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Durchbruch der Moderne? - Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert

Birgit Aschmann

 

Verlag Campus Verlag, 2019

ISBN 9783593441924 , 334 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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31,99 EUR

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»Das Säkulum der Widersprüche«: Das 19. Jahrhundert und der Durchbruch der Moderne? Eine Einleitung Birgit Aschmann Wenn ein Buch über das 19. Jahrhundert den Titel Durchbruch der Moderne trägt, aber auf dem Einband eine von Caspar David Friedrich gemalte Dorfidylle zeigt - ist das nicht ein irritierender Widerspruch, eine Paradoxie? Doch, genau das ist es, und - damit sei ein Ergebnis des Bandes vorweggenommen - genau das macht das 19. Jahrhundert aus. Um den Reiz dieses an Widersprüchen reichen Jahrhunderts wahrzunehmen, muss man es neu in den Blick nehmen. Das war das Anliegen einer Ringvorlesung, die im Sommersemester 2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand und deren Beiträge dieser Band dokumentiert. Die Zeit für eine Neubetrachtung ist günstig, schließlich ist das Jahrhundert wieder im Gespräch. Dabei ist es nur wenige Jahre her, dass die Experten ratlos vor einem wachsenden Desinteresse standen. Das 19. Jahrhundert schien so verstaubt, dass es - wie Suzanne Marchand 2002 schrieb - nachgerade »peinlich« wirkte, sich damit »hauptberuflich« auseinanderzusetzen. Aus ihrer Erfahrung in Princeton berichtete sie, dass sich seit den 1990er Jahren der Forschungstrend vom europäischen 19. Jahrhundert wegbewegt habe: »Some things are interesting, and others not. And what was definitely not interesting any more was nineteenth-century Europe.« Ihr Eindruck wurde auf beiden Seiten des Atlantiks geteilt. Paul Nolte veröffentlichte 2006 unter dem Titel »Abschied vom 19. Jahrhundert« einen vielbeachteten Aufsatz, dessen Ziel es war, die historiographische Krise zu erklären. Festgemacht wurde diese Krise immer wieder an dem signifikanten Rückgang von Qualifikationsschriften, Aufsätzen oder Konferenzbeiträgen, die dem 19. Jahrhundert gewidmet waren. Diese quantitative Evidenz ist nicht zu leugnen und bedarf einer Erklärung. Ursächlich war dafür wohl nicht zuletzt ein Zusammenspiel allgemeiner, methodischer und spezifisch nationaler Faktoren, die gemeinhin den Verlauf historiographischer Konjunkturen prägen. Dabei spielte zunächst der einfache Umstand eine zentrale Rolle, dass die Zeit voranschritt und damit das 19. Jahrhundert und die Gegenwart rein zeitlich immer weiter auseinandertraten. Oberflächlich betrachtet scheinen beide Zeiträume immer weniger miteinander zu tun haben. Die Interessen junger WissenschaftlerInnen wandten sich daher bevorzugt anderen Zeiträumen zu, zumal die Zeitgeschichte attraktive Alternativen bot. Diese Entwicklung wurde in Deutschland zusätzlich dadurch forciert, dass seit 1990 mit der Öffnung der DDR-Archive historiographisches Neuland von unbestrittener Gegenwartsrelevanz erschlossen werden konnte. Nicht nur die stetig wachsenden Bestände zur Geschichte der Bundesrepublik, sondern auch die zur DDR-Geschichte wurden so zur privilegierten Anlaufstelle vor allem von angehenden HistorikerInnen der späten Neuzeit, die sich nicht mit dem Nationalsozialismus beschäftigen wollten. Eine Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert wurde dagegen umso lässlicher, als es zur Erklärung der Genese des Nationalsozialismus entbehrlich schien. Auch im postnationalen Zeitalter spielen bei der Wahl von Forschungsthemen nationale Pfade eine Rolle: Favorisierte Themen stehen in einem - zuweilen komplexen - Zusammenhang mit gegenwartsbezogenen nationalen Selbstverständigungsprozessen. So ist der französische Blick auf das 19. Jahrhundert von einer spezifischen Revolutionswahrnehmung geprägt, und die britische Historiographie genießt dauerhaft den Rückenwind nationalen Stolzes, handelte es sich beim 19. Jahrhundert doch um das Säkulum, in dem Macht und Einfluss Großbritanniens ihren Zenit erreichten. Die