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Lernschwächen früh erkennen im Vorschul- und Grundschulalter

Lernschwächen früh erkennen im Vorschul- und Grundschulalter

Karlheinz Barth

 

Verlag ERNST REINHARDT VERLAG, 2020

ISBN 9783497613618 , 241 Seiten

7. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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25,99 EUR


 

KAPITEL 2

Früherkennung schulischer Lernstörungen Geht das und hilft das den Kindern?

2.1Ein neuer Lebensabschnitt beginnt

Der Eintritt in das System „Schule“ ist wahrscheinlich der aufregendste und empfindlichste Abschnitt in der kindlichen Entwicklung. Schulanfänger kommen in der Regel mit einer hohen Lern- und Leistungsbereitschaft, aber auch mit großen Unterschieden in den Lernvoraussetzungen in die Schule. Fragt man schulpflichtige Kinder im Kindergarten, ob sie sich auf die Schule freuen oder ob sie lieber noch ein Jahr im Kindergarten bleiben möchten, so fällt die Antwort fast immer zugunsten der Schule aus. Sie freuen sich darauf, ein Schulkind zu werden. Die Kinder haben bei Eintritt in die Grundschule schon bestimmte Vorstellungen davon, was sie dort lernen sollen, nämlich: Lesen, Rechnen und Schreiben. Die Vorfreude auf das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen und dem damit verbundenen Sozialstatus ist bei den meisten Kindern unübersehbar. Sie erhoffen sich von ihrer neuen Rolle einen Zuwachs an Kompetenz und Selbstständigkeit. Mit dem Eintritt in die Grundschule lernen die Kinder aber nicht nur Lesen, Rechnen und Schreiben, sondern sie entwickeln auch zunehmend Vorstellungen über ihre eigene Tüchtigkeit und ihre Fähigkeiten im Vergleich zu ihren Klassenkameraden. Die Wahrnehmung der eigenen Leistungsfähigkeit bei schulischem Lernen steht mit der Entwicklung des Selbstwertgefühls, schulnahen Interessen und Einstellungen in enger Beziehung. Aber auch Eltern setzen große Hoffnungen in das Gelingen dieser Eingangsphase, weil sie die ersten Lernschritte und Erfahrungen ihres Kindes als grundlegend und wesentlich für seine weitere Schullaufbahn ansehen.

Die Mehrzahl der Eltern nimmt an der schulischen Entwicklung ihres Kindes lebhaften Anteil. Mit dem Eintritt in die Grundschule steigen die Erwartungen der Eltern an die Lern- und Leistungsbereitschaft ihres Kindes, denn sie erhoffen sich durch gute schulische Leistungen bessere Lebens- und Berufschancen für ihre Kinder.

Die Erfahrungen, die Kinder vor und in der Eingangsphase in der Grundschule machen, prägen ihre weitere persönliche Entwicklung entscheidend mit (Einsiedler 1988). Erfolge oder Misserfolge des Kindes beim Erlernen der Kulturtechniken Lesen, Rechnen und Rechtschreiben, die Rückmeldungen über Fortschritte in diesen Leistungen durch Lehrer, Eltern oder durch Vergleiche mit Klassenkameraden stärken im positiven Fall sein Selbstbewusstsein, sein Selbstvertrauen und seine Zuversicht in die eigene Leistungsfähigkeit. Bei Misserfolgen entwickelt das Kind Zweifel an seiner Leistungsfähigkeit. Sein Selbstvertrauen, seine Lern- und Lebensfreude wird untergraben und führt unterschwellig zu Schuldgefühlen oder zu der bangen Frage: „Bin ich vielleicht dumm?“

2.2Lernprobleme schon in der Schultüte?

Während sich für die Mehrzahl der Kinder die erhofften Lernerwartungen erfüllen, gelingt es einigen nicht, mit dem Gros der Klasse Schritt zu halten und die angestrebten Lernziele zu erreichen. Tietze und Roßbach (1993) berichten, dass nahezu jedes fünfte Kind, d. h. 20 % der Kinder bis Ende des vierten Grundschuljahres, mindestens einmal segregiert, d. h. zurückgestellt wird, eine Klasse wiederholen muss oder auf eine Sonderschule überwiesen wird. Etwa 7 % dieser Kinder werden als „nicht schulfähig“ zurückgestellt, wobei der Prozentsatz dieser Kinder von Bundesland zu Bundesland, aber auch von Schule zu Schule beträchtlich variiert. 1,8 % der Kinder wiederholen die erste Klasse und 3,3 % die zweite Klasse. Die Klassen drei und vier wiederholen weitere 5 % der Kinder. Zwischen 0,5 % und 1 % der Kinder werden auf eine Sonderschule überwiesen. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass der Schwerpunkt des schulischen Versagens der Kinder eindeutig innerhalb der ersten beiden Grundschuljahre liegt.

Betrachten wir aber Kinder mit Lernschwierigkeiten zu Schulbeginn etwas genauer:

In manchen Fällen gelingt es dem Lehrer, gemeinsam mit Eltern und Kind, die schulischen Anfangsschwierigkeiten zu überwinden. Es gibt aber eine Vielzahl von Kindern, die trotz guter Intelligenz Lernstörungen im Erwerb des Lesens, Rechtschreibens oder Rechnens entwickeln und denen es trotz intensiver Bemühungen nicht gelingt, auf Dauer die angestrebten Lernziele zu erreichen. Bei diesen Schwierigkeiten handelt es sich nicht um vo-rübergehende Erscheinungen, sondern um lang andauernde Schwierigkeiten, von denen immer die Gesamtpersönlichkeit des Kindes betroffen ist. Entwicklungsbeeinträchtigungen und schulische Lernstörungen ziehen vielfältige emotionale und soziale Folgestörungen nach sich. Aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass ca. 10 bis 15 % der Kinder isolierte Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln, wobei ca. 4 bis 6 % der Kinder davon besonders schwer betroffen sind. Auch Breuer und Weuffen (1994) belegen den hohen Anteil von ca. 15 bis 20 % von Kindern, die im Anfangsunterricht beständige Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen aufweisen. Bei ca. 6 % der Kinder (Lorenz 1993) manifestieren sich ausgeprägte Rechenstörungen. Gaddes (1991) referiert epidemiologische Studien, denen zufolge in verschiedenen Ländern übereinstimmend nahezu 10 bis 15 % aller Kinder an behandlungsbedürftigen Lernstörungen leiden.

