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Demokratie - Eine deutsche Affäre

Demokratie - Eine deutsche Affäre

Hedwig Richter

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN 9783406754807 , 402 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR

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EINLEITUNG


«Die Bauern sind Sklaven», so berichtete am Ende des 18. Jahrhunderts ein Zeitgenosse, und wer ein Dorf besuchte, dem liefen halbnackte Kinder nach Almosen schreiend entgegen. Die Erwachsenen hätten selbst «kaum noch einige Lumpen auf dem Leib, ihre Blöße zu decken». «Der Bauer wird wie das dumme Vieh in aller Unwissenheit erzogen», schrieb der Autor weiter. «Er muss vom Morgen bis zum Abend die Äcker durchwühlen.»[1] Die Charakterisierungen glichen sich: Das Gesinde auf dem Land werde «kaum als Menschen» angesehen, die Herrschaften traktierten die Menschen mit Grausamkeit, schlechter als das Vieh.[2] Die Beobachtenden allerdings waren die Städter, die Gebildeten, die Auswärtigen. Wie beurteilten die ländlichen Bewohnerinnen und Bewohner selbst ihre Lage? Was bedeutete Armut für sie? Was empfanden sie an ihrem Alltag als selbstverständlich, was als kritisch? Was war Glück?

Es ist nicht einfach, ihre Stimmen zu hören. Doch weisen sozialgeschichtliche Forschungen auf die Allgegenwart von Hunger in den ländlichen Räumen hin, auf den ungenügenden Wohnraum und die dürftige Kleidung. Harte physische Not prägte das Leben einer Mehrheit in ganz Europa, auch wenn es regionale Unterschiede gab und die Situation stark schwankte, je nachdem, wie die Ernte ausfiel, ob die Herren gütig waren oder das Land von Krieg überzogen wurde. Über Jahrhunderte, teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert, glich sich die Lebenslage in ländlichen Räumen mit ihrer Ökonomie der Armut.[3]

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber verbreitete sich eine explosive, ungeheure Idee, und immer mehr Denker wie Rousseau, Hugo Kołłątaj oder Friedrich Schiller, aber auch eine Frau wie Mary Wollstonecraft propagierten sie: die Idee von der Gleichheit und von der Würde der Menschen. «All men are created equal», hieß es 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Wenig später, im Jahr 1789, verkündigten die Männer der französischen Nationalversammlung die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte», die schnell in alle Sprachen Europas und darüber hinaus übersetzt wurde. Den Kern der Deklaration bildete neben der Freiheit erneut die Gleichheit: «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren.»

Das war neu und unerhört: Naturrechtlich begründet war die Vision von Gleichheit «universal». Gleichheit für die wenigen hatte es schon in der Antike gegeben, nun sollte Gleichheit für alle Menschen gelten. Die Französische Revolution stieß diesen Stachel der Gleichheit in die Politik. Dort blieb er stecken, quälte, ließ keine Ruhe und führte zu Konsequenzen, die weitab dessen lagen, was Aufklärer und Revolutionäre gewollt hatten: die Gleichheit der Menschen unabhängig von Geschlecht und ethnischer Herkunft. Die Idee ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Nach und nach wurde sie überall zur Staatsaffäre. Dabei entfaltete «Universalismus» toxische Qualitäten, wirkte exklusiv, weil er lange Zeit nur für den weißen Mann galt und alle anderen umso schärfer ausschloss – denn es waren scheinbar schon «alle» gemeint. Dipesh Chakrabarty spricht von den «privilegierten Erzählungen der Staatsbürgerschaft», ohne die Moderne nicht zu denken sei und die der Konstruktion der Anderen bedürfen, die außen vor bleiben.[4] Bis heute wird immer wieder neu um die Ausmaße von «Universalität» gerungen, doch bleibt sie als prinzipieller Anspruch unverzichtbar für die Entwicklung moderner Demokratie.

«Die Ideen von Freiheit und Gleichheit stehen wie zwei Sterne über den Völkern seit einem halben Jahrhundert», schrieb der Schweizer Jeremias Gotthelf 1841 über die Ausbreitung der neuen Gedankenwelten und fürchtete, die unteren Schichten würden die Versprechen beim Wort nehmen, aber wer wolle «es dem Armen verargen, wenn er ihre Bedeutung, ihre Verheißungen missverstund und immer mehr missversteht?»[5] Noch lange und immer wieder neu hofften Männer wie Gotthelf, den umstürzenden Gehalt von universeller Gleichheit aufhalten oder einschränken zu können. Oft genug gelang es ihnen.

Wie revolutionär die Verbindung von Gleichheit und Universalität war, wird erst angesichts der omnipräsenten Ungleichheit im 18. Jahrhundert deutlich: angesichts der Not der großen Mehrheit von Männern, Frauen und Kindern und der Selbstverständlichkeit ihres Elends gegenüber einer relativen Sicherheit im Leben weniger Privilegierter.