dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Einwilligung

Vanessa Springora

 

Verlag Blessing, 2020

ISBN 9783641269012 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

I.

DAS KIND

»Wir spüren genau, dass unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet, und wir möchten, dass er uns Antworten gibt, wo er uns doch nur Wünsche geben kann.«

Marcel Proust, Tage des Lesens

Am Anfang meines Lebens, von der Höhe meiner fünf Jahre, warte ich – mein Vorname ist V. – bar jeder Erfahrung auf die Liebe.

Väter sind für ihre Töchter ein Bollwerk. Meiner ist nichts weiter als ein Luftzug. Mehr als an eine körperliche Präsenz erinnere ich mich an den Parfümgeruch von Süßgras, der am frühen Morgen das Badezimmer erfüllt, an herumliegende Männersachen, eine Krawatte, eine Armbanduhr, ein Hemd, ein Dupont-Feuerzeug, an eine bestimmte Art, die Zigarette ziemlich weit weg vom Filter zwischen Zeigefinger und Daumen zu halten, und an seine Gewohnheit, sich immer ironisch auszudrücken, sodass ich nie weiß, ob er scherzt oder nicht. Er geht früh aus dem Haus und kommt spät zurück. Er ist ein viel beschäftigter Mann. Und ein sehr eleganter. Seine beruflichen Tätigkeiten ändern sich so schnell, dass ich ihren Charakter nicht begreife. Wenn man mich in der Schule nach seinem Beruf fragt, bin ich unfähig, ihn zu benennen. Aber er ist ganz unverkennbar ein wichtiger Mann, denn die Außenwelt zieht ihn mehr an als das häusliche Leben. Zumindest stelle ich mir das so vor. Seine Anzüge sind immer tadellos.

Meine Mutter hat mich im frühen Alter von zwanzig Jahren empfangen. Sie ist schön, mit ihren skandinavisch blonden Haaren, den sanften Gesichtszügen, den hellblauen Augen, eine schlanke Gestalt mit weiblichen Kurven und einer melodiösen Stimme. Meine Bewunderung für sie ist grenzenlos, sie ist meine Sonne und meine Freude.

Meine Eltern geben ein schönes Paar ab, wie meine Großmutter oft wiederholt – sie spielt damit auf ihr blendendes, filmreifes Aussehen an. Eigentlich müssten wir glücklich sein, und dennoch gleichen meine Erinnerungen an unser Leben zu dritt in dieser Wohnung, in der ich kurz die Illusion einer familiären Zusammengehörigkeit erlebe, einem Albtraum.

Abends höre ich, unter den Decken vergraben, wie mein Vater brüllt und meine Mutter als »Schlampe« oder als »Hure« beschimpft, ohne dass ich den Grund dafür verstehe. Beim geringsten Anlass, wegen einer Kleinigkeit, einem Blick, einem banalen »unangebrachten« Wort explodiert er vor Eifersucht. Von einem Moment zum anderen fangen die Wände an zu beben, das Geschirr fliegt, die Türen knallen. In seiner zwanghaften Pedanterie erträgt er es nicht, dass man einen Gegenstand ohne seine Zustimmung verrückt. Einmal erwürgt er meine Mutter beinahe, weil sie ein Weinglas auf einer weißen Tischdecke umgestoßen hat, die er ihr vor Kurzem erst geschenkt hatte. Schon bald nimmt die Häufigkeit dieser Szenen dramatisch zu. Es ist, als wäre eine Maschine außer Kontrolle geraten, niemand kann sie mehr aufhalten. Von nun an schleudern sich meine Eltern stundenlang die schlimmsten Beleidigungen ins Gesicht. Bis meine Mutter schließlich zu später Stunde in meinem Zimmer Zuflucht sucht, sich in meinem schmalen Kinderbett an mich presst und lautlos schluchzt, bevor sie sich alleine wieder ins Ehebett begibt. Am nächsten Tag schläft mein Vater einmal mehr auf dem Wohnzimmersofa.

Meine Mutter verbrauchte ihre gesamten Reserven im Kampf gegen diese unbezähmbaren Wutausbrüche und diese Launen eines verwöhnten Kindes. Es gibt kein Heilmittel gegen die Tobsuchtsanfälle dieses Mannes, der als krankhafter Choleriker gilt. Ihre Ehe ist ein endloser Krieg, ein Gemetzel, dessen Ursprung alle vergessen haben. Der Konflikt wird bald auf unilaterale Weise beigelegt werden. Es ist nur noch eine Frage von Wochen.

Und dennoch müssen sie sich wohl einmal geliebt haben, die beiden. Ihre Sexualität, verborgen hinter einer Schlafzimmertür am Ende eines langen Flures, wirkt auf mich wie ein toter Winkel, in dem ein Ungeheuer lauert: Sie ist allgegenwärtig (die Eifersuchtsanfälle meines Vaters sind der tägliche Beweis dafür), aber vollkommen unzugänglich für mich (ich kann mich nicht an die winzigste Umarmung, den winzigsten Kuss, die kleinste Geste der Zärtlichkeit zwischen meinen Eltern erinnern).

Ohne es zu wissen, habe ich schon damals mit aller Macht versucht, herauszufinden, welches Mysterium zwei Menschen hinter einer verschlossenen Schlafzimmertür vereinen kann und was dort zwischen ihnen abläuft. Wie in den Kindermärchen, in denen das Übernatürliche urplötzlich in die Wirklichkeit hereinbricht, so ähnelt die Sexualität in meiner Fantasie einem magischen Prozess, aus dem auf wundersame Weise die Babys hervorgehen und der sich unversehens und oft in unbegreiflicher Gestalt im Alltagsleben Bahn brechen kann. Egal ob die Begegnung mit dieser rätselhaften Macht absichtlich herbeigeführt wurde oder zufällig ist, sie ruft in dem Kind, das ich bin, schon sehr früh eine anhaltende und angsterfüllte Neugier hervor.

