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Eine Prise Marrakesch - Roman

Eine Prise Marrakesch - Roman

Thea C. Grefe

 

Verlag Blanvalet, 2020

ISBN 9783641241674 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Der Halaiqi

Ein guter Erzähler lässt seine Zuhörer mit den Ohren sehen, hatte Großvater gesagt, wenn er sein Publikum mit Saladin und Sindbad dem Seefahrer unterhielt, mit Liebesabenteuern, die zu Tränen rührten, und mit wahren Geschichten, durch die Vergangenes ebenso vorstellbar wurde wie Neues oder Fremdes. Was für ein Glück, dass er das Erzählen einst von ihm erlernt hatte! Einem begnadeten Fabulierer wie Großvater, Allah schenke seiner Seele Frieden, und auch ihm, seinem Schüler, folgte und vertraute man. Und so sollte es sein. Menschen brauchten Geschichten, und er, Abderrahim El Moukouri, einer der letzten Geschichtenerzähler Marrakeschs, würde nicht aufhören, sie zu erzählen.

Wie sonst sollte man eine Welt ertragen, in der Denken und Fühlen von Hetze und Technik zurückgedrängt wurden und Worte zu bloßen Mitteilungen schrumpften, begraben unter Fakten? Wenn man dann noch die Flut an Ablenkungen heutzutage bedachte wie diese kitschig bunten TV-Serien, in Ägypten produziert und in allen arabischen Ländern ausgestrahlt … Erkannte denn niemand die Säulen aus Styropor, die bemalten Pappen, aus denen die angeblichen Villen bestanden, oder die künstliche Üppigkeit der Gärten? Und erst die falschen Tränen, das vorgetäuschte Glück – störte sich niemand an solch verlogenem Schein?

La illah illalah1, so lange er konnte, würde er dagegenhalten! Schon Großvater war davon überzeugt gewesen, dass Erzählungen wie Tinte in Löschpapier tief in die menschliche Seele eindrangen.

1 Für Erläuterungen zu den einzelnen Fremdwörtern und Redewendungen siehe Glossar am Ende des Romans.

Er strich seine djellabah glatt und richtete den chêche, dann begab er sich zu seinem angestammten Platz. Die Schatten der Koutoubia-Moschee dehnten sich, die Trommeln der maurischen Tänzer brachten die Luft zum Pulsieren, und über den Garküchen stiegen erste Dampfschwaden in das sanft violette Glühen des Sonnenuntergangs. Es war die richtige Zeit. Und wie an vielen Abenden, wenn sich die Sonne zur Ruhe begab, wenn an den Ständen Lampen aufflammten und Familien und Müßiggänger auf der Suche nach Unterhaltung und Gesellschaft über den Djema el Fnaa schlenderten, entzündete er auch heute seine Laterne, stellte sie vor sich auf den Boden und erwartete sein Publikum.

Allah sei Dank kamen immer noch genügend Leute zusammen, um sich von seinen Geschichten verzaubern zu lassen. Manche unterbrachen ihren Weg nur für kurze Zeit, bevor sie wieder in Geschäft und Alltag eintauchten, andere aber blieben. Sie lauschten, folgten seinen Worten und Gedanken und kamen zur Ruhe. Ihm waren sie alle willkommen, besonders natürlich diejenigen, die seine Erzählkunst mit klingender Münze entlohnten.

Und Allah sei Dank fanden sich nicht nur die Alten ein, die bereits alle Facetten des Lebens kannten, die gern innehielten, über das Gehörte nachsannen und sich mit dem Nachbarn austauschten. Auch Junge, von denen die meisten ziellos herumgeschlendert waren, traten wie zufällig näher. Sie stießen sich mit den Ellenbogen an, grinsten halb verlegen, halb gönnerhaft und alberten herum. Doch auch ihre Stimmen wurden leiser, sie schalteten ihre Smartphones auf stumm und wandten sich ihm zu.

»Bismillah, meine lieben Freunde. Die Rosen beginnen zu blühen, und wie immer zu dieser Zeit treffen Menschen aus aller Herren Länder bei uns ein«, begann Abderrahim. »Aus der ganzen Welt strömen sie herbei und bestaunen die Schönheiten unserer Stadt. Anstatt sich jedoch mit geweiteten Sinnen an ihnen zu erfreuen, halten sie vor Palästen, vor prachtvollen Mosaiken und Teppichen ihre Kameras an Stangen in die Höhe, lächeln gekünstelt und fotografieren sich selbst.«

Er machte es vor.

»Einzig Allah, der Allwissende, vermag so etwas zu begreifen. Dabei sind sich doch die Menschen im Wesentlichen gleich, oder etwa nicht?«

Übertrieben zupfte er an seinen Haaren, den Ohren und zeigte auf Mund und Augen.

»Ich meine grundsätzlich. Gut, manche haben andere Haut- und Augenfarben als wir und sprechen fremde Sprachen, aber im Prinzip? Wir alle haben Träume, wir lachen und weinen, kennen Hoffnung und Angst, wir ehren Vater und Mutter und lieben unsere Frauen und Kinder – und wenn die Stunde gekommen ist, sterben wir. Alle. Menschen sind gleich. So war es und so ist es, zu allen Zeiten.«

Zustimmendes Murmeln und Nicken.

»Nur deshalb fühlen wir mit den anderen, erkennen ihre Nöte, wissen, was in ihren Herzen vorgeht, und lernen daraus, ohne selbst zu leiden. So ist unser Leben letzten Endes eine Abfolge vieler Leben, vieler Entscheidungen und Konsequenzen, die uns formen.«

Auf den Gesichtern der Zuhörer machte sich Ratlosigkeit breit. Nicht alle Menschen grübelten so leidenschaftlich gern über die menschliche Natur wie er, daher schwenkte er rasch auf das heutige Thema ein.

