dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Bäckerei der Wunder - Roman

Christian Escribà, Sílvia Tarragó

 

Verlag Heyne, 2020

ISBN 9783641257484 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Bauernbrot


»Hast du dich verlaufen, mein Junge?«, erkundigte sich der Wirt des Gasthauses bei Mateu.

Bei seinem Eintreten hatte der Junge sämtliche Blicke auf sich gezogen. In der Schenke an der Landstraße von Arboç, einem kleinen Durchgangsort in der Nähe von Tarragona, kehrte stets ein bunt gemischtes Volk ein. Doch dass unversehens ein allein reisender Knabe auftauchte, war ungewöhnlich.

»Nein, ich bin auf dem Weg nach Barcelona.«

»Ganz allein? Das ist aber ein ganz schönes Stück …«

»Ich weiß, ich bin schon seit Tagen unterwegs.«

Die Reisenden an den Holztischen waren verstummt und lauschten dem Gespräch zwischen dem Gastwirt und dem Jungen.

»Woher kommst du denn?«

»Aus Torregrossa, einem Dorf bei Lleida. Von dort bin ich vor drei Tagen aufgebrochen. Ich bin gut vorangekommen, weil ich unterwegs auf einem Wagen mitfahren und auf einem Esel reiten durfte.«

»Und warum bist du fortgegangen? Für einen jungen Burschen wie dich kann es unterwegs sehr gefährlich sein.«

»Ich hatte dort niemanden mehr, und mir gefiel meine Arbeit nicht. Aber in Barcelona habe ich zwei Brüder. Wenn ich sie finde, helfen sie mir bestimmt. Und wenn nicht, schlage ich mich schon irgendwie durch.«

Die Gäste waren erstaunt über Mateus Entschlossenheit. Als die Gespräche allmählich wieder in Gang kamen, drehten sie sich nun alle um ihn. Es verwunderte die Leute, dass der Knabe, der offenkundig noch keine elf Jahre alt war, die neunzig Kilometer zwischen seinem Dorf und dem Städtchen Arboç ganz allein hatte zurücklegen können. Und dann wollte er mit seinem kleinen Bündel auch noch bis nach Barcelona.

Auch dem Gastwirt gingen die Geschichte und die Entschlossenheit des Jungen zu Herzen. Daher bot er ihm im Gegenzug für tatkräftige Mitarbeit in der Schankstube freies Logis an. Mateu nahm den Vorschlag dankend an, der es ihm erlaubte, wieder zu Kräften zu kommen, bevor er sich baldmöglichst erneut auf den Weg machen würde. Diese Gelegenheit durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen, das hatte er aus den leidvollen Erfahrungen in seinem bisherigen Leben gelernt. Schon unterwegs hatte er sich auf seinen siebten Sinn verlassen können, wenn ihm andere Reisende angeboten hatten, ihn ein Stück des Wegs mitzunehmen. Früher oder später würde sich der Aufenthalt in Arboç als nützlich erweisen, davon war er fest überzeugt. Und damit traf er abermals ins Schwarze.

Am Tag nach seiner Ankunft im Gasthaus suchte ihn der Bürgermeister auf, der von der ungewöhnlichen Wanderschaft des Jungen erfahren hatte und mehr darüber wissen wollte. Mateu schilderte ihm ausführlich seine Lage und was er vorhatte. Nachdem sich der Bürgermeister die Geschichte angehört hatte, kam er auf eine Idee, wie er den Jungen gesund und sicher nach Barcelona schaffen könnte.

»Ein Bekannter von mir verkauft in der Stadt Sägemehl. Er ist ein guter Mensch, und wenn ich ihm von dir erzähle, lässt er dich sicher mitkommen. Und vielleicht hat er sogar Arbeit für dich.«

Der Bürgermeister sollte recht behalten. Sobald der Sägemehlverkäufer von der Reise des wild entschlossenen jungen Burschen hörte, bot er ihm an, sein Gehilfe zu werden. So gelangte Mateu Serra schließlich auf einem mit Säcken voller Holzstückchen beladenen Wagen nach Barcelona.

Dort angelangt, wurde ihm bewusst, dass es nicht einfach sein würde, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, so bescheiden dieses auch sein mochte. Die Stadt war bedeutend größer, als er erwartet hatte. Wie sollte er in diesem Häusermeer seine Brüder ausfindig machen? Ohne andere Orientierungspunkte als das nahe Meer oder die geschwungenen Umrisse der Serra de Collserola in der Ferne fühlte er sich verloren.

In den ersten Tagen war er wie erschlagen von der schieren Größe der Stadt, die ihn schwindeln ließ. Barcelona war im Zuge der Weltausstellung stark gewachsen, einem Ereignis, das der Stadt nicht nur herrliche modernistische Gebäude, sondern auch eine neue Blütezeit beschert hatte.

Mateu begriff schnell, dass es ihm in dieser Situation ein Leichtes sein würde, sein Auskommen zu finden. Beseelt von dieser Gewissheit, lieferte der Junge Säcke mit Sägemehl aus und widmete sich daneben der Aufgabe, seine Verwandten zu finden. Nach und nach lernte er die Verkehrsadern kennen, die die Stadt durchschnitten, und fühlte sich im Straßengewirr bald nicht mehr so verloren. Überdies kam er auf diese Weise in Kontakt zu Einheimischen, die womöglich etwas über seine Brüder wissen mochten.

