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Der Wächter von London - Roman

Der Wächter von London - Roman

Benedict Jacka

 

Verlag Blanvalet, 2020

ISBN 9783641248987 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 


1


Die Nacht war warm und still. Eine sanfte Brise wehte durch die geöffneten Fenster in meine Wohnung und roch schwach nach Asphalt, verbranntem Gummi und Barbecue. Das anhaltende Rauschen des Verkehrs drang von der Straße herauf, Stimmen übertönten kurz die Hintergrundgeräusche, bevor sie wieder damit verschmolzen, und das rhythmische Hämmern von Musik aus einem Club dröhnte von zwei Blocks weiter herüber. Ein Helikopter schwebte am Himmel, folgte dem Heulen der Polizeisirenen; von Zeit zu Zeit flog er mit ratternden Rotorblättern über das Haus.

In meiner Wohnung war es friedlich. Unter der Lampe zogen Mücken träge ihre Bahnen, Vögel und andere Tiere blickten von den Bildern an den Wänden herab. Der Kaffeetisch stand in der Mitte des Raums, er war mit Hexplatten aus Karton und Holzspielfiguren übersät. Vier von uns fünfen hatten darum herum Platz genommen. Sonder und ich saßen auf Stühlen, Luna im Schneidersitz auf einem Sitzsack und Variam am Ende des Sofas, wo er finster auf seine Karten blickte. Am anderen Ende des Sofas und ein wenig vom Spiel abgerückt, hatte Anne sich mit angezogenen Beinen zusammengerollt.

»Äh, Variam?«, sagte Sonder. Sonder hat wuscheliges schwarzes Haar und trägt eine Brille. Er wirkt immer etwas schmuddelig, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. »Du bist dran.«

Variam nahm die Würfel und warf sie, ohne hinzusehen. »Sieben.«

Luna sah nach. »Das ist eine Acht, du Idiot.«

Sonder strahlte. »Hervorragend! Fünf Erz, zwei Getreide.«

Variam ignorierte sie beide. »Wir sollten trainieren«, sagte er an mich gewandt.

»Du trainierst seit Wochen«, erwiderte ich und wartete, dass Sonder seine Karten aufnahm, bevor ich nach meinen griff.

»Das ist besser, als nur hier herumzusitzen.«

»Bist du fertig?«, fragte Sonder Variam.

Variam nickte, und Sonder nahm die Würfel. »Wir könnten mehr Kampftraining machen«, meinte Variam, als Sonder würfelte.

»Du brauchst kein weiteres Kampftraining.«

»Sie schon«, sagte Variam und deutete auf Anne.

Luna sah Variam verärgert an.

»Du gehst morgen zu einer Beratung, nicht zu einem Kampf«, sagte ich, bevor Luna Streit anfangen konnte. »Sie will bloß ein wenig über dich erfahren. Mich würde es überraschen, wenn sie dich auch nur darum bitten würde, einen Zauber zu wirken.«

Sonder sah zwischen uns hin und her.

»Vielleicht sollten wir ihr zeigen, was wir können«, sagte Variam.

»Variam, sie ist eine kleine alte Dame«, erwiderte ich. »Sie lebt in einem Reihenhaus in Brondesbury. Sie wird wohl keine Vorführung verlangen, um zu sehen, wie gut ihr Dinge einäschern könnt.«

Variam lehnte sich mit gereiztem Blick zurück.

»Äh«, sagte Sonder. »Ich bekomm eine Stadt und eine Entwicklungskarte.« Er schob die Würfel zu Luna. »Du bist dran.«

Luna wartete, bis Sonder die Hand zurückgezogen hatte, bevor sie die Würfel nahm und warf. Meiner Magiersicht zufolge erschien Lunas Fluch als silbrige Aura, die sich um ihre Gliedmaßen und ihren Körper wand wie lebendiger Nebel. Silberne Ranken tasteten über die Würfel, während diese hüpften, und verschwanden, sobald sie still dalagen.

»Sieben«, sagte Luna zufrieden. »Lass mal sehen, der Räuber kann …« – sie nahm die schwarze Figur und zog damit einen Kreis über dem Brett – »… dorthin.« Sie platzierte den Räuber auf Variams Siedlungen und hielt die Hand hin, die Finger ausgestreckt. »Gib her.«

Variam sah auf. »Was?«

»Karte, bitte.«

»Warum hast du es auf mich abgesehen? Sie gewinnen doch!«

»Dich zu ärgern macht mehr Spaß. Karte, bitte.«

Variam verzog das Gesicht und hielt ihr schlecht gelaunt seine Karten hin. Luna ließ sich Zeit, eine auszusuchen, und Variams finstere Miene wurde noch finsterer, als sie endlich eine zog. Der silbrige Nebel ihres Fluchs hielt sich dabei dicht an ihren Fingern. Lunas Fluch bringt Pech, und er ist ziemlich gefährlich: Schon eine einzige Strähne dieses Nebels kann Schaden anrichten, und Hautkontakt ist tödlich. Früher einmal hätte Luna niemandem so nahe kommen können, ohne ihn oder sie in Gefahr zu bringen, aber sie trainierte jetzt schon seit beinahe anderthalb Jahren, den Fluch unter Kontrolle zu halten, und das zahlte sich aus. Der silbrige Nebel haftete an ihrer Haut, hell und dicht; nur ein paar schwache Spuren hatten sich auf die Spielfiguren gelegt und umgaben sie mit winzigen silbernen Auren. Die Auren um ihre Figuren waren kein Problem: Ihr Fluch richtet bei Objekten nicht viel aus. Lebende Wesen sind eine andere Sache.

