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Mister Aufziehvogel - Roman

Haruki Murakami

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2011

ISBN 9783832185961 , 684 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

VOLLMOND UND SONNENFINSTERNIS
VON PFERDEN, DIE IN DEN STÄLLEN STERBEN

Und ist es für einen Menschen überhaupt möglich, einen anderen vollkommen zu verstehen?

Wir können unendlich viel Zeit und Energie in den ernsthaften Versuch investieren, einen anderen Menschen kennenzulernen, aber wie weit können wir uns dessen innerstem Wesen, dessen Essenz letzten Endes nähern? Wir reden uns ein, den anderen gut zu kennen, aber wissen wir wirklich – von wem auch immer – etwas, was von Bedeutung wäre?

Eine Woche, nachdem ich meine Stelle in der Anwaltskanzlei aufgegeben hatte, fing ich an, ernsthaft über solche Dinge nachzudenken. Bis dahin hatte ich mich niemals – mein ganzes Leben lang nicht – mit derlei Fragen beschäftigt. Und warum nicht? Wahrscheinlich, weil ich schon alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte zu leben. Ich war einfach zu beschäftigt gewesen, um über mich selbst nachzudenken.

Der Auslöser war ein triviales Ereignis, wie eben die meisten wichtigen Dinge auf der Welt geringfügige Anfänge haben. Eines Morgens, nachdem Kumiko, wie an jedem Arbeitstag, das Frühstück hinuntergeschlungen hatte und aus dem Haus gehetzt war, steckte ich die Wäsche in die Waschmaschine, machte das Bett, spülte das Geschirr und ging mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Dann setzte ich mich mit dem Kater auf die Veranda und sah die Stelleninserate und die Sonderangebote durch. Als es Mittag wurde, aß ich und ging dann zum Supermarkt. Dort kaufte ich Lebensmittel für das Abendessen und, aus einem Regal mit Sonderangeboten, Waschmittel, Reinigungstücher und Toilettenpapier. Wieder zu Hause, bereitete ich das Abendessen vor und legte mich dann, bis Kumiko zurückkäme, mit einem Buch auf das Sofa.

Neuerdings ohne Anstellung, fand ich dieses Leben durchaus erfrischend. Nicht mehr in überfüllten U-Bahn-Zügen pendeln müssen, keine Leute mehr sehen müssen, die ich nicht sehen wollte. Und das Allerbeste war, ich konnte jedes mir passende Buch lesen, wann immer ich wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange dieses entspannte Leben so weitergehen würde, aber einstweilen wenigstens, nach der ersten Woche, genoß ich es, und ich gab mir alle Mühe, nicht an die Zukunft zu denken. Dies war der einzige richtige, große Urlaub meines Lebens. Irgendwann mußte er zwangsläufig zu Ende gehen, aber bis dahin war ich fest entschlossen, ihn zu genießen.

An diesem bestimmten Abend gelang es mir allerdings nicht, mich ganz der Freude des Lesens hinzugeben, weil Kumiko sich verspätete. Sie war früher nie später als halb sieben von der Arbeit zurückgekommen, und wenn sie voraussah, daß es auch nur zehn Minuten später werden würde, informierte sie mich immer rechtzeitig. So war sie eben: fast zu gewissenhaft. Aber dieser Tag war eine Ausnahme. Sie war nach sieben noch immer nicht da, und es kam auch kein Anruf. Das Fleisch und die Gemüse waren so weit fertig, daß ich mich in dem Augenblick, da Kumiko nach Haus kam, ans Kochen machen konnte. Nicht, daß ich ein besonders lukullisches Mahl geplant hätte: Ich würde dünne Scheibchen Rindfleisch mit Zwiebeln, grünen Paprikas und Sojabohnensprossen anbraten, leicht salzen, pfeffern und mit Sojasoße und einem Schluck Bier ablöschen – ein Rezept aus meiner Junggesellenzeit. Der Reis war gar, die Miso-Suppe war warm, und die Gemüse waren geschnitten und in verschiedenen Häufchen auf einem großen Teller angerichtet, bereit für den Wok. Es fehlte nur noch Kumiko. Ich war hungrig genug, um mit dem Gedanken zu spielen, mir meine eigene Portion zu kochen und allein zu essen, aber so weit wollte ich denn doch nicht gehen. Es wäre einfach nicht anständig gewesen.

Ich saß am Küchentisch, nippte an einem Bier und knabberte ein paar leicht angeweichte Kräcker, die ich ganz hinten im Schrank gefunden hatte. Ich sah dem kleinen Zeiger der Uhr zu, wie er auf die Halbachtstellung zukroch und sie dann langsam hinter sich ließ.

Es war nach neun, als sie endlich ankam. Sie sah erschöpft aus. Ihre Augen waren blutunterlaufen: ein schlechtes Zeichen. Wenn sie rote Augen hatte, war immer etwas Schlimmes passiert.

Okay, sagte ich zu mir, bleib cool, mach kein Aufhebens und keine Szenen. Reg dich nicht auf.

»Es tut mir furchtbar leid«, sagte Kumiko. »Mit der Arbeit war es heute wie verhext. Ich wollte dich anrufen, aber ständig ist etwas anderes dazwischengekommen.«

»Macht nichts, ist schon in Ordnung, mach dir nichts draus«, sagte ich, so leichthin wie möglich. Und ich nahm es ihr auch wirklich nicht übel. Ich hatte es schon oft genug selbst erlebt. Arbeiten gehen kann ganz schön hart sein – es ist etwas grundlegend anderes, als zwei Straßen weiter zu gehen, um einer kranken Großmutter die schönste Rose aus dem Garten zu bringen und ihr bis zum Abend Gesellschaft zu leisten. Manchmal muß man mit unangenehmen Leuten unerfreuliche Dinge tun und kommt wirklich beim besten Willen nicht dazu, zu Hause anzurufen. Es würde nicht mehr als dreißig Sekunden erfordern zu sagen: »Heute komme ich später«, und es stehen überall Telefone herum, aber man schafft es einfach nicht.