Bei jeder passenden Gelegenheit wandte sich der Junge an Kaufleute und Händler und erkundigte sich nach seinen Verwandten. In einer Großstadt, die schon fast eine halbe Million Einwohner hatte, war das wahrlich kein leichtes Unterfangen, doch er hatte die Hoffnung, dass man in einer der Bäckereien, in denen er seine Sägespäne feilbot, von seinem Bruder Anton gehört hatte, der Bäcker war. Sobald er in die Läden kam, sprach er daher die Bäckersleute auf Anton an. Nur seiner unerschütterlichen Geduld und der Ausdauer, die er im Laufe seines noch kurzen Lebens entwickelt hatte, hatte es Mateu zu verdanken, dass er nicht den Mut verlor, wenn seine Nachforschungen wieder einmal nicht von Erfolg gekrönt waren.

Nach tagelanger ergebnisloser Suche erhielt er in einer Bäckerei im Stadtzentrum endlich den ersehnten Hinweis. Nachdem er daraufhin eine Weile durch die Straßen geirrt war, fand er schließlich die Adresse seines Bruders.

Als Mateu dann unvermittelt vor der Tür stand, erkannte Anton ihn im ersten Moment nicht. Sie hatten sich seit dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren nicht mehr gesehen, und in dieser Zeit hatte sich der Junge stark verändert. Seine dunklen, lebhaften Augen waren noch dieselben, aber die weichen, kindlichen Züge waren herber geworden, und die langen Stunden harter Arbeit hatten seine Statur gekräftigt.

»Erkennst du mich etwa nicht?«, musste der Junge fragen, als sein Bruder in der Tür stehen blieb und ihn verdutzt musterte.

»Ja doch, natürlich!«, antwortete Anton zögernd und trat zur Seite, um Mateu hereinzubitten. »Ich habe nur nicht mit dir gerechnet. Aber sag mal … was machst du denn hier? Und wie hast du mich gefunden?«

»Glaub ja nicht, dass das leicht war. Ich musste lange herumfragen. Ich bin schon vor einer Woche nach Barcelona gekommen, mit einem Holzhändler, den ich in Arboç kennengelernt habe. Ich arbeite jetzt für ihn.«

»Warst du nicht Knecht auf einem Bauernhof?«

»Ich habe gekündigt. Es gefiel mir dort nicht, und da habe ich mir ein Beispiel an dir und Llorenç genommen. Weißt du übrigens etwas über ihn?«

»Er führt nicht weit von hier eine Pension. Wir gehen nachher zu ihm. Ich bin gespannt, was er für ein Gesicht macht, wenn er dich sieht … Junge, wie du dich verändert hast. Aus dir ist ja beinahe ein richtiger Mann geworden!«

Nachdem Mateu seinem Bruder ausgiebig von seiner abenteuerlichen Reise nach Barcelona erzählt hatte, erkundigte sich Anton nach seiner Arbeit.

»Die Sache mit dem Sägemehl ist gar nicht schlecht«, sagte er. »Aber wir wollen versuchen, etwas Besseres für dich zu finden.«

Einige Tage später hatten seine beiden Brüder Mateu eine Anstellung als Kohlenbote verschafft. Allerdings konnte der Junge weder lesen noch schreiben. Das erschwerte es ihm, die Adressen zu finden, an denen er die Ware abliefern sollte. Anton und Llorenç halfen ihm, so gut sie konnten. Sie erklärten ihm jedes Mal den Weg und brachten ihm mithilfe eines Kartenspiels bei, Ziffern zu erkennen. Auf diese Weise machte der blitzgescheite Mateu sein mangelndes Wissen wett und schlug sich in seiner neuen Arbeit wacker.

Nach kurzer Zeit kannte der Junge bereits sämtliche Straßen, Plätze und Alleen der Stadt und wusste, welche Geschäfte dort angesiedelt waren. Überdies schulte der Verkehr mit den Kunden seine Menschenkenntnis und Umgangsformen, was ihm in den kommenden Jahren gute Dienste erweisen sollte.

Mit vierzehn Jahren kam Mateu in das Alter, in dem er einen Beruf erlernen konnte, und er begann, als Lehrling in der Bäckerei seines Bruders Anton zu arbeiten. Zwar hatte es ihm gefallen, als Kohlenbote durch die Straßen der Stadt zu streifen, doch in seiner neuen Tätigkeit eröffnete sich ihm eine faszinierende Welt. In der Backstube kam ihm das Leben viel intensiver und unmittelbarer vor. Manchmal schien sich sogar die Zeit anders anzufühlen. Wie Mehl, dicht und flüchtig zugleich und unendlich kostbar.

Zum ersten Mal im Leben fand er wirklich Gefallen an dem, was er tat. Es war ein unbezahlbares Gefühl, aus so einfachen Zutaten wie Mehl, Salz und Wasser etwas so Edles und Lebenswichtiges zu erschaffen wie Brot. Sobald er die Grundlagen des Handwerks beherrschte, wagte er sich daher an eine eigene Kreation, die er Bauernbrot nannte.

Für den Teigansatz häufte er Mehl auf, in das er eine Mulde drückte, und gab Salz, Hefe und Wasser hinein. Dann knetete er alles so lange, bis er einen geschmeidigen Teig erhielt, den er unter einem feuchten Tuch zwei Stunden lang ruhen ließ. Für den Brotteig schichtete er einen Vulkan aus vier verschiedenen Mehlsorten mit Weizenschrot und Salz auf. Nachdem er behutsam alles vermischt hatte, fügte er Wasser hinzu, bis sich eine zähe, weiche Masse bildete, zu der er langsam den Sauerteig hinzugab. Dann ließ er das Ganze unter einem feuchten Tuch für eine Dreiviertelstunde an einem warmen Ort gehen. Anschließend teilte er den Teig und formte ihn zu Brotlaiben, die er erneut mit einem feuchten Tuch bedeckte, bis er sie am nächsten Tag backen konnte.

Er konnte nicht...