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Die Schokoladenvilla - Zeit des Schicksals - Roman

Maria Nikolai

 

Verlag Penguin Verlag, 2020

ISBN 9783641237295 , 640 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3. Kapitel


Stuttgart, die Schokoladenfabrik Rothmann,
zwei Tage später


Es war alles so vertraut. Das breite Treppenhaus, die große Doppeltür, hinter der die Büroräume lagen, das Klappern der Schreibmaschinen, das ans Ohr drang, sobald man diese öffnete und eintrat. Der Geruch nach Papier, Akten und Farbband, die ruhige Konzentration, die im Raum lag, die gedämpfte Unterhaltung der Schreibfräulein. All das kannte Viktoria seit ihrer Kindheit. Sie schloss leise die Tür hinter sich.

»Guten Morgen, Fräulein Rheinberger!« Eine Frau von etwa dreißig Jahren kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Ich bin Lydia Rosental.«

Viktoria erwiderte den Händedruck. »Guten Morgen!« Sie wusste, dass Lydia Rosental das Schreibbüro leitete, seit Frau Fischer voriges Jahr in den Ruhestand gegangen war. Ihre Mutter hatte gestern Abend über den Wechsel gesprochen.

»Sie möchten gewiss zu Ihrer Frau Mutter, Fräulein Rheinberger. Im Augenblick ist sie in der Produktion unterwegs, sie sollte aber gleich wiederkommen. Darf ich Ihnen so lange die Mitarbeiterinnen hier im Büro vorstellen?«

Auf Viktoria wirkte die Situation zunächst befremdlich. Die meisten der Schreibfräulein kannte sie schon, und ihnen nun offiziell vorgestellt zu werden, erschien ihr überflüssig. Aber Fräulein Rosental war bereits zum ersten Tisch gegangen und begann, ihr die Namen der Mädchen und die jeweiligen Aufgaben zu beschreiben. Dabei merkte Viktoria, dass Fräulein Rosental diese Vorgehensweise ganz bewusst wählte, um Viktorias neue Stellung im Unternehmen hervorzuheben. Von nun war sie nicht mehr die Tochter des Firmeninhabers, sondern Vorgesetzte. Die Mädchen schienen diesen Wechsel zu akzeptieren, grüßten höflich und erläuterten ihr Arbeitsgebiet.

Viktoria hörte zu, erkundigte sich nach dem Befinden der Mitarbeiterinnen und bot an, für Fragen jederzeit ein offenes Ohr zu haben.

Sie waren eben am vorletzten Schreibpult angelangt, als Viktorias Mutter in die Büroräume zurückkehrte.

»Vicky! Du bist nicht zu Hause?« Sie eilte zu ihrer Tochter. »Ich hatte dir doch gesagt, dass du dir die ersten Tage Zeit nehmen sollst, um dich von der Reise zu erholen.«

»Es ist schon gut, Mama«, erwiderte Viktoria. »Ich habe mich oben in Degerloch gelangweilt. Und in der Stadt wollte ich mich auch nicht herumtreiben. Mir ist es lieber, wenn ich etwas tun kann. Und Arbeit gibt es vermutlich genug.«

»Das schon.« Judith Rheinberger strich fahrig eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Diese Geste zeugte von großer Erschöpfung. Das schöne Gesicht von Viktorias Mutter war blass, nahezu fahl, unter den Augen lagen ungewohnte Schatten. Unzählige graue Strähnen durchzogen ihr blondes Haar, viel mehr als noch vor wenigen Wochen. Die tiefe Trauer über den Verlust ihres geliebten Mannes war ihr deutlich anzusehen.

»Am besten, wir fangen gleich an«, fuhr Viktoria fort. »Ich habe mich bisher ja eher mit der Herstellung von Schokolade befasst als mit kaufmännischen Dingen. Du wirst mir also viel beibringen müssen.«

»Gewiss.« Judiths Blick verlor sich einen Augenblick in der Ferne. Dann sah sie Viktoria an und legte eine Hand auf ihren Arm. »Die Schokoladenfabrik ist das Erbe deines Vaters und deines Großvaters. Beide wären stolz, wenn sie sehen könnten, dass du in ihre Fußstapfen trittst. Komm, wir gehen ins Büro. Und … danke, Fräulein Rosental, dass Sie Viktoria so freundlich empfangen haben.« Sie nickte der jungen Frau zu.

»Gerne.« Fräulein Rosental wies auf einen Stapel Mappen auf ihrem Schreibtisch. »Ich komme dann später zu Ihnen. Es gibt einige Außenstände und zwei Angebote, die wir besprechen sollten.«

»Gut. In etwa einer Stunde. Bis dahin möchte ich mit meiner Tochter ungestört sein.« Judith ging weiter und schloss die Tür des Büros auf, das sie jahrzehntelang mit ihrem Mann geteilt hatte.

»Selbstverständlich.« Lydia Rosental sah ihr kurz hinterher, dann richtete sie ihren Blick noch einmal auf Viktoria. »Es ist wirklich gut, dass Sie jetzt hier sind, Fräulein Rheinberger.« Die Inständigkeit, die in ihrer Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

Sie wurde hier gebraucht. Mehr als sie geahnt hatte.

Unvermittelt kamen ihr Lucs Worte in den Sinn: Morgen fährst du nach Hause, um neu zu beginnen. Genauso war es. Ein neuer Anfang, auch wenn es schwerfiel. Und ein großer Teil der Kraft hierfür musste von ihr selbst kommen, damit ihrer Mutter Zeit blieb, die Geschehnisse der letzten Wochen zu verarbeiten und neuen Lebensmut zu schöpfen.

