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Im Visier des Feindes - Thriller

Im Visier des Feindes - Thriller

Tom Clancy, Mike Maden

 

Verlag Heyne, 2021

ISBN 9783641267957 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

2

Idlib,

Syrien

Der syrische Kämpfer stand auf dem Dach des Wohnhauses, beschirmte seine alternden Augen vor der tief stehenden Sonne und beobachtete die Kinder, die sieben Stockwerke unter ihm auf der Straße spielten. Schwitzend und lachend jagten sie in den langen Schatten der Häuser hinter dem Ball her wie Bienen hinter einem Hund, ohne auf ihre ängstlichen Mütter zu hören, die ihnen zuriefen, sie sollten nach Hause kommen und aufräumen. Er schmunzelte.

Kinder waren überall gleich.

Die Waffenruhe war ein Segen. »Allah sei Dank«, murmelte er vor sich hin. Er sah auf seine Uhr. Eine nervöse Angewohnheit. Das schwindende Licht verriet ihm, dass bald die Stimme des Muezzins aus den Lautsprechern ertönen und zum Maghrib rufen würde.

Anfangs hatte er getobt, als sein Bataillonskommandeur, ein Iraker, den Waffenstillstand mit dem Schlächter Assad und seinen Zahlmeistern, den gottlosen Russen, verkündet hatte. Doch in den letzten neun Wochen hatten sie Zeit gehabt, sich auszuruhen, Waffen, Lebensmittel, Treibstoff und Bargeld einzuschmuggeln und sich neu zu formieren. Jetzt waren sie gegen jeden Angriff aus der Nähe gewappnet, und mit ihren Stinger-Raketen hielten sie die gefürchteten russischen Jets und Helikopter fern. Alle hochrangigen Kommandeure der Al-Nusra-Front waren hier stationiert, selbst der Emir wohnte in Idlib, nur drei Häuserblocks entfernt. Solange die Waffenruhe andauerte, war es hier so sicher wie sonst nirgends in Syrien.

Der Krieg schien jetzt weit weg. Eine ferne, schmerzvolle Erinnerung. So viel Blut vergossen, und wofür? Das Leben war besser als der Tod, oder etwa nicht?

Er hatte Verlangen nach einer Zigarette, selbst jetzt noch, nach all den Jahren. Doch Zigaretten waren haram, und mehrere Männer aus seiner Einheit waren exekutiert worden, nur weil sie geraucht hatten. Aber vielleicht ein starker Kaffee nach dem Abendgebet, sagte er sich und folgte mit den Augen den schwarz gekleideten Frauen, die durch die Straße trippelten und händeklatschend und schreiend versuchten, die lachenden Kinder in die Häuser zurückzutreiben.

Der Adhaˉn begann, eine kräftige Stimme rief die Gläubigen zum Gebet. Die vertrauten Worte wärmten seine Seele. Die Moschee würde heute Abend voll sein.

Er ergriff sein Gewehr und ging zur Treppe. Vielleicht war der Krieg tatsächlich vorüber, und diese Kinder würden endlich in Frieden leben können. Allah sei Dank.

Fünfzehn Kilometer südlich von Idlib

Eine Schweißperle rollte Hauptmann Shafiq Walib übers Gesicht, obwohl das Klimagerät über ihm auf Hochtouren lief. Der syrische Offizier starrte auf den Bildschirm vor ihm, und seine rechte Hand schwebte über dem Hauptabschussknopf.

Der Bildschirm bestätigte den Bereitschaftsstatus der Feuerleitrechner in den Trägerfahrzeugen der sechs TOS-2-Flammenwerfer »Sternfeuer«, die in der Nähe postiert waren. Alle sechs verfügten über einen Raketenwerfer mit siebzig Rohren, der auf ein schwer gepanzertes Chassis des T-14-Kampfpanzers montiert war, und waren mit seiner Befehlskonsole verbunden.

Er und Major Gretschko saßen auf ihren Posten in dem engen Schützenpanzer BMP-3K, Walibs mobilem Kommandostand. Offiziell fungierte der russische Major bei der heutigen Operation nur als Berater, doch in Wirklichkeit beurteilte Gretschko Walibs Führungsfähigkeit im Gefecht und das neue TOS-2-System.

Walib warf einen verstohlenen Blick auf Leutnant Aslan Dschabrailow, der neben der Luke saß. Der junge, breitschultrige Tschetschene befehligte die Kommandos, die seine Einheit schützten. Die blassgrauen Augen des Mannes verrieten einen scharfen Verstand, an seiner Hüfte hing eine viel benutzte Zehn-Millimeter-Glock. Die Tschetschenen waren wilde, brutale Kämpfer – eine Klasse für sich, die besten in diesem Krieg, jedenfalls auf seiner Seite. Dschabrailow war ein Mann zum Fürchten.

Der Major checkte ein letztes Mal den GLONASS-Empfänger – das russische Gegenstück zu GPS – und den Laserleitstrahl. »Zielerfassung bestätigt. Feuerbereit, Hauptmann.«

Walib strich mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart glatt und zögerte.

»Stimmt was nicht, Hauptmann?«, fragte Gretschko.

Walib war syrischer Patriot. Er hatte kein Problem damit, Terroristen zu töten, zumal ausländische. Der syrische »Bürgerkrieg« wurde dieser Tage von allen möglichen Leuten ausgetragen, nur nicht von Syrern. Aber sie kämpften alle nur als Stellvertreter für die Amerikaner und Russen, die das syrische Volk fröhlich auf dem Altar ihrer Großmachtambitionen opferten.

Er hasste sie alle, heute besonders.

