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Marianengraben - Roman

Jasmin Schreiber

 

Verlag Eichborn AG, 2020

ISBN 9783732587957 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Weißt du noch, als Ronny gestorben ist und du zwei Tage lang so traurig warst, dass dir nicht einmal dein Lieblingseis geschmeckt hat? Als ich mit dir zum Kinderarzt gehen musste, weil du der Meinung warst, dass das komische Gefühl in deinem Bauch bestimmt eine sehr schlimme Krankheit sei, dabei war es nur Trauer um unseren Hund? Nach zwei Tagen konntest du wieder essen, nach einer Woche war es besser und einen Monat nach Ronnys Beerdigung hast du nur noch selten an ihn gedacht.

Bei mir ist es auch so gewesen, als du plötzlich fort warst, nur stärker. Ich konnte gar nichts mehr essen, nicht mehr zur Uni gehen. Ich hatte dieses Gefühl, das du im Bauch hattest, in meinen Armen und in meinen Beinen und in meinen Ohrläppchen und in der Nasenspitze und sogar im Blinddarm. Ja, ich weiß, was du jetzt denkst, den Blinddarm hätte ich wegmachen lassen können, so wie du damals mit sieben. Aber ich brauche ja noch meine Nasenspitze und meine Arme, daher hätte das gar nicht viel geholfen, nur den Blinddarm entfernen zu lassen. Das Gefühl war so schlimm, dass ich nicht mehr aufstehen konnte, nicht mehr duschen, gar nichts mehr. Und irgendwann ist das komisch umgekippt und ist weggegangen, aber kein neues Gefühl setzte sich an seine Stelle. Stattdessen war da nur noch: Leere.

Weißt du noch, als ich dir Die Unendliche Geschichte vorlas und die Stelle kam, an der das Nichts um sich greift?

»Wie sieht das denn aus, das Nichts?«, fragtest du mich.

»Na ja, das Nichts sieht eben nicht aus. Sonst wäre es ja was.«

»Wie kann denn etwas nicht sein?«

»Hm«, sagte ich dann nur. Das war eine wirklich schwierige Frage. Du hast immer sehr schwierige Fragen gestellt, was vermutlich daran lag, dass du sehr schlau warst, vermutlich auch viel schlauer, als ich es in deinem Alter gewesen war.

»Vielleicht so wie: Hier neben mir steht kein Stuhl?«, überlegte ich laut. Neben mir stand nämlich kein Stuhl.

»Hm«, sagtest du dann.

Wir hatten keine Lösung und das beschreibt auch die Situation, in der ich damals nach deinem Tod war, sehr gut: Ich hatte keine Lösung. In mir breitete sich das Nichts aus, es hatte kein Gefühl, kein Aussehen, keinen Geruch, keinen Klang, keinen Geschmack. Ich war ein Menschenkostüm, das Nichts enthielt. Depression nennt man das landläufig, behandlungsbedürftig natürlich und deshalb ging ich zu einer Ärztin in der Hoffnung, dass sie irgendwas in mich reinschütten würde. Ich ging zu einer Psychiaterin.

Eines Tages saß ich also im Wartezimmer auf einem sehr harten Holzstuhl neben einem Schirmständer, der voller Regenschirme war, obwohl sich außer mir nur zwei ältere Menschen im Raum befanden und es nicht einmal geregnet hatte. Die beiden anderen gehörten zusammen, ich schätzte das Paar auf Ende achtzig oder Anfang neunzig, sie waren so klein und zart wie Elfen, sogar älter als Oma und Opa und puh, das ist dann ja ganz schön alt. Ich glaube, sie waren so alt wie die Ticktack-Oma, kurz bevor sie starb. Du nanntest sie so, weil du lange gedacht hast, es hieße Uhr-Oma und nicht Ur-Oma, und eine Uhr macht eben Ticktack.

Ich betrachtete jetzt das Ticktack-Paar genauer. Die Frau sank immer mal wieder in sich zusammen, woraufhin der Mann sie wieder ein bisschen zurechtrückte. Sie richtete sich dann auch ein wenig von selbst auf und blieb so, wie sie positioniert worden war, bis sie nach und nach wieder in ihrem Stuhl nach unten rutschte. Die Haut an ihren Händen war so fein, dass ich aus circa drei Metern Entfernung ihre Blutgefäße sehen konnte, sie war ein fragiler Vogel aus Transparentpapier. Der alte Mann legte ihr eine Zeitschrift auf den Schoß und bemühte sich um Normalität, doch sie nahm das gar nicht wahr. Er nahm ihren Arm, hob ihn an, platzierte die Zeitung darunter und legte den Arm wieder darauf, er befestigte die Seiten regelrecht an ihr, es war traurig und skurril gleichzeitig. Die Frau schwieg und blickte durch ihren fürsorglichen Partner hindurch – ihren Partner, dem die Angst und Verzweiflung tief ins Gesicht geschrieben standen. Leise sprach er zu ihr, flüsterte ihr aufmunternde Dinge zu, wollte sie aktivieren, wollte sie für etwas begeistern (»Schau doch, da ist die Helene Fischer!«), doch eine Reaktion blieb aus. Mir kam es so vor, als ob die Frau sowieso nichts mehr mitbekam, dass sie weder wusste, wo sie war, noch, was da gerade mit ihr geschah. Ihr Blick blieb leer, er durchdrang diese Welt, schaute an uns vorbei und war auf eine Galaxie gerichtet, zu der wir keinen Zugang hatten. Ob du da jetzt auch bist und auf Asteroiden reitest? Oder vielleicht tauchst du gerade in einem unendlich großen Ozean gemeinsam mit schwimmenden Untertassen und Mehrzahn-Fischen auf der Suche nach einem Tim-Fisch. Wer weiß das alles schon.