Wiederholt erscheine ich mitten in der Nacht in Tränen aufgelöst im Schlafzimmer meiner Eltern, stehe im Türrahmen und klage über Bauchweh oder Kopfschmerzen, wohl mit dem unbewussten Ziel, ihr Liebesspiel zu unterbrechen, dann sehen sie mich mit bis zum Kinn hochgezogenen Bettlaken und einem törichten und seltsam schuldbewussten Gesichtsausdruck an. Vom vorhergehenden Bild, dem ihrer eng umschlungenen Körper, bewahre ich nicht die Spur einer Erinnerung. Es ist wie aus meinem Gedächtnis getilgt.

Eines Tages werden meine Eltern von der Leiterin der Kindertagesstätte einbestellt. Mein Vater kommt nicht mit. Nur meine Mutter hört sich mit sorgenvoller Miene die Schilderung meines Tageslebens an.

»Ihre Tochter ist zum Umfallen müde, man möchte meinen, dass sie nachts nicht schläft. Ich musste ihr ein Feldbett im Klassensaal unserer Vorschule aufstellen. Was geht da vor sich? Sie hat mir von sehr heftigen nächtlichen Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und Ihnen erzählt. Davon abgesehen hat mir eine Betreuerin berichtet, dass V. sich während der Pause oft in den Toiletten der Jungen aufhielt. Ich habe V. gefragt, was sie da macht. Sie antwortete mir mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt: ›Ich wollte David helfen, geradeaus Pipi zu machen. Ich halte ihm den Zipfel.‹ David wurde vor Kurzem beschnitten, und angeblich hat er nun Probleme beim … Zielen. Ich versichere Ihnen, mit fünf Jahren sind solche Spiele ganz und gar normal. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.«

Schließlich fasst meine Mutter einen unwiderruflichen Entschluss. Sie nutzt meinen Aufenthalt im Ferienlager, den sie heimlich in die Wege geleitet hat, um unseren Umzug zu organisieren, und verlässt meinen Vater, ein für alle Mal. Es ist der Sommer, bevor ich in die erste Klasse der Grundschule komme. Am Abend liest mir eine Betreuerin an meinem Bett sitzend die Briefe vor, in denen meine Mutter unsere neue Wohnung, mein neues Zimmer, meine neue Schule, mein neues Viertel, kurzum die neue Ordnung unseres neuen Lebens, beschreibt, das ich führen werde, sobald ich nach Paris zurückgekehrt bin. Vom entlegensten Winkel des Landes aus gesehen, wohin man mich geschickt hat, inmitten der Schreie von Kindern, die in Abwesenheit ihrer Eltern wieder zu Wilden geworden sind, erscheint mir das alles ziemlich abstrakt. Die Betreuerin hat oft feuchte Augen, und ihre Stimme bricht, wenn sie mir mit lauter Stimme die mütterlichen Briefe mit ihrer geheuchelten Fröhlichkeit vorliest. Manchmal findet man mich Stunden nach diesem abendlichen Ritual irgendwo vor der Ausgangstür wieder, weil ich nachts in einem Anfall von Schlafwandeln rückwärts die Treppe hinuntergestiegen bin.

Nach unserer Befreiung von diesem Haustyrannen nimmt unser Leben neuen Schwung auf. Wir leben nun unter dem Dachstuhl. In renovierten Dienstbotenkammern. In meiner kann man kaum aufrecht stehen, aber sie hat überall geheime Winkel und Ecken.

Ich bin jetzt sechs Jahre alt. Ich bin ein fleißiges kleines Mädchen, eine gute Schülerin, gehorsam und brav, irgendwie melancholisch, wie es die Kinder geschiedener Eltern oft sind. Ich empfinde keinerlei inneres Aufbegehren und vermeide jede Form der Regelverletzung. Meine Hauptaufgabe als braver kleiner Soldat besteht darin, meiner Mutter, die ich weiterhin über alles liebe, die bestmöglichen Schulzeugnisse abzuliefern.

Abends spielt sie manchmal viel länger als erlaubt Chopin am Klavier rauf und runter. Andere Male drehen wir die Lautsprecher bis zum Anschlag auf und tanzen bis spät in die Nacht. Die Nachbarn klopfen wütend an die Tür und keifen uns an, weil die Musik zu laut sei, was uns aber nicht weiter kümmert. Am Wochenende nimmt meine Mutter ihr Bad, sie sieht hinreißend aus, wenn sie in der einen Hand einen Kir royal, in der anderen eine JPS hält. Der Aschenbecher steht so auf dem Wannenrand, dass er nicht hinunterfällt, und ihre zinnoberroten Fingernägel bilden einen Kontrast zu ihrer milchigen Haut und ihren platinblonden Haaren.

Die Hausarbeit wird oft auf den nächsten Tag verschoben.

Mein Vater hat einen Dreh gefunden, dass er keinen Unterhalt mehr zahlen muss. So wird am Monatsende manchmal das Geld knapp. Obwohl in unserer Wohnung ein Fest auf das andere folgt und trotz ihrer – immer nur flüchtigen – Liebschaften, stellt sich heraus, dass meine Mutter lieber, als ich gedacht hätte, alleine lebt. Als ich sie eines Tages frage, welchen Stellenwert in ihrem Leben einer ihrer Liebhaber einnehme, antwortet sie mir: »Es kommt nicht infrage, dass ich ihn dir vorsetze oder er deinen Vater ersetzt.« Sie und ich bilden von nun an ein symbiotisches Paar. Kein Mann wird sich jemals wieder zwischen uns...