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Wie man einen Bären kocht - Roman

Wie man einen Bären kocht - Roman

Mikael Niemi

 

Verlag btb, 2020

ISBN 9783641229719 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3.


MEIN MEISTER QUÄLT sich. Ich sehe, wie sich seine Lippen verkrampfen, eingesogen werden und das Wort betasten, das nicht geboren werden will. Seine Feinde kommen immer näher, nicht ein Tag vergeht ohne neue Schläge und Verhöhnungen. Und er hat zu seiner Verteidigung nur die Feder. Ihren Schwertern und Knüppeln tritt er mit seiner Schreibfeder entgegen, doch die Worte wollen sich nicht einstellen. Jedes Mal möchte ich mich nur zu gern selbst schlagen, fest kneifen, um ihn zu erlösen. Alles tun, wenn so das Licht in ihn hineinschiene. Er könnte mein Vater sein. So denke ich auch über ihn, aber als ich das einmal andeutete, wurde er wütend. Ich sah, dass die Wangen meines Meisters rot wurden und er sich abwandte. Jetzt lasse ich mich wie ein Hund auf die Fußmatte niedersinken. Ich warte geduldig. Stunde um Stunde harre ich dort mit der Schnauze auf den Pfoten aus, jeden Moment bereit, ihm zu folgen.

Seine Stirn ist von den Narben seiner Gedanken gezeichnet. Sie ist schmutzig, vielleicht vom Tabaksaft, vielleicht vom Ruß des Lampendochtes. Sein Haar ist lang und hängt in fettigen Strähnen herab, ab und zu streicht er es zurück, wie Zweige in einem Wald. Einsam bahnt er sich seinen Weg durch Wälder und verwachsenes Gestrüpp, durch das vor ihm keine Menschenseele gewandert ist. Aber vollkommen allein ist er doch nicht. Ich folge ihm schweigend, trotte ihm hinterher, die Schnauze in seiner Spur, folge dem geteerten Leder seiner Schnabelschuhe, dem Rascheln des Strohs in den Schuhen, der feuchten Wolle der Hosenbeine. Er kämpft sich weiter vor ins Unbekannte, aber ich bin die ganze Zeit in seiner Nähe. Mein Bauch ist leer, aber ich beklage mich nicht. Wie ein Schatten folge ich ihm, klebe an seinen Hacken.

Bei einer unserer Wanderungen ließen wir uns an einer kalten Quelle nieder. Während wir unseren Durst stillten, beobachtete er mich nachdenklich von der Seite.

»Wie wird man ein guter Mensch?«, fragte er mich schließlich.

Ich vermochte nicht zu antworten.

»Wie wird man gut, Jussi?«, beharrte er. »Was macht einen zu einem guten Menschen?«

»Ich weiß es nicht«, stammelte ich.

Der Meister starrte mich weiterhin an, er strahlte ein helles Licht aus, eine Glut.

»Aber schau doch nur uns beide an, Jussi. Sieh mich und dich an. Was würdest du sagen, wer von uns ist gut?«

»Ihr, mein Meister.«

»Sage nicht Meister zu mir, wenn wir im Wald sind.«

»Ich meine … der Propst.«

»Und warum?«

»Weil der Propst der Pfarrer ist. Ihr gebt uns Gottes Wort, Ihr könnt den Sündern ihre Sünden im Namen des Herrn vergeben.«

»Das ist mein Amt. Aber kann schon ein Amt allein den Menschen gut machen? Dann gibt es also keine bösen Priester?«

»Nein, nein, das könnte ich mir niemals vorstellen.«

»Priester, die saufen, die huren. Die ihre Ehefrau halb tot schlagen. Ich sage dir, ich bin schon auf solche gestoßen.«

Ich erwiderte nichts. Starrte unverwandt auf den Feuerlöcherpilz, den wir als Schutz gegen die Mückenschwärme auf die Glut gelegt hatten.

»Schau dich selbst an, Jussi. Du schlemmst nicht. Du trinkst nicht.«

»Aber doch nur, weil ich arm bin.«

»Du prahlst nicht. Wenn etwas angeboten wird, bist du der Letzte, der vortritt, wenn jemand dich lobt, entziehst du dich dem.«

»Das tue ich nicht, Herr Propst, ich will doch nur …«

»Oft merke ich nicht einmal, dass du bei mir bist. Ich muss mich umdrehen und nach dir schauen, um sicher zu sein. Du bist so leise, dass du verschwindest, wie kann man da böse sein?«

»Aber der Herr Propst tut viele, viele gute Dinge.«

»Kommt das von Gott, Jussi? Denke darüber nach, denke darüber nach. Vielleicht flüstert mir nur der Ehrgeizteufel etwas ins Ohr? Und lockt mit den weltlichen Ehrungen und Lobpreisungen. Ich hoffe, dass die Menschen mich nach dem Tod als einen der Großen in Erinnerung behalten. Während du, Jussi, wie ein Schatten weggewischt sein wirst, den es niemals gegeben hat.«

»Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.«

»Ist das wirklich so?«

»Mmh.«

»Und das ist es, was dich gut macht. Du bist der Freundlichste, Liebenswerteste, den ich kenne.«

»Nein, Herr Propst …«

»Doch, das bist du, Jussi. Aber warte. Hör jetzt genau zu. Wirst du dadurch ein guter Mensch?«

»Ich denke nicht.«

»Nein, denn vielleicht folgst du nur deiner Natur. Du und ich, wir sind von Grund auf äußerst verschieden. Und genau deshalb vergleiche ich uns beide so oft. Wer von uns folgt dem richtigen Weg, wie sollte man eigentlich leben? Ich richte viel Gutes aus, das stimmt. Aber ich richte auch Schaden an, ich schaffe mir Feinde, ich verletze meine Gegner und trample auf ihnen herum. Während du die andere Wange hinhältst.«

Er sah, dass ich protestieren wollte, und hob die Hand.