Irgendwann wurde ich im Wartezimmer aus meinen Gedanken gerissen und aufgerufen. Ich ließ mich von der Ärztin untersuchen. Sie erklärte mir, dass meine Trauerreaktion mittlerweile pathologisch sei. Pathologisch ist etwas, wenn es krank macht. Kurz gesagt: Ich war ein bisschen falsch traurig, also ungesund traurig, so habe ich es damals zumindest aufgefasst, auch wenn das jetzt stark vereinfacht ist. Aber du bist ja kein Psychiater, sondern Meeresforscher und Abenteurer, deshalb lasse ich das jetzt so stehen. Für mich klang es jedenfalls wie: zu traurig, und ich dachte mir: Hä, wie kann das sein? Ich fand, dass ich gar nicht traurig genug war, weil mein Herz ja noch schlug, obwohl ich eigentlich dachte, ohne dich sterben zu müssen, ganz im Ernst. Normalerweise hat das Gehirn gute Mechanismen, um mit Trauer klarzukommen. Deshalb kamst du nach einer Weile ja auch wieder zurecht, nachdem Ronny gestorben war. Ich jedoch hing irgendwie fest, weshalb mir die Ärztin Medikamente verschrieb und das von der Krankenkasse angeforderte Formular ausfüllte, mit dem ich dann einen Therapieplatz suchen konnte.

Therapie fand ich dann so mittel. Die ersten Stunden saß ich meinem Therapeuten gegenüber, der mich fragte, wie es mit den Medikamenten so liefe, und mich anschließend fünfzig Minuten anschwieg, während ich irgendwas aus mir selbst schöpfen sollte. Doch in mir gab es nichts zu schöpfen, ich saß im Marianengraben mit einer kleinen Suppenkelle und sollte damit all das Wasser und den Schmerz aus mir herausholen, damit es mir besser ginge, ich sollte alles hochholen und zur Betrachtung ausbreiten und zeigen. Doch das funktionierte nicht. Ich saß elftausend Meter weit unten und der Druck war so hoch, dass von außen sofort wieder alles in mich einströmte, sobald ich ein bisschen abschöpfte. Da war so viel schwarzes Wasser und Angst und Dunkelheit und kein Lichtstrahl, kein einziger. Meistens schwieg ich, manchmal stammelte ich etwas, lenkte ab, erzählte von meinen unspektakulären Tagen im Bett. Ich erzählte dem Therapeuten von der Tiefsee (»Wussten Sie, dass unten im Marianengraben auf einem Quadratzentimeter ein Gewicht von über einer Tonne lastet?« – »Nein.« – »Sehen Sie mal.«), ich philosophierte über den Zusammenhang von Feinstaub und Klima, ich erzählte ihm sogar, was meine Lieblingsnudeln waren, weil mir nach und nach wirklich die Themen ausgingen. Die Krankenkasse hatte fünfundsiebzig Stunden bewilligt, so viele Nudelsorten kannte ich gar nicht. Über dich verlor ich aber erst einmal kein Wort.

Das Ding mit dem Schmerz ist ja: Er kennt immer erst mal nur Stärke, der Auslöser ist egal. Schmerz fährt hoch, bis er einhundert Prozent hat, und dann steht man da und muss das irgendwie überleben, egal, was der Auslöser ist. Weil der Hund stirbt. Weil der Freund Schluss macht. Weil der Vater sich nicht mehr meldet. Weil der Bruder stirbt. Natürlich hängt vom Auslöser ab, wie tief der Schmerz in dich eindringt, wie lange er dort ausharrt, was er alles zerstört. Manche Dinge sind schlimmer als andere. Aber wenn einem jemand in die Nieren tritt, ist es im ersten Moment egal, wieso er das getan hat, wir liegen dann alle erst einmal am Boden und krümmen uns und versuchen, irgendwie zu atmen. Ein, aus. Ein, aus. Das Einzige, das ich damals immerhin irgendwie und mit Ach und Krach zustande brachte, war, nicht zu ersticken.

Eines Tages fragte mich der Therapeut, ob ich eigentlich dein Grab besuchen würde. Das war in der siebten oder achten der bewilligten unzähligen Sitzungen und ich spürte, dass er jetzt langsam begann, die Schlinge um mich enger zu ziehen, dass ich nicht weiter über Nudeln mit Pesto schwadronieren konnte, vor allem, da ich ohnehin eh fast nichts aß.

»Nein, ich habe sein Grab seit der Beerdigung nicht besucht«, hatte ich geantwortet. Das war einfach so, es ging nicht.

»Wieso nicht?«, fragte er mich.

Ich schwieg. Keine Ahnung, ich wollte es irgendwie nicht wahrhaben, dass das sozusagen deine neue Anschrift war. Dass du nun in der Erde lagst statt in deinem Kinderzimmer, das früher einmal meines gewesen war. Tim, der Fisch. Du warst fast zwei Meter tief gefangen in Erde, das war so gar nicht dein Element, der Gedanke daran zerriss mich. Mama und Papa gingen regelmäßig hin und ich behauptete, dass ich auch sehr oft zu dir ginge, obwohl ich über zweihundert Kilometer entfernt studierte. Es war natürlich gelogen, also das mit dem Hingehen.

»Ich fühle mich da nicht so wohl«, antwortete ich nach einer Weile.

Der Therapeut schwieg, ich fuhr fort: »Es fühlt sich nicht nach Tim an, außerdem sind da die ganzen anderen Menschen, die dort ihre Kreise ziehen und einen beobachten, während man am Grab steht. Das gefällt mir nicht.«

»Aber fühlen Sie sich gut damit? Also damit, dass Sie nicht zum Grab zu gehen?«

»Weiß nicht.«

Wieder Schweigen. Eigentlich...