Die relativ große Anzahl der Kinder, bei denen sich bereits im Anfangsunterricht beständige Lernschwierigkeiten zeigen, müssen uns sehr nachdenklich stimmen. Sie verweisen auf ungelöste Probleme des Übergangs Kindergarten – Grundschule sowie des Anfangsunterrichts hin. Bedrückend sind solche schulischen Misserfolge für viele Kinder und deren Eltern besonders deshalb, weil sie sich vor Schuleintritt scheinbar in keiner Weise angekündigt haben. Die Tatsache, dass ein Kind in vielen Bereichen als kreativ und intelligent erlebt wird, aber beim Lesen-, Schreiben- und/oder Rechnenlernen besondere Schwierigkeiten hat, verwirrt viele Eltern und löst zwiespältige Gefühle bei ihnen aus. Für viele Eltern kommt deshalb das schulische Versagen ihres Kindes meist völlig unerwartet.

Entstehen Lernprobleme, sind Kinder und Eltern schockiert. Letztere fühlen sich hilflos und entwickeln Ängste um die Zukunft ihres Kindes. Besonders die Sorge, dass ihr Kind nicht mit den Lernleistungen der anderen Kinder Schritt halten kann und sie trotz intensiver Bemühungen das geforderte Lernpensum nicht bewältigen können, lässt viele Eltern verzweifeln.

Aus Sorge und Angst um die Zukunft ihres Kindes reagieren sie deshalb oft mit emotionalem Druck. Sie schimpfen und machen ihm Vorwürfe, weil sie glauben, mit Druck die erwarteten Leistungen wieder herbeizaubern zu können. Oft empfinden Eltern die schlechten Leistungen als eine Art Trotz oder Ungehorsam des Kindes. Äußerungen wie: „er könnte, wenn er wollte“ oder: „er will nur nicht“ sind oft Ausdruck eines tiefen Missverständnisses über die Ursachen dieser Lernprobleme.

Nicht selten resultieren deshalb aus den unerwartet aufgetretenen Lernproblemen und dem fehlenden Problemverständnis im Elternhaus Beziehungskonflikte zwischen Eltern und Kind (oder auch zwischen Eltern), die zu einer nachhaltigen Verschlechterung des emotionalen Klimas in der Familie führen und die Lernprobleme des Kindes zusätzlich erschweren. Die Kinder leiden darunter, die Erwartungen ihrer Eltern zu enttäuschen und bei ihren Mitschülern als „dumm“ oder „leistungsschwach“ zu gelten. Die Sekundärfolgen des längerfristigen Versagens in der Schule bei Lese-, Rechtschreib- oder Rechenproblemen, die daraus erwachsenden Selbstwertprobleme und die Kompensationsversuche des Kindes mit dem Ziel, sich in seinem sozialen Umfeld dennoch zu behaupten, Anerkennung und Bestätigung zu bekommen, sind erheblich. Mit den auftretenden Lernschwierigkeiten zerbricht häufig das Selbstbewusstsein des Kindes und infolgedessen indirekt auch das Eingegliedertsein in seine soziale Gruppe.

Als Reaktion auf den ausbleibenden Schulerfolg ziehen sich viele Kinder auf eine resignierende und selbstunsichere Position zurück oder entwickeln Schulängste. Andere wiederum reagieren zunehmend aggressiver, entwickeln psychosomatische Symptome wie Bauchschmerzen, Einnässen, Einkoten, werden zum Klassenclown oder flüchten sich in eine Phantasiewelt. Viele Verhaltensauffälligkeiten entwickeln sich als Folge schulischer Lernstörungen.

Die weit verbreitete Ansicht aber, dass Verhaltensstörungen als Folge schulischer Lernschwierigkeiten entstehen und somit im Wesentlichen als eine Reaktion auf den schulischen Misserfolg zu verstehen sind, ist zwar plausibel und einleuchtend, reicht aber als alleinige Erklärung nicht aus. Von Aster (1996) referiert Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder mit Lernstörungen häufig schon zu einem Zeitpunkt vermehrt Verhaltensstörungen zeigen, wo die schulischen Misserfolge noch nicht bedeutsam waren, also vor Schuleintritt. Bereits im Vorschulalter war bei Kindern, bei denen sich später Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten entwickelten, vermehrt auffälliges Verhalten zu beobachten, besonders bei Jungen. Diese Verhaltensauffälligkeiten nahmen nach Schuleintritt zwischen dem 7. und 9. Lebensjahr noch deutlich zu. Die am häufigsten festgestellte Auffälligkeit war Hyperaktivität (gesteigerte motorische Unruhe), meist in Verbindung mit aggressiven Verhaltensweisen.

Auch Schydlo (1993) referiert, dass bei ca. 20 % der Kinder mit Lese-/ Rechtschreibstörungen hyperaktives Verhalten und Aufmerksamkeitsstörungen (motorische Unruhe, nicht still sitzen bleiben können, leicht ablenkbar, zapplig) bereits seit früher Kindheit und vor Eintritt in die Schule bestand....