dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Eine Liebe in Neapel - Roman

Heddi Goodrich

 

Verlag btb, 2020

ISBN 9783641245887 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

1


»Heddi.«

So hatte schon lange niemand mehr meinen Namen ausgesprochen, als wäre es der Name einer exotischen Spezies. Er sagte ihn in fragendem Ton, aber mit perfekter Aussprache, als hätte er ihn tausendmal geübt – mit jeder Menge Hauch und kurzen Vokalen –, bis er ihm mit der allergrößten Lässigkeit über die Lippen kam. Kein anderes Geräusch im Spanischen Viertel, weder der mörderische Schrei einer betrogenen Frau noch die Gewehrsalve eines Mannes, der Rache übt, hätte mich in jener eisigen Nacht vom warmen Flüstern des Kamins wegtragen können.

Vor mir stand ein Junge, ein Mann, mit erwartungsvoll zusammengekniffenem Mund, als hätte er seine Pflicht und Schuldigkeit getan und jetzt wäre ich dran. Er hatte sein Hemd in die Jeans gesteckt, die Hände bis fast zum Ellbogen tief in die Hosentaschen geschoben, und die Hemdentasche, direkt über dem Herzen, war zum Bersten gefüllt mit einer Schachtel Zigaretten. Er sah ganz anders aus als die anderen Gäste, die mit allen Mitteln, ob es nun Piercings, Rastalocken oder eine ungesunde Blässe waren, versuchten, über ihre glückliche Kindheit mit hausgemachten Kartoffelgnocchi und Ausflügen ans Meer hinwegzutäuschen. Obwohl es schon spät war, hing der Geruch von Patschuli, Haschisch und Klamotten vom Flohmarkt in unserer Küche, vermischt mit den Aromen von abgestandenem Bier und Safranrisotto. Nein, der da gehörte ganz gewiss nicht zu unserer Clique, in der alle an der Orientale, Neapels Universität, studierten. Und trotzdem stand er da, gelassen und ungerührt wie das sprichwörtlich stille Wasser eines tiefen Sees.

»Da, nimm, die hab ich für dich aufgenommen«, sagte er und zog etwas aus seiner Hosentasche. Zweifellos hatte er einen süditalienischen, wenn auch nicht ganz neapolitanischen Akzent. Seine Hand zitterte, ein winziges Beben im sonst stillen Wasser des Sees, als er mir die Kassette gab, die in einer selbstdekorierten Hülle steckte. Für Heddi, stand da, vom großen H bis zu dem winzigen Tintenfleck am Ende, dem Pünktchen über dem i, von dem ich schon fast vergessen hatte, dass es dorthin gehörte.

Ich staunte. Es war genau die Schreibweise meines Namens, die seine Aussprache zum Entgleisen brachte, denn sie machte es leicht, den Namen buchstäblich ins Extrem zu führen, mit diesem melodramatisch gedehnten e und dem gebührend betonten doppelten Konsonanten, den man sich hier im Süden ganz besonders zu Herzen nahm. Hingegen war es verzeihlich, dass dafür das H vollkommen unter den Tisch fiel, denn in Neapel kamen Hauchgeräusche ausschließlich beim Lachen vor. »So wie bei Eddie Murphy?«, fragte man mich oft, ich nickte, und damit hatte sich der Fall. Es machte mir sowieso nicht viel aus. Heddi gab es schon länger, Eddie erst seit einiger Zeit.

»Musik?«, fragte ich ihn, und er nickte, mit deutlich sichtbarem Unbehagen, die Faust fest um eine leere Bierflasche geschlossen.

Das flackernde Kaminfeuer wärmte ebenso angenehm meinen Rücken wie das ahnungslose Gelächter meiner Freunde, die ich liebevoll »die Jungs« nannte. Die Tatsache, dass auch ich dieser Clique angehörte und jederzeit wieder zu ihnen zurückkonnte, schenkte mir das unleugbare Gefühl, vom Glück begünstigt und beschützt zu sein, was ich in genau diesem Moment allerdings als geradezu ungerecht empfand.

Im Stockwerk unter uns fiel die Haustür mit einem dumpfen Knall ins Schloss; wahrscheinlich hatte sich der letzte Gast gerade torkelnd auf den Heimweg gemacht. Der Typ mit der Kassette zuckte sichtlich zusammen, als ihm bewusst wurde, dass die Party, die gerade eben noch um ihn herum getobt hatte, beendet war. Er versuchte seine Verlegenheit zu überspielen, doch ich spürte sie trotzdem, eine Berührtheit, wie ein winziger Schmerz, begleitet von meinem eigenen Bedauern, dass ich wieder mal die Einzige war, die nüchtern geblieben war.

»Ist bestimmt schon spät«, sagte er.

»Ich glaube, ja, aber es gibt nur eine einzige Uhr im ganzen Haus.«

Urplötzlich verlagerte er das Gewicht von einem Bein aufs andere, und ich spiegelte unwillkürlich diese Asymmetrie, indem ich den Kopf auf die Seite legte. Auf diese Weise konnte ich mir immerhin sein Gesicht besser anschauen, das jedes Mal, wenn er Trost im Anblick seiner Schuhe suchte – sie gehörten zu der bequemen, praktischen Sorte –, unter einer schwarzen Mähne verborgen war. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, dafür hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt, denn diesen Blick eines Menschen, der entschlossen ist, sich mit allem, was er tut, Zeit zu lassen, hätte ich niemals vergessen, wären wir uns schon mal begegnet.

»Na dann.« Er stellte behutsam die Bierflasche auf den Küchentresen, als befürchtete er, sie zu zerbrechen, obwohl die Küche mit ihren umgefallenen Flaschen, den fettig verschmierten Pfannen und den weinfleckigen Henkeltassen, die aussahen wie angeknabbert, geradezu nach noch mehr Unordnung schrie.