»In Idlib sind keine Zivilisten mehr, Hauptmann«, sagte Gretschko. »Nur Al-Nusra-Banditen, die Frauen, die sie großgezogen haben, und die Kinder, die später entweder selbst Banditen werden oder welche in die Welt setzen. Das ist ein demografischer Krieg. Entsprechend müssen wir kämpfen.«

Das war nicht der Krieg, zu dem sich Walib freiwillig gemeldet hatte. Er hätte nie gedacht, dass die schrecklichen Waffen unter seinem Kommando dazu missbraucht werden könnten, Unschuldige abzuschlachten.

Doch wenn er sich Gretschkos Befehl widersetzte, würde der Russe die Jarygin PJa aus dem Holster ziehen, sein Gehirn an die Stahlwanne des BMP pusten und einfach einem von Walibs Leutnants in den anderen Fahrzeugen den Feuerbefehl geben.

Damit wäre nichts gewonnen. Walib würde sein Leben hingeben, nur um todgeweihten Zivilisten eine Galgenfrist von wenigen Minuten zu verschaffen.

Er hasste sich. Er hasste diesen Krieg.

Aber sinnlos zu sterben hasste er noch mehr.

»Ich kontrolliere nur den Spin von Gyro Nummer elf«, sagte Walib. Eine Notlüge. »Einsatzbereit.«

»Dann können Sie ja ungehindert feuern. Nun machen Sie schon.« Gretschkos Bulldoggenaugen verengten sich.

»Jawohl, Herr Major.« Walib klappte die Schutzkappe über dem Abschussknopf auf und drückte darauf, bevor er es sich anders überlegen konnte.

Augenblicklich zündeten die französischen Feststofftriebwerke der 122-Millimeter-Raketen. Das Gedröhn war entsetzlich, wie der Schrei Gottes, selbst im Innern des im Leerlauf befindlichen Kommandofahrzeugs. Jede halbe Sekunde jagte eine drei Meter lange Rakete kreischend aus ihrem Rohr. Ein brachialer Chor des Todes.

Fünfunddreißig Sekunden später waren alle vierhundertzwanzig Raketen abgefeuert und wuchteten annähernd fünfzehn Tonnen thermobarische Munition in die Luft. Der TOS-2-Feuerleitrechner stimmte Abschusszeitpunkte und Flugbahnen so aufeinander ab, dass alle Gefechtsköpfe gleichzeitig im Ziel einschlugen, wodurch die gegenseitige Zerstörung von Gefechtsköpfen verhindert und die Sprengwirkung verstärkt wurde.

Gretschko starrte begierig auf seinen Bildschirm, auf dem ein Live-Videobild zu sehen war, geliefert von der in Israel entwickelten Forpost-M-Drohne, die hoch über Idlib kreiste und zudem den Laserleitstrahl für die Raketen aussendete.

»Gleich ist es so weit«, feixte Gretschko. »Höchste Zeit, dass wir die Kakerlaken ausräuchern.«

Aber Walib wollte es nicht sehen. Er war bereits draußen und bellte Befehle an seine Männer, die hektisch Vorbereitungen für einen zügigen »Shoot-and-scoot«-Stellungswechsel trafen, der einzigen Schutzmaßnahme gegen etwaiges Gegenfeuer feindlicher Batterien.

Walib stapfte durch die dicken Abgas- und Staubwolken, die noch in der Luft wirbelten, Tränen der Wut und Scham in den Augen.

Leutnant Dschabrailow stand neben dem Kommandofahrzeug und beobachtete den syrischen Hauptmann mit lebhaftem Interesse.

Idlib, Syrien

Die lasergesteuerten TOS-2-Sternfeuer-Raketen schlugen in einer Todeszone von 280 x 280 Metern ein, die etwa acht dicht bewohnte Häuserblocks umfasste. Mit dem neuen Leitsystem wäre eine viel kleinere Zielfläche möglich gewesen, allerdings hätte es dann eine weit geringere Opferzahl gegeben.

Die Kaskade einschlagender Gefechtsköpfe setzte Wolken von Brennstoff in den Straßen frei, vermischt mit Aluminiumpulver, dem Sprengstoff PETN und Ethylenoxidgas. Die entzündlichen Wolken drangen durch Ritzen und Spalten nahezu jeder Moschee, jedes Wohnhauses und jedes Ladengeschäfts in dem betroffenen Gebiet. Keller, Dachböden, Küchen, Toiletten und Schlafzimmer füllten sich innerhalb von Nanosekunden mit dem todbringenden Gemisch, es blieb keine Zuflucht.

Als Nächstes explodierten im Innern der Gefechtsköpfe Zerlegeladungen aus konventionellem Sprengstoff, entzündeten den explosiven Nebel und verwandelten ihn in eine glühende Plasmawolke. Jene Menschen, die den Einschlagstellen im Freien am nächsten standen, verbrannten augenblicklich zu Asche.

Sie zählten zu den Glücklicheren.

Die durch die Detonation erzeugte Druckwelle verursachte die ersten Zerstörungen, indem sie Tausende Kilo Druck pro Quadratzentimeter ausübte – genug, um den Rumpf eines U-Boots aus dem Zweiten Weltkrieg zu zerquetschen. Wer nicht sofort durch die ungeheure Wucht der Stoßwellen getötet wurde, erlitt schwerste Verletzungen. Gliedmaßen wurden ausgerissen oder gebrochen, Alveolen und Bronchiolen in den Lungen zum Platzen gebracht. In Koronar- und Zerebralarterien bildeten sich Embolien, Därme wurden perforiert, Haarzellen im Innenohr zerstört, Augen aus ihren Höhlen gerissen.

Die zerstörerische Kraft der sich ausbreitenden Druckwelle drückte Mauern, Fenster und...