deutsche Historiographie war nach 1945 bemüht, mit der Erforschung des 19. Jahrhunderts die nationalsozialistische Diktatur und den Völkermord des 20. Jahrhunderts zu erklären. So wurde das Interesse deutscher HistorikerInnen vor allem von der Frage geleitet, inwiefern die Strukturen des 19. Jahrhunderts unweigerlich in den Nationalsozialismus mündeten. Als jedoch die These vom deutschen Sonderweg erodierte und es immer weniger überzeugend schien, die Ursachen des Nationalsozialismus in den Deformationen des deutschen Bürgertums zu suchen, brach auch das Interesse am 19. Jahrhundert ein. »Vergessen« war es schon deshalb nicht, weil die Schriften, die im Zuge der Forschungsverbünde über das Bürgertum entstanden waren, inzwischen ganze Regale füllten. Das 19. Jahrhundert erschien weniger »vergessen« als vielmehr »abgegrast«. Dass angesichts des enormen Ausstoßes an Publikationen in den 1980er und 1990er Jahren die Zahl der Veröffentlichungen in den darauffolgenden Jahren zurückging, kann niemanden wirklich verwundern. Zu guter Letzt trugen methodische Verschiebungen in der Geschichtswissenschaft zu einem Rückgang des Interesses bei. Hatte die Historische Sozialwissenschaft noch die Fundamentalprozesse wie Nationalisierung, Industrialisierung oder Urbanisierung in den Vordergrund gerückt, verlor die Geschichtsschreibung nach dem cultural turn das Interesse an derartigen Meisternarrativen, zumal die Modernisierungstheorien angesichts eines sich wandelnden Verständnisses von »Moderne« ohnehin an Akzeptanz verloren. Weder die Annahme kontinuierlichen Fortschritts, noch die eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem 19. Jahrhundert und dem Holocaust waren durch die Empirie gedeckt. Die neuen methodischen Zugänge nach der kulturgeschichtlichen Wende wie Mikrogeschichte oder Historische Anthropologie reüssierten vorzugsweise in anderen Zeitepochen, etwa der Frühen Neuzeit. Es bedurfte erst einer neuen räumlichen Perspektive, um der Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert neues Leben einzuhauchen: Es war die Globalgeschichte, der es abermals zu zeigen gelang, dass auch das 19. ein aufregendes Jahrhundert ist. Quasi als unmittelbare Antwort auf die Krisendiagnosen von Marchand und Nolte veröffentlichten Christopher A. Bayly das Buch Die Geburt der modernen Welt und Jürgen Osterhammel sein schnell zum Standardwerk avanciertes Opus magnum Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Wie nur wenig andere Bücher dieses Formats (immerhin umfasst es mehr als 1.500 Seiten) wurde Osterhammels Buch nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen: Es erschien in mehreren Auflagen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und schließlich in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung für jeden erschwinglich. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel den Autor mit der Aufgabe beehrte, anlässlich ihres 60. Geburtstags im Juli 2014 die Festrede zu halten, kann als Ausweis und zugleich weiterer Katalysator der Breitenwirkung seines Buches gelten. Mit Blick auf das (globale) 19. Jahrhundert hatte Osterhammel damit maßgeblich zu dem beigetragen, was er schon im Jahr 2003 prognostiziert hatte. Auf die damaligen Befürchtungen, dass das 19. Jahrhundert verlorengehe, hatte er mit der irritierten Frage geantwortet: »Who ever lost a century?« Dass Jahrhunderte immer wieder aus dem Fokus der Wissenschaftler geraten, sei normal, zumal sich bei späteren Neubewertungen die Schwerpunkte wieder verschieben könnten: »In the long run, periodic reevaluations tend to do justice to forgotten centuries.« Eine solche Neujustierung war mit dem globalgeschichtlichen turn erfolgt, und das 19. Jahrhundert kam unter neuen Akzenten und Fragestellungen wieder ins Spiel. Als Karen Hagemann und Simone Lässig im Dezember 2017 in der Zeitschrift Central European History ein »Discussion Forum« über den Zustand der Historiographie über das 19. Jahrhundert herausgaben, stand daher hinter dem Titel »The Vanishing Nineteenth Century in European History?« ein bezeichnendes Fragezeichen. Nahezu sämtliche Autoren und Autorinnen kamen zu dem Ergebnis, dass das 19. Jahrhundert für die Geschichte verschiedener Regionen einerseits und für diverse Forschungsansätze andererseits von fundamentaler Bedeutung sei. Für Großbritannien bleibe das Säkulum ohnehin - wie Alex Chase-Levenson betonte - von »sustained relevance«, so wie es auch für die französische Geschichte ein »essential century« (Lloyd S. Kramer) sei. Die Geschichten des Habsburgerreichs oder Russlands konnten vom imperial turn der letzten Jahre profitieren, auch die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs hat durch den colonial turn wichtige neue Impulse erhalten. Zwar verwies Suzanne Marchand nach wie vor auf Schwierigkeiten, Studierenden eine »intellectual history« des 19. Jahrhunderts zu vermitteln, weil die jungen Leute im »age of impatience« die Langatmigkeit der damaligen Briefkultur oder die Weitschweifigkeit von Parlamentsdebatten nur noch als »boring« empfinden würden. Dem standen jedoch Aussagen wie die von Roger Chickering gegenüber, der aus der Perspektive der Militärgeschichte das 19. Jahrhundert als nach wie vor »vibrant« charakterisierte. Die von Hagemann und Lässig anlässlich dieses »Discussion Forum« erneut zusammengetragenen Daten bestätigen zwar einen insgesamt quantitativen Rückgang. Aber mit Blick auf die Qualität der Studien lässt sich doch eine durchaus optimistische Sicht ableiten: Die Schriften zum 19. Jahrhundert werden vergleichsweise häufig mit renommierten Preisen gewürdigt. Heute ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass das 19. Jahrhundert ein Untersuchungsfeld darstellt, das nach wie vor wichtige Erkenntnisse bereitstellen sowie mit Lust und Gewinn erforscht werden kann. Gleichwohl haben sich in den vergangenen Jahren - immerhin ist seit der Publikation von Osterhammel eine Dekade vergangen - Schwerpunkte und Themen verschoben. Daher erschien es reizvoll, im Rahmen erst einer Ringvorlesung und dann eines Sammelbandes danach zu fragen, wie führende Historikerinnen und Historiker, die in der deutschen Universitätswelt über das 19. Jahrhundert arbeiten, heute an dieses Säkulum herangehen, welche Fragen sie stellen, welche Thesen sie vertreten und welche Probleme sowie Potentiale sie sehen. Zusammen mit der Themenstellung, die sich aus ihren jeweiligen Forschungsschwerpunkten ergab, wurden den Kolleginnen und Kollegen nur wenige leitende Fragen an die Hand gegeben, darunter die nach den Spezifika des Jahrhunderts, einer möglichen »Einheit der Epoche« oder der Relevanz ihres jeweiligen Ansatzes im Kontext neuer Zugänge. Gerade die Offenheit dieser Vorgaben macht es umso spannender, danach zu fragen, ob sich Schwerpunkte beziehungsweise Übereinstimmungen feststellen ließen, aus denen wiederum auf neue Trends zurückgeschlossen werden könnte. Entsprechend soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einige Ergebnisse vor dem Hintergrund der allgemeinen Forschung zu bündeln. Die insgesamt zwölf Beiträge kreisen im- und explizit immer wieder um folgende Aspekte: Auf welche Räume beziehen sich die Studien über das 19. Jahrhundert? Wo liegt der Anfang, wo das Ende des Säkulums? Bildet es - und wenn ja, in welcher Hinsicht - eine Einheit, oder zerfällt es in verschiedene Phasen, die anhand welcher Charakteristika voneinander abzugrenzen sind? Welche Binnenzäsuren lassen sich dann ausmachen? In welchem Verhältnis stehen Tradition und Innovation zueinander? Was lässt sich über das Narrativ von »Fortschritt« und »Modernisierung« heute sagen, das so lange Zeit das vorherrschende Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts gewesen ist? Gibt es alternative Zugänge, die heute geeigneter erscheinen? Was sind überhaupt die zentralen Signaturen des Jahrhunderts? Gibt es ein »Proprium« dieser Epoche? Und schließlich: Inwiefern ist diese Zeit für die Gegenwart wichtig? Zum »Wo« und »Wann« des 19. Jahrhunderts Das hier behandelte Jahrhundert ist lokal, national, europäisch und global. Dabei nehmen die Beiträge insbesondere Phänomene der westeuropäischen Geschichte in den Blick. Das Besondere des Sammelbandes liegt darin, dass die Beiträge nicht nach den vielfach üblichen nationalen Kategorien geordnet sind, unterlaufen diese doch allzu oft die eigentlich gewünschten transnationalen Verflechtungen und erschweren selbst einen Vergleich, weil die Beiträge über verschiedene Regionen beziehungsweise Nationen oft einfach nebeneinander stehen bleiben. In diesem Sammelband gehen die Beiträge zunächst von allgemeinen Phänomenen aus, deren europäischer Charakter angenommen und an einzelnen Beispielen exemplifiziert wird. So bietet der Beitrag über die Monarchie (Monika Wienfort) Einblicke in die britische, die preußische oder die spanische Monarchie. Der Beitrag über Verfassungsstaat und Liberalismus (Jörn Leonhard) bezieht sich vorzugsweise auf die Entwicklungen in Frankreich und Großbritannien. Die Studie über die Emotionen (Birgit Aschmann) geht Ereignissen in Frankreich und den Verflechtungen der deutsch-französischen Geschichte nach. Die Analyse der Stadt (Friedrich Lenger) verweist mit unter anderem Paris und Budapest, Barcelona und Berlin auf ost-, west- und südeuropäische Städte, und die Analyse politischer Attentate (Heinz-Gerhard Haupt/Daniel Schönpflug) stützt sich zwar in besonderer Weise auf Ereignisse in Frankreich, nimmt aber genauso Diskurse und Praktiken in den deutschen Staaten, in Italien, in Irland, Polen oder auf dem Balkan wahr. Weil aber allgemeine Aussagen über das 19. Jahrhundert immer wieder konkreter Untersuchungen bedürfen, konzentrieren sich einige Beiträge auf einen vorwiegend nationalen Zugang: In den Aufsätzen von Rebekka Habermas und Angelika Schaser steht das deutsche Kaiserreich im Mittelpunkt, auch wenn ausgehend von dort immer wieder Bezüge zu anderen europäischen Ländern und anderen Zeiträumen des 19. Jahrhundert hergestellt werden. Last but not least ist diese europäische Geschichte auch global. Nach den methodischen und empirischen Perspektiverweiterungen durch die Globalgeschichte ist evident, dass eine globale Rahmung des 19. Jahrhunderts unumgänglich ist. Der Sammelband ist dabei insofern ganz wörtlich global gerahmt, als der erste Beitrag von Ute Planert damit beginnt, die Bühne des 19. Jahrhunderts in ihrer globalen Breite aufzuzeigen. Sie verdeutlicht einerseits die einschneidenden Folgen der napoleonischen Kriege für Europa, die die »Zentralisierung und Modernisierung des Staates« forcierten, und verbindet diese Beobachtungen mit Thesen über die kurz- und langfristigen Rückwirkungen auf andere Teile der Welt. So führten die Kriege, die einzubinden waren in eine jahrhundertealte britisch-französische Kolonialkonkurrenz, unmittelbar zu globalen Machtverschiebungen von Asien bis nach Lateinamerika. Darüber hinaus aber habe der innereuropäische Vereinheitlichungsdruck durch die napoleonische Expansion letztlich zu einer solchen Stärkung des Kontinents geführt, dass Europa, vor allem aber Großbritannien, im Laufe der nächsten Dezennien die Führungsrolle in der Welt habe übernehmen können. Die abschließenden Beiträge des Bandes greifen die globale Dimension des 19. Jahrhunderts wieder auf. Dabei zeigt Andreas Eckert am Beispiel »Arbeit« die Verflechtungen der Kontinente, indem er europäische Diskurse über »freie Lohnarbeit« in Bezug setzt zu der Sklavenbefreiung in Amerika, deren Folgen für den afrikanischen Kontinent er schließlich nachgeht. Dieser Zugang wird ergänzt durch eine ganz anders angelegte globalgeschichtliche Studie von Ulrike von Hirschhausen, die nachweist, wie ein indischer Fürst in einem »semi-kolonialen« Kontext globale Kontakte (zum Teil gegen den Widerstand der britischen Kolonialmacht) suchte und nutzte, um seinen Herrschaftsbereich auf den Gebieten von Bildung, Wirtschaft und Herrschaftskommunikation zu »modernisieren«. Deutlich wird dabei, dass selbst Kolonialgeschichte mit ihrem Blick für die Beziehungen zwischen kolonialem Zentrum und Peripherie nicht ausreicht, um die Vielfalt von Einflussfaktoren im Lokalen auszuloten. Europa erscheint in dieser dezentrierten Perspektive als ein Impulsgeber unter mehreren.