Ich bekam den Würfel, und nachdem die Rohstoffe ausgezählt worden waren, blickte ich auf meine Hand. Wer zuerst zehn Punkte hatte, gewann, und ich hatte jetzt acht. Ich sah in die Zukunft, in der ich die oberste Entwicklungskarte aufdeckte, es wäre ein Siegpunkt. »Siedlung«, sagte ich, legte das Holzspielteil auf die Karte und stand auf. »Ich hole was zu trinken. Möchtet ihr was?«

»Könnte ich ein Wasser bekommen?«, fragte Sonder.

»Ich möchte zwar was trinken, aber ich weiß nicht, was«, sagte Luna.

»Vielleicht ist ja noch was von der Limo übrig, die ich gestern gemacht habe«, meinte Anne mit ihrer leisen Stimme. »Holunderblüte und Limette?«

Luna richtete sich auf. »Oh, die war lecker.«

Ich ging in die Küche, griff nach der Flasche in dem Kühlschrank und goss etwas in ein Glas, als ich spürte, dass jemand hinter mir war. Ohne aufzublicken, hielt ich das Getränk hin, und es wurde mir nach einem Augenblick aus der Hand genommen. »Danke«, sagte Anne.

Anne ist groß und schlank, nur gut zwei Zentimeter kleiner als ich, mit schwarzem Haar, das ihr bis auf die Schultern fällt, und rotbraunen Augen. Sie sticht hervor, aber sie hat dennoch eine ruhige, unauffällige Art, die keine Aufmerksamkeit erregt. »Was ist?«, fragte ich und füllte ein weiteres Glas.

»Du hättest das Spiel gewinnen können, nicht wahr?«, fragte Anne.

Mit einem Lächeln drehte ich mich um. »Ich brauche wohl ein besseres Pokerface.«

Im Wohnzimmer hörte ich erhobene Stimmen: Variam und Luna stritten wieder. »Hast du sie gewinnen lassen?«, fragte Anne neugierig.

»Luna oder Vari hätten ihre Karten mit mir tauschen müssen, damit ich gewinne«, sagte ich. »Vielleicht hätte ich sie überzeugen können, aber dafür hätte ich lügen müssen.«

»Und das ist es dir nicht wert?«

»Ich habe genug zweifelhafte Sachen gemacht«, sagte ich. »Ich behalte lieber meine Freunde, außer es gibt einen wirklich guten Grund.«

Anne schenkte mir ein Lächeln, dann verschwand es rasch wieder. Sie blickte über ihre Schulter zu den Schränken hinauf.

»Stimmt was nicht?«, fragte ich.

»Da ist jemand draußen.«

Wachsam horchte ich auf. »Wo?«

Anne ist eine Lebensmagierin, und zwar eine mächtige. Die meisten Menschen halten Lebensmagier für Heiler, und damit haben sie zum Teil recht, aber Lebensmagie ist sehr viel mehr als das. Sie verleiht einem die Kontrolle über jeden Aspekt eines Lebewesens, mit einer einzigen Berührung kann man es heilen oder ihm Schaden zufügen. Lebensmagier spüren Leben, sie »sehen« Lebewesen, und Anne ist darin besonders gut. Ihre Treffsicherheit ist erstaunlich: Indem sie eine Person einfach nur ansieht, erfährt sie in einer Minute mehr über sie als ein Arzt in vierundzwanzig Stunden mit einer kompletten Krankenhausausrüstung. Ich habe nie herausfinden können, wie sie das anstellt, obwohl sie es mir mehrmals zu erklären versucht hat. Sie scheint einen Körper so zu lesen wie unsereins die Miene eines Menschen.

In der Praxis heißt das, dass Anne wirklich ganz hervorragend darin ist, Menschen aufzuspüren – sie bemerkt sie durch Wände, Böden und sogar massiven Fels, wenn sie das möchte, und hat sie einmal jemanden kennengelernt, erkennt sie ihn mit absoluter Treffsicherheit wieder.

»Er war unten auf der Straße«, sagte Anne. »Zuerst habe ich nicht darauf geachtet, aber … er ging weg und ist dann hoch aufs Dach. Ich habe den Eindruck, er will uns beobachten.«

»Wer ist es?«

»Ich bin ihm noch nie zuvor begegnet«, sagte Anne. »Er ist etwa achtzehn, nicht sehr groß oder stark, aber er ist gesund, und er ist allein.« Sie deutete in einem leichten Winkel nach oben. »Gut zwanzig Meter in die Richtung.«

»Im Moment ist niemand hinter dir oder Vari her, stimmt das?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Anne.

Ich fragte aus gutem Grund. Anne und Variam könnte man als sehr fortgeschrittene Lehrlinge bezeichnen: Sie sind keine Magier, aber sie sind so erfahren, dass sie es eigentlich sein sollten. Vor vier Jahren hatten sie sich auf einen Magier namens Sagash eingelassen. Die offizielle Geschichte (zumindest die, an die der Rat glaubt) lautet, dass Anne und Variam als Lehrlinge in Sagashs Dienste getreten waren und ihn neun Monate später wieder verließen. Tatsächlich hatte Sagash Anne entführt und sie gefoltert, bis sie seinen Befehlen Folge leistete. Variam spürte sie auf, und es kam zu einem gewaltigen Kampf. Ihre nächste Stelle war bei einem Rakshasa namens Jagadev, der ihnen Zutritt zum Lehrlingsprogramm der Weißmagier verschaffte und sie in seinen Haushalt aufnahm, bis Anne im letzten Winter vom Rat wegen des Verdachts auf Mittäterschaft bei einem Mord festgenommen wurde. In der Folge warf Jagadev sie hinaus, und ich ließ sie bei mir einziehen. Mit einer solchen Geschichte zieht man eine Menge Aufmerksamkeit auf sich, und seit ich Anne und Variam...