»Was nun meine Geschichte angeht, dazu ließe sich vieles anmerken. Manche von euch werden sie anzweifeln, doch so wahr mir Allah helfe: Sie hat sich genauso zugetragen, wie ich sie erzähle. Ich werde von Menschen berichten, wie jeder sie kennt, Menschen, die Hoffnung, Leid und Angst erleben und sich bemühen, das Richtige zu tun. Denn stehen wir nicht alle eines Tages vor dem Allmächtigen, der unsere Taten auf der Waage der Gerechten prüft? Und wenn uns auch das Leben Wunden schlägt und niemand die Prüfungen vermeiden kann, die er uns schickt, bemühen sich die meisten von uns doch, anständig zu bleiben, und zwar ebenso in Zeiten des Überflusses wie in solchen der Not. Mag uns also auch nicht alles gelingen, so gewährt uns Allah in seiner Gnade doch Tag für Tag die Möglichkeit, uns neu zu bewähren. Aber«, mahnend hob er den Finger, »vergessen wir nicht: Es gibt auch die anderen! Ich werde also ebenso von Menschen erzählen müssen, die andere unterdrückten, um sich selbst groß und wichtig zu fühlen. Besonders von einem Mann, der die Mehrung seiner Macht und seines Reichtums über alles stellte und dessen Weg buchstäblich Leichen säumten, werde ich sprechen. Schon immer frage ich mich: Fürchten solch gierige Menschen nicht die Stunde ihres Todes, die doch für jeden unweigerlich kommt?«

Touristen reckten die Hälse und spähten über die Schultern seiner Zuhörer. Er sah ihre fragenden Gesichter: ein Zauberer, ein Prediger, eine beginnende Rebellion? Keine Attraktion durfte man verpassen! Ach, nur ein Alter, der in seiner unergründlichen Sprache zu Einheimischen redete? Wie es wohl wäre, überlegte er, auch diese Fremden mit seinen Geschichten zu unterhalten? Doch wer von ihnen verstand schon Arabisch, von Tamazight und anderen Berbersprachen ganz zu schweigen? Und selbst wenn – würden sie wegen irgendeiner rätselhaften Geschichte den Anschluss an die eigene Reisegruppe verlieren wollen? Lieber ließen sie sich von ihren Guides zum nächsten Programmpunkt auf ihrer Liste treiben.

Er seufzte, wandte sich wieder dem größer werdenden Kreis seiner Zuhörer zu und blickte in ihre erwartungsfrohen Gesichter. Einige waren lederbraun und zerklüftet wie das Gebirge, andere hell und glatt, manche weich und rund, manche hager, und wieder andere wirkten krank oder sorgenvoll. Nur die Jungen sahen stark aus, und die Überzeugung, über alle Fragen des Lebens bereits bestens Bescheid zu wissen, leuchtete in ihren Augen. Und doch hingen auch sie an seinen Lippen. Al hamdullillah, alles war, wie es sein sollte.

Er räusperte sich. »Lasst euch sagen, meine lieben Freunde: Gegenwart und Zukunft entstehen aus der Vergangenheit. Vieles von dem, was heute geschieht, versinkt schon morgen in den Schatten des Gestern und noch früherer Zeiten. Andere vergangene Ereignisse aber sind wie Tore. Wir öffnen sie, gehen hindurch und erkennen, dass das Vergangene dahinter immer noch in uns ist. Noch Jahre, sogar Jahrzehnte später wiegt es so schwer, dass wir sein allmähliches Vergessen nicht hinnehmen wollen oder können. Von solchen Begebenheiten wird nun die Rede sein, inshallah.«

Weit breitete er die Arme aus, und das letzte Gemurmel erstarb. Sogar das Knattern der Mopeds, die grellen Trompeten der Schlangenbeschwörer und die Tambourine der Tänzer schienen leiser zu werden.

»Denn kein Mensch steht für sich allein, wir alle sind Teile eines größeren Ganzen. Heute und an den kommenden Abenden werde ich also von Hassan und seiner Familie erzählen. Einst war sie im fruchtbaren Tal des Draá ansässig, schlichtete im Namen des Sultans Streitigkeiten und sprach Recht. Für dieses Amt wurde man von den Bewohnern der Region erwählt. Starb ein caïd oder konnte er sein Amt aus anderen Gründen nicht mehr ausüben, einigte man sich auf einen seiner Söhne als Nachfolger, der sich dieser Pflicht beugte und dem Sultan Treue schwor. Heißt es nicht: Vertraust du dem Vater und dem Großvater, so vertraue getrost auch dem Sohn? Jedenfalls urteilten alle Caïds dieser Familie gerecht, und ihr Wort wurde befolgt. Es waren angesehene Männer.«

Er hob die Hände und ballte sie zu Fäusten. »Doch sie hatten einen Neider, einen Widersacher, der keine Skrupel kannte. Er kam aus den Bergen und besaß Macht, aber – Allah sei es geklagt – kein Gewissen. Auch Ehre bedeutete ihm nichts, erst recht nicht Gerechtigkeit. Für ihn zählten allein Reichtum und Einfluss. Nun, vielleicht wäre für die Caïd-Familie trotzdem alles glimpflich ausgegangen, hätten sich nicht eines Tages drei djinn auf die Seite dieses Mannes geschlagen. Wie wir wissen,...