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Lockdown - Wie Deutschland in der Coronakrise knapp der Katastrophe entkam - Ein SPIEGEL-Buch

Lockdown - Wie Deutschland in der Coronakrise knapp der Katastrophe entkam - Ein SPIEGEL-Buch

Christoph Hickmann, Martin Knobbe, Veit Medick

 

Verlag Deutsche Verlags-Anstalt, 2020

ISBN 9783641273774 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

1
Weichenstellungen


Deutschland rüstet medizinisch ab. In Bonn wird ein Amt gegründet, das viel kann, aber wenig darf. In den Nachrichten geht es um ein heimtückisches Virus. Und Thomas de Maizière wird ausgelacht.

Mitte der neunziger Jahre, Gelsenkirchen


Wolfgang Wagner macht sich Sorgen, ernsthafte Sorgen, so erinnert er sich heute, ein Vierteljahrhundert später. Wagner, Jahrgang 1944, Chefapotheker am Düsseldorfer St.-Josef-Hospital, beobachtet seit einiger Zeit, wie mit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Nachlässigkeit eingezogen ist.

Endlich, so denkt man damals in der Politik, braucht man all jene Einrichtungen nicht mehr, die man bislang zum Schutz der Bevölkerung im Fall eines Angriffs vorgehalten hatte – schließlich gibt es keine Bedrohung mehr, gegen die man sich wappnen müsste. Friedensdividende, finanzielle Entlastung durch Abrüstung, so lautet das Stichwort, nicht nur bei der Bundeswehr, sondern, im übertragenen Sinne, auch im Zivilschutz.

Drei Jahrzehnte zuvor, zu Beginn der sechziger Jahre, hatte der Bund begonnen, sogenannte Hilfskrankenhäuser aufzubauen und Depots mit Vorräten an Sanitätsmaterial einzurichten – alles für den Fall, dass es zum Krieg kommen würde, zu einer Katastrophe. Am Ende gibt es 221 solcher Hilfskrankenhäuser mit rund 80 000 Betten. Doch nun, Mitte der Neunziger, schafft der Bund sie nach und nach ab.

Die Notvorräte an Arzneimitteln und medizinischer Ausstattung haben ihr Verfallsdatum überschritten, sie werden »entsorgt« und nicht mehr ersetzt. Und das Programm zur Aus- und Fortbildung von Schwesternhelferinnen läuft aus. Als medizinisches Laienpersonal hätten sie im Krisenfall die Fachkräfte unterstützen und so deren Überlastung verhindern sollen. Wagner sieht in den neunziger Jahren diese Entwicklung und schlägt Alarm.

Hier werde ein zentrales Element der Vorsorge aufgegeben, warnt er in der Arbeitsgemeinschaft Notfall- und Katastrophenpharmazie, die er gegründet hat und damals leitet. Es sei unrealistisch, Vorräte für den Notfall erst dann wieder anlegen zu wollen, wenn es bereits zur Krise gekommen sei, zum Spannungsfall. Doch seine Warnungen verhallen. Derart existenzielle Bedrohungen scheinen gerade weit weg zu sein, die Katastrophen finden woanders statt oder nur im Film.

Es ist eine Art unbeschwerte Zwischenzeit. Aus dem Osten droht keine Gefahr mehr, über islamistische Terroranschläge macht sich die breitere Öffentlichkeit noch keine Gedanken. Hinzu kommt eine Gesetzmäßigkeit demokratischer Politik: Wer wiedergewählt werden will, tut sich immer schwer, Geld und Ressourcen für einen Fall bereitzustellen, der mit einiger Wahrscheinlichkeit nie eintreten wird. Wer dankt es einem, wenn es nicht zur Katastrophe kommt?

»Wir haben damals die Probleme gesehen und benannt, aber wir sind nicht durchgedrungen«, sagt Wagner, »dabei hat sich nichts von dem, was wir bemängelt und gefordert haben, als unsinnig erwiesen.«

Ein erstes Umdenken habe es in der Politik nach den Anschlägen des 11. September 2001 gegeben, doch erst kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland gibt es dann tatsächlich einen neuen Anlauf, die Notfallversorgung in Deutschland wieder aus ihrem Dornröschenschlaf zu holen. In der Bundespolitik fürchtet man, es könnte während der WM zu Terroranschlägen kommen, deshalb werden an den Austragungsorten der Spiele neue Depots mit Sanitätsmaterial aufgebaut, jeweils an den örtlichen Krankenhäusern, geeignet, um Schwerverletzte zu versorgen.

Nach der WM, die glücklicherweise ohne Zwischenfälle verläuft, kommen diese Anstrengungen jedoch wieder zum Erliegen. Bayern verabschiedet sich komplett von der Vorratshaltung, am Ende gibt es noch 16 Standorte in fünf Ländern, an denen der Bund Sanitätsmaterial vorhält.

Wolfgang Wagner warnt in den Jahren danach noch mehrfach, dass die Bundesrepublik auf Katastrophenfälle mangelhaft bis gar nicht vorbereitet sei.

2004, Bonn


Wolfram Geier ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort, mit dem richtigen Thema. Geier, ein fröhlich wirkender Mensch, der auch als Oberstudienrat für Geografie durchgehen könnte, hat 2002 über Zivil- und Katastrophenschutz promoviert, er ist jetzt Experte für eine Disziplin, die plötzlich wieder gefragt ist. Geier wird damit beruflich noch weit kommen.