»Warte, Jussi. Macht dich das gut? Ist es das, was unser Schöpfer gemeint hat?«

Lange Zeit betrachtete ich eine Bremse, die mit glänzenden, grün schimmernden Fliegenaugen auf seinem Hosenbein entlangwanderte. Vergeblich versuchte sie, durch den Stoff zu dringen.

»Ich habe dich das Lesen gelehrt, Jussi. Du verbesserst dich. Ich sehe, dass du denkst, aber was fängst du mit deinen Gedanken an? Wenn sich jemand dir entgegenstellt, weichst du zurück, du nimmst deinen Ranzen und machst dich auf die Wanderung. Du fliehst Richtung Norden in die Berge. Sollen wir so der Torheit der Welt begegnen? Denke darüber nach, Jussi. Tust du recht daran, niemals zu widerstehen?«

»Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch.«

Dem Propst gelang es nicht, ein Lächeln zu verbergen, als ich seinen Lieblingspsalm zitierte.

»Du bist ein Betrachter, Jussi. Das habe ich bemerkt, du studierst die Welt um dich herum, nicht wahr?«

»Ja, schon, aber …«

»Du willst verstehen, wie die Welt und die Menschen beschaffen sind. Aber wucherst du mit deinen Pfunden? Das ist meine Frage an dich, Jussi. Was tust du, um das Böse in der Welt zu bekämpfen?«

Ich hatte keine Antwort. Meine Kehle schnürte sich zu, ich fühlte mich ungerechterweise beschuldigt, hatte große Lust, einfach wegzulaufen und ihn zurückzulassen. Mit meinen schnellen Füßen wäre ich schon bald außerhalb seiner Reichweite. Er sah meine Qual. Beugte sich näher zu mir und legte mir die Hand auf den Arm. Auf diese Art wurde ich zurückgehalten. Er knüpfte ein Band um meine Flügel, als wäre ich ein aufgebracht flatternder Spatz.

Der Propst lehrte mich zu sehen. Dass die Welt um einen herum allein durch den eigenen Blick verändert werden kann. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch war ich durch Gebirgstäler und Birkenwälder gewandert, hatte Kiefernheiden durchquert und war über schwankende Moorflächen gestapft. Diese Landschaft gehörte mir, ich kannte sie in- und auswendig, dieses karge Land im Norden mit seinen felsigen Flussufern und den sich dahinschlängelnden Tierwanderpfaden.

Und dennoch hatte ich kaum etwas gesehen.

Ich erinnere mich, wie der Propst mich auf eine seiner Exkursionen mitnahm. Ich hatte den Ranzen voll mit Verpflegung und Zeichenmaterial und Rollen dicken grauen Papiers, und wir legten eine ansehnliche Strecke zurück. Gegen Abend schlugen wir unser Lager auf einem lehto auf, umgeben von einer weichen, mosaikartigen Sumpflandschaft. Wir waren beide müde, ich machte Feuer und bereitete unser Nachtlager vor. Er brach die Brotstücke und schnitt getrocknetes Fleisch in schmale Streifen, während wir auf den trockenen Tannenzweigen sitzend wieder zu Kräften kamen. Die Mücken surrten und stachen uns. Der Propst bot mir Pechöl an, aber ich zog stattdessen eine Handvoll tannennadelähnliche Blätter vom Stängel, zerdrückte sie und rieb mir damit die Handflächen ein. Es duftete intensiv nach Kräutern, und die Insekten wichen augenblicklich zurück.

»Sumpfporst«, sagte er.

»Was?«

»Die Pflanze, mit der du dich eingerieben hast. Ledum palustre.«

»Ledum …?«, murmelte ich.

Er kam auf die Füße, der Blick voller Tatendrang.

»Folge mir!«

Wir ließen unsere Ranzen am Lagerplatz liegen. Die Kiefernheide hörte auf, bald ging der trockene Sandboden in ein feuchtes, schwankendes Sumpfgebiet über. Ich spürte, wie er immer eifriger wurde, seine Schritte wurden schneller, der Nacken war gebeugt, während der Blick in alle Richtungen huschte.

»Diesen Kräutergarten wollte ich schon lange besuchen«, sagte er. »Und endlich stehe ich hier inmitten all dieses Reichtums.«

Ich schaute mich um. Ein Moor. Endlose und feuchte Weite.

»Was siehst du, Jussi?«

»Nichts.«

Er wandte sich lächelnd halb zu mir um.

»Nichts? Und was ist mit all dem hier?«

»Gras.«

»Nein, Jussi. Das ist kein Gras. Das ist Segge.«

»Ach so. Segge. Ja, dann sehe ich Segge.«

Er holte tief Luft und wandte sich wieder dem Sumpfgebiet zu. Ich begriff, dass wir tiefer eindringen sollten. Es war Anfang Juli, und das Wasser stand immer noch hoch. Die Kleidung, die wir trugen, bedeckte unsere Leiber, und die Halstücher wickelten wir uns um den Nacken, zum Schutz gegen die Wolken fleischfressender Insekten, die in jedem Tümpel ausgebrütet wurden.

»Bereits von hier aus sehe ich mehr als zehn verschiedene Arten, Jussi. Und dabei rede ich nur von der Segge. Und die Weide, diese rätselhafte Gattung, erkennst du, wie viele...