»Kommst du, Vicky?« Judith klang ungewohnt ungeduldig.

»Natürlich«, antwortete Viktoria und folgte ihrer Mutter in das abgetrennte Büro, das im Gegensatz zu früher mit zwei großen Glasscheiben ausgestattet war, die eine Sichtverbindung zum Schreibsaal herstellten.

»Machst du bitte die Türe zu?« Judith nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz, der einst Wilhelm Rothmann und nach dessen Tod Victor Rheinberger gehört hatte. Ein wenig verloren wirkte sie dort, doch sie schien ihn sich bereits zu eigen gemacht zu haben. Mit sicherer Hand sortierte sie einige Unterlagen, legte einen Aktenordner zur Seite und zog dann eine Mappe heraus, die randvoll mit Papieren war.

Während Judith diese aufschlug, schloss Viktoria die Tür, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Ihr Blick fiel auf die silberne Schreibgarnitur ihres Vaters mit den eingravierten Initialen V und R. Sein Brieföffner lag daneben, ebenso wie eine Stiftablage aus Marmor, die sie und ihr Bruder Martin ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatten. Es schien, als habe er seinen Platz nur für einen kurzen Moment verlassen und kehrte gleich zurück.

»Ich hätte dir wirklich noch einige Zeit bei Bonnat gegönnt, Vicky«, drang die Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken. »Ich weiß, wie gut es dir dort gefallen hat. Aber …«, Judith blätterte in den Unterlagen, sie schien etwas Bestimmtes zu suchen, »… hier herrscht noch ein großes Durcheinander.«

»Ich weiß.« Viktoria nickte. »Und dass ich nach Hause gekommen bin, ist doch selbstverständlich. Mein Platz ist jetzt hier bei dir. Gemeinsam werden wir das schaffen.«

»Es kommt sehr viel Arbeit auf uns zu.« Judith hielt einen Moment inne. »Zunächst müssen wir einige rechtliche Dinge regeln, auch wenn dein Vater und ich vorgesorgt hatten für den Fall, dass einer von uns stirbt.« Sie legte die Papiere ab. »Gott sei Dank läuft die Produktion weiter«, fuhr sie fort, »auch wenn wir Stockungen bei den Kakaolieferungen haben. Aber ich denke, das sind übliche Vorgänge in einer Situation wie der unseren und vorübergehend. Die Auftragslage ist rückläufig, aber noch nicht besorgniserregend. Zudem werden Kunden wie Lieferanten in absehbarer Zeit mit Sicherheit versuchen, andere Konditionen durchzusetzen.«

»Tatsächlich?«, fragte Viktoria überrascht. »Warum sollten sie …«

»Heil Hitler!« Eine männliche Stimme drang überlaut durch die geschlossene Tür bis zu ihnen herein. Viktoria wandte sofort den Kopf und sah durch das Bürofenster einen kleinen, untersetzten Mann in brauner Uniform im Schreibsaal stehen. Er hatte den ausgestreckten Arm zum Gruß erhoben, so wie es derzeit in Deutschland üblich war. Die Schreibmädchen waren geschlossen aufgestanden und reckten ebenfalls ihre Arme in die Höhe. Fräulein Rosental allerdings deutete die Geste nur an. Ein kurzer Wortwechsel zwischen ihr und dem Besucher, dann marschierte der Mann strammen Schrittes auf die Bürotür zu und riss sie auf. »Heil Hitler!«, rief er noch einmal, schlug hart die Hacken seiner Stiefel zusammen und ließ seinen Arm erneut nach oben schnellen. Die hellbraune Uniform mit den roten Abzeichen und der goldenen Litze am Kragen unterstrich seinen Auftritt. »Frau Rheinberger, ich muss Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.«

Er sprach abgehackt, so als erteilte er einen militärischen Befehl. Viktoria hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Das Gebrüll war schrecklich.

Judith war aufgestanden, hatte eine undefinierbare Geste mit dem rechten Arm gemacht und etwas Unverständliches vor sich hin gemurmelt. »Guten Tag, Herr Weber«, sagte sie kühl. »Was kann ich für Sie tun?«

Viktoria fand es unhöflich, dass er sich nicht vorstellte. Auch wenn er ihre Mutter kannte, so war er für sie selbst doch ein Fremder.

»Diese Angelegenheit sollten wir unter vier Augen besprechen, Frau Rheinberger«, erwiderte Weber. Er zückte eine Aktentasche, die er in der linken Hand gehalten hatte, durchschritt unaufgefordert den Raum und legte sie mit einer energischen Bewegung auf den Besprechungstisch in der hinteren Ecke des Büros.

»Das ist Viktoria Rheinberger, meine Tochter, Herr Weber«, sagte Judith ruhig und deutete auf Viktoria. »Sie arbeitet seit heute ebenfalls in der Leitung der Schokoladenfabrik. Deshalb wird sie Ihr Anliegen genauso aufmerksam anhören wie ich.«

Er hüstelte. »Wenn es sein muss.« Er drehte sich kurz um und nickte Viktoria beiläufig zu. »Kurt Weber mein Name, Ortsgruppenleiter.«

»Guten Tag«, sagte Viktoria distanziert, stand auf und ging ebenfalls zum Besprechungstisch hinüber.

Der Besucher kniff die Augen zusammen.

»Nehmen Sie Platz, Herr Weber.« Judith wirkte unruhig, blieb aber an ihrem Platz stehen.

»Frau Rheinberger.« Kurt Weber setzte sich, ohne dass ihm ein Platz angeboten worden wäre, öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr eine dünne Mappe. »Mit dem Tod Ihres Ehegatten, den ich im Übrigen sehr geschätzt habe, ist die...