»Entschuldige, wie heißt du noch mal?«

»Pietro.« Das war ein altmodischer und buchstäblich ein wenig steiniger Name, und er hob die Augenbrauen, als wollte er dafür Abbitte leisten.

»Danke für die Kassette …«, sagte ich, doch sein Name blieb mir im Halse stecken. »Gehst du jetzt?«

»Klar. Ich muss früh raus. Ich fahre morgen nach Hause, in mein Dorf. Das heißt, auf den Hof meiner Eltern, in der Gegend von Avellino. Ich fahre immer über Ostern hin. Na ja, nicht nur über Ostern, aber du weißt ja, wie das so ist …«

Ich wusste nicht, wie das so war, nickte aber trotzdem, dankbar für diese ausführliche Antwort. Ich hatte immer noch die Hoffnung, selbst in diesen allerletzten Sekunden, bevor er ging, (sehr wahrscheinlich würde ich ihn nie wiedersehen) herauszufinden, warum er so vertraut mit meinem Vornamen war, und warum er sich die Mühe gemacht hatte, mir ein Geschenk zu basteln.

»Tja, dann ciao.«

»Ciao, und viel Spaß da unten. Ich meine, da unten auf dem Land … dem Hof.«

In diesem Moment wünschte ich mir nur, dass er endlich ging, nachdem er Zeuge dieser stotternden Doppeldeutigkeit geworden war. Es war zum Verzweifeln, wie mich mein Italienisch, das doch meine allerliebste Verkleidung war, manchmal einfach im Stich ließ, wenn ich mich überrumpelt fühlte.

Ein kurzer Gruß in die Runde, und er ging. Ich kehrte auf meinen Platz am Kamin zurück und schob die Kassette in die Tasche meines Vintage-Minirocks aus Veloursleder. Die Flammen züngelten munter und ohne jeglichen Skrupel an den irgendwo zusammengeklaubten Holzstücken, ob es sich nun um das Bein eines ausrangierten Stuhls oder das Kopfteil eines alten Bettes handelte. Es dauerte nicht lange, und die Wärme hatte auch die letzte Spur der Verlegenheit weggewischt, die man mir vielleicht noch hätte ansehen können.

»Wie hieß der noch gleich, der Typ?«, fragte Luca neben mir, warf einen Zigarettenstummel ins Feuer und stieß eine weiße Rauchwolke aus.

»Pietro, glaube ich«, sagte ich. Erst jetzt kam mir der Name zum ersten Mal über die Lippen, und ich genoss die solide Festigkeit, nach der er klang.

»Ach so, jetzt weiß ich’s. Ist ein Freund von Davide.«

»Welcher Davide?«

»Der Kleine mit den Ringellöckchen«, mischte sich Sonia ein, die ebenfalls zu unserer Clique gehörte.

Davide also. Luca spielte manchmal bei ihm in der Band. Davide, Pietro, was für einen Unterschied machte das schon? Tatsache war, dass wir sowieso niemanden mehr in unserer Clique brauchten. Sie gefiel uns, wie sie war.

Mir gefiel sie.

Vom Spiel der Flammen hypnotisiert, ließen wir die Nacht verstreichen, mondlos, eine Zeit wie in der Schwebe. Wir sprachen über Hinduismus, über das phönizische Alphabet, über mani pulite, den Kampf der Justiz gegen die Korruption. Ab und zu zerbarst ein Holzscheit unter großem Prasseln und Funkenstieben über der Glut, gefolgt von überraschten Ausrufen, wenn einer in der Runde durch das kleine Spektakel aus seiner Versunkenheit erwachte. Kaum zeigte das Feuer Zeichen der Ermattung, griff Luca in den Holzstapel und suchte nach Nachschub. Direkt daneben stand eine akustische Gitarre. Tonino streckte seine behaarte Hand danach aus.

»Die schmeißt du aber nicht da rein«, sagte Angelo, ein weiterer Typ aus der Clique.

»Nein, Tonino, ich bitte dich!«, flehte Sonia.

»Die Party ist vorbei, Kinder«, verkündete der mit schwerem apulischem Akzent und legte sich die Gitarre aufs Knie. »Zeit für ein verdammtes Wiegenlied, ihr Scheißer.«

Jetzt kam der Teil des Abends, der mir am allerbesten gefiel. Toninos vulgäre Ausdrucksweise, durch die wir nur noch näher zusammenrückten, und seine runden Brillengläser, die im Feuerschein wie zwei goldene Ringe aussahen, während er ein Lied anstimmte, das vage an Lucio Dallas Attenti al lupo erinnerte. Mit seinen kurzen, dick behaarten Händen sah er aus wie ein klampfender Gartenzwerg. Und er war überall so behaart. Das wusste ich deshalb, weil er mich einmal gebeten hatte, ihm den Rücken zu rasieren und damit seinen Filzläusen den Garaus zu machen, dem einzigen, unwiderlegbaren Beweis dafür, dass Tonino es tatsächlich geschafft hatte, ein Mädchen ins Bett zu kriegen, laut seinen Angaben eine Spanierin. Als er dann glattrasiert vor mir stand wie ein Lämmchen nach der Schur, hatte sich herausgestellt, dass Tonino fast zarte Züge hatte, die mich aus einem bestimmten Blickwinkel an meinen Bruder erinnerten.

Er sang den Dalla-Song aus voller Kehle und mit einigen Grunzern untermalt. Und es war natürlich nicht der Originaltext. »Da ist so eine winzig kleine Professorin … die will uns...