Anhänglichkeit an kleine Räume behalten, ich fühle mich in solchen Räumen oft wohler als in weitläufigen Wohnräumen, wie sie in der Zeit der Bungalow-Bauten überall entstanden. Da wurden dann ja plötzlich große Zimmer mit kühlen Inneneinrichtungen modern, und es gab riesige Glasfenster, hier und da ein Möbel und dazwischen weite Wege von einem Gegenstand zum andern.
In den kleinen Räumen aber konnte man das, was ich die »Lesekapsel« nennen möchte, viel besser erfinden. Die »Lesekapsel« – das ist der eigentliche Leseraum, in den sich der Lesende zurückzieht: Der Körper nimmt eine Lesehaltung oder eine Lesestellung ein, das Buch wird mit der Hand gehalten oder auf eine Unterlage gelegt, und dann gehört meist noch ein bestimmtes Möbel dazu, das den Rückzug unterstreicht und ihm eine gewisse Bequemlichkeit verleiht. Vor Jahren habe ich in einer Ausstellung über Die Kunst des Lesens viele Abbildungen solcher Lesemöbel gesehen. Die mittelalterlichen zeigen zum Beispiel immer wieder den heiligen Hieronymus im Gehäus, wie er sich in irgendeinen Winkel eines kleinen Raums auf einen einfachen Sitz zurückgezogen hat. Das Buch, das er studiert, liegt oft auf einem Lesepult, und meist liegt daneben ein Stift mit Feder, für das rasche, unmittelbare Notieren und Exzerpieren.
Das »Gehäus« ist die Urform dessen, was ich die »Lesekapsel« nenne, in späteren Jahrhunderten wird sie dann immer bequemer, bis hin zu besonderen Lese- und Ruhesesseln mit einer Fußstütze und einem an der Seite angebrachten, schwenkbaren Lesepult. Das Lesen wurde mit der Zeit also entspannter und nahm immer mehr Atmosphären auf, es wurde zu einem »Schweben im Raum« …
 
Das heißt also, Sie verbinden Lesen und Schreiben mit bestimmten Räumen, das Lesen und das Schreiben werden besonders durch Raumerfahrungen bestimmt und geprägt …
 
Durch Raumerfahrungen, die ja immer auch atmosphärische Erfahrungen sind. Instinktiv habe ich als Kind wohl auf solche Atmosphären reagiert, denn ich habe bestimmte Bücher nur in bestimmten Räumen gelesen. Das Lesen war für mich also nicht immer ein und dieselbe Tätigkeit, sondern hatte viele, sehr unterschiedliche Formen. Damals, in der Kindheit, war mir das natürlich noch nicht bewusst, heute aber weiß ich aus der Erfahrung von vielen Jahrzehnten, dass ich mein Leben lang solchen Instinkten gefolgt bin.
Ich habe ein sehr eigentümliches, nuanciertes Lese-Verhalten entwickelt, das mit den Räumen und Atmosphären zu tun hat, in denen es sich jeweils ereignet. Hier, auf dem Stuttgarter Grundstück, sind daher auch eigene, sehr unterschiedliche Räume für das Lesen und Schreiben entstanden, ich könnte sie Ihnen nacheinander zeigen, und wir könnten anhand dieser sehr unterschiedlichen Räume über die unterschiedlichen Formen des Lesens sprechen.
 
Das hört sich verlockend an, ja, das sollten wir unbedingt tun. Aber erzählen Sie mir vorher doch, wie Sie dieses Grundstück in Besitz genommen haben. Sie waren zunächst ja nicht mehr als ein Spaziergänger, der dieses Grundstück von einem Spazierweg aus betrachtete …
 
Ich möchte es etwas anders beschreiben: Ich war ein junger Schriftsteller von etwas mehr als dreißig Jahren, der schon einige Bücher veröffentlicht hatte und wusste, dass er in seinem Leben nichts anderes mehr tun würde als schreiben. Dieser junge Schriftsteller suchte nach »seinem Ort«, »seinem Platz«, und das heißt: Er suchte nach dem Ort und dem Platz für ein dauerhaftes Schreiben und Lesen.
Ich glaube, dass sich eine solche Suche im Falle von Schriftstellerinnen und Schriftstellern anders vollzieht als bei den meisten anderen Menschen. Als Schriftsteller sucht man nicht in erster Linie nach einer Drei-Zimmer-Altbau-Wohnung mit Balkon, sondern eben nach Räumen für das Schreiben und Lesen und damit nach Räumen, die wie dafür geschaffen sind, dass sich in ihnen etwas derartig Substantielles wie Schreiben und Lesen über einen längeren Zeitraum ereignet. Das kann eine Drei-Zimmer-Altbau-Wohnung mit Balkon sein, dann ist es aber eine Drei-Zimmer-Altbauwohnung, die auf das Schreiben und Lesen hin angelegt ist.
Man kann beobachten, dass sich Schriftsteller in einem bestimmten Alter sehr bewusst irgendwo »niederlassen«, nicht nur in einer bestimmten Wohnung oder einem bestimmten Haus, sondern auch an einem »Ort«, in einer Umgebung. Ein sehr bekanntes und schönes Beispiel ist das Weimarer Gartenhaus Goethes, das er ja direkt nach seiner Übersiedlung nach Weimar bezogen hat. Goethe war damals sechsundzwanzig Jahre alt, er hatte bereits den Werther...