Dabei war das Thema Katastrophenschutz aus dem öffentlichen Bewusstsein eigentlich schon so gut wie verschwunden. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks brauchte man auch das Bundesamt für Zivilschutz nicht mehr, genauso wie jene 550 Mitarbeiter des Amtes verzichtbar erschienen, die in zehn Niederlassungen quer durch die Republik verteilt waren, um im Fall einer Attacke aus dem Osten das militärische Warnsystem auszulösen. Anfang 2001 wurde das Bundesamt für Zivilschutz aufgelöst und ins Bundesverwaltungsamt eingegliedert. Bundesinnenminister damals: Otto Schily von der SPD.

Doch jetzt, 2004, nimmt Schily seine Entscheidung zurück. Im September 2001 sind in New York Passagierflugzeuge ins World Trade Center geflogen, im Jahr darauf folgte das verheerende Hochwasser an Elbe und Donau, das Krisenmanagement war teilweise chaotisch. Der Innenminister lässt wieder eine Behörde aufstellen: das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, kurz BBK.

Wolfram Geier ist von Anfang an dabei, er wird später die Abteilung Risikomanagement und Internationale Angelegenheiten leiten, im Amt werden sie ihn den »Godfather of Bevölkerungsschutz« nennen. Doch 2004 bekommt die Aufbruchsstimmung unter den Katastrophenschützern gleich einen Dämpfer. Schily hat nun zwar eine neue Behörde aufgestellt, doch es gelingt ihm nicht, flankierend die Verfassung zu ändern. Sein Plan: Über eine Grundgesetzänderung will er dem Bund mehr Kompetenzen beim Katastrophenschutz übertragen. Der ist bislang Sache der Bundesländer, und die verteidigen ihre Einflusssphäre.

»Direkt nach dem 11. September wäre dafür vermutlich ein guter Zeitpunkt gewesen«, so erinnert sich Wolfram Geier an das Ringen um eine Verfassungsänderung. Doch die Gelegenheit zieht vorbei, und 2004 ist die Stimmung schon wieder eine andere. Die Länder blockieren, sie wollen keine Kompetenzen abgeben. »Aus unserer Sicht wäre die Schaffung einer Zentralstelle des Bundes ein Fortschritt gewesen«, sagt Geier im Rückblick. Wäre.

Es ist der Geburtsfehler des BBK, es ist seither nur im »Spannungs- und Verteidigungsfall« für den Bevölkerungsschutz zuständig. Und es darf koordinieren, wenn die Länder es im Fall einer großen Katastrophenlage darum bitten. Aber auch wirklich nur dann. Wäre das Amt ein Sportler, dann wäre es ein Bodybuilder: viele Muskeln, die nur hergezeigt, aber nicht eingesetzt werden dürfen.

»Wir haben eine beratende Funktion und können Handlungsempfehlungen aussprechen«, sagt Christoph Unger, der Präsident des BBK, wenn er 16 Jahre nach der Gründung die Befugnisse seines Amtes beschreiben soll. »Letztlich sind wir eine Art Thinktank. Wir betreiben Risikoanalysen und stellen diese Analysen bei Bedarf den Ländern und dem Bund zur Verfügung.« Im September 2020 wird Unger als BBK-Präsident abgelöst werden.

2007, Deutschland


Was der Nachrichtensprecher vorträgt, klingt äußerst beunruhigend. Es geht um ein »heimtückisches, todbringendes Virus«, das sich in Windeseile verbreite und »aggressiv von Mensch zu Mensch überträgt«. Erstmals aufgetreten sei es in der beliebten südostasiatischen Urlaubsregion »Sinatra«, vier britische Touristen und ein französischer Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hätten sich infiziert. Dessen Zustand verschlechtert sich auf dem Flug in die Heimat so dramatisch, dass die Maschine einen Zwischenstopp in Hamburg macht, wo der Mann am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin behandelt wird. Womöglich hat sich auch einer der Flugbegleiter angesteckt, er ist ein Verdachtsfall, damit ist das Virus wohl in Deutschland angekommen. »Eine tödliche Grippe bedroht Westeuropa«, so formuliert es der Nachrichtensprecher.

Das Szenario, das hier 2007 in drei Sondersendungen behandelt wird, ist allerdings fiktiv, die Fernseh-Brennpunkte bekommt nur ein ausgewählter Kreis an Zuschauern zu sehen: Teilnehmer einer »länderübergreifenden Krisenmanagementübung«, kurz »Lükex«, in Auftrag gegeben und organisiert vom BBK in Bonn. Rund 3000 Teilnehmer simulieren eine Pandemie, neben dem Kanzleramt und mehreren Ministerien beteiligen sich sieben Bundesländer, das Bundeskriminalamt, aber auch Unternehmen wie Tengelmann und die Deutsche Telekom. In einer der Sondersendungen sind Menschen mit Schutzmasken in der U-Bahn zu sehen, außerdem Patienten an Beatmungsgeräten. Die Rede ist von Kontrollen an Deutschlands Außengrenzen, außerdem wird eine »zweite Welle« befürchtet, die Deutschland noch heftiger treffen könnte als der erste Ausbruch. Und obwohl vor Menschenansammlungen gewarnt wird, stiegen »die Zahlen der Teilnehmer an regierungskritischen Demonstrationen«, berichtet der Sprecher. Für die breite Öffentlichkeit mögen solche Szenarien damals noch unvorstellbar sein, im BBK stuft man eine Pandemie mit derart einschneidenden Folgen als Fall ein, auf den man sich vorbereiten sollte.

Das Fazit nach der Übung fällt gemischt aus. Die beteiligten Bundesminister geben sich höchst zufrieden, Innenminister Wolfgang Schäuble von der CDU etwa resümiert, die Teilnehmer hätten die simulierte Krise »optimal« bewältigt. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt von der SPD sieht das Land »gut vorbereitet für einen größtmöglichen gesundheitlichen Schutz der Bürger«. Immerhin ist in der offiziellen Auswertung neben viel Selbstlob...