Ich machte mich ans Kochen: schaltete den Gasherd ein, goß Öl in den Wok. Kumiko nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ein Glas aus dem Regal, warf einen kurzen prüfenden Blick auf die Dinge, die ich gleich in die Pfanne schütten würde, und setzte sich wortlos an den Küchentisch. Ihrer Miene nach zu urteilen, schmeckte ihr das Bier nicht.

»Du hättest ohne mich essen sollen«, sagte sie.

»Schon gut. Ich war nicht so hungrig.«

Während ich das Fleisch und das Gemüse anbriet, ging Kumiko sich frischmachen. Ich hörte, wie sie sich das Gesicht wusch und die Zähne putzte. Als sie kurz darauf aus dem Badezimmer kam, hielt sie etwas in der Hand. Es waren das Toilettenpapier und die Papiertücher, die ich im Supermarkt gekauft hatte.

»Warum hast du denn das Zeug gekauft?« fragte sie in entnervtem Ton.

Den Wok in der Hand, sah ich sie an. Dann sah ich auf die Schachtel mit den Tüchern und die Packung Toilettenpapier. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, worauf sie hinauswollte.

»Wieso? Das sind Papiertücher und Klopapier. Wir brauchen die Sachen. Nicht unbedingt sofort, aber sie werden schon nicht verschimmeln, wenn sie ein Weilchen herumstehen.«

»Nein, natürlich nicht. Aber warum mußtest du unbedingt blaue Tücher und geblümtes Klopapier kaufen?«

»Ich kann dir nicht ganz folgen«, sagte ich und bemühte mich, ruhig zu bleiben. »Sie waren im Angebot. Von blauen Papiertüchern wirst du schon keine blaue Nase kriegen. Wo ist das Problem?«

»Es ist ein Problem. Ich hasse blaue Papiertücher und geblümtes Klopapier. Wußtest du das nicht?«

»Nein, wußte ich nicht«, sagte ich. »Warum haßt du sie denn?«

»Woher soll ich denn wissen, warum ich sie hasse? Ich tu’s eben. Du haßt Telefonschoner und Thermosflaschen mit Blümchenmuster und Bellbottom-Jeans mit Nieten, und wenn ich mir die Nägel maniküren lasse. Du kannst genausowenig sagen, warum. Es ist einfach eine Frage des Geschmacks.«

Zufällig hätte ich ihr durchaus meine Gründe für jede dieser Abneigungen auseinandersetzen können, aber natürlich tat ich es nicht. »Na gut«, sagte ich. »Es ist einfach eine Frage des Geschmacks. Aber willst du mir etwa sagen, du hättest in den sechs Jahren unserer Ehre nicht ein einziges Mal blaue Papiertücher oder geblümtes Klopapier gekauft?«

»Niemals. Nicht ein Mal.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Die Reinigungstücher, die ich kaufe, sind entweder weiß oder gelb oder rosa. Und ich kaufe absolut nie gemustertes Klopapier. Ich finde es schlicht erschütternd, daß du so lange mit mir zusammenleben kannst, ohne das zu wissen.«

Ich war nicht minder erschüttert, erfahren zu müssen, daß ich in sechs langen Jahren kein einziges Mal blaue Papiertücher oder geblümtes Klosettpapier benutzt hatte.

»Und wo wir schon dabei sind, will ich dir noch eins sagen«, fuhr sie fort. »Ich verabscheue pfannengerührtes Rindfleisch mit grünen Paprikaschoten. Wußtest du das?«

»Nein, das ist mir neu«, sagte ich.

»Nun, es ist aber so. Und frag mich nicht, warum. Ich kann den Geruch der beiden Dinge, die zusammen in derselben Pfanne braten, einfach nicht ausstehen.«

»Willst du damit sagen, daß du in sechs Jahren kein einziges Mal Rindfleisch und grüne Paprikas zusammen gekocht hast?«

Sie schüttelte den Kopf. »Grüne Paprikas esse ich im Salat. Rind brate ich mit Zwiebeln. Aber ich habe noch niemals Rindfleisch und grüne Paprikas zusammen in einem Topf zubereitet.«

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Hast du dich nie darüber gewundert?« fragte sie.

»Darüber gewundert? Es ist mir überhaupt nie aufgefallen«, sagte ich und dachte einen Augenblick lang nach, ob ich seit unserer Heirat nicht doch wenigstens einmal etwas Pfannengerührtes mit Rindfleisch und grünen Paprikaschoten gegessen hatte. Natürlich konnte ich mich unmöglich daran erinnern.

»Du lebst schon so lange mit mir zusammen«, sagte sie, »aber du nimmst mich kaum wahr. Der einzige Mensch, an den du jemals denkst, bist du.«

»Also jetzt Moment mal«, sagte ich, schaltete das Gas aus und stellte den Wok auf dem Herd ab. »Laß uns jetzt bitte nicht übertreiben. Vielleicht hast du recht. Vielleicht habe ich Dingen wie Papiertaschentüchern und Klopapier und Rindfleisch und grünen Paprikaschoten bislang wirklich nicht genügend Beachtung geschenkt. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß ich dich nicht wahrgenommen hätte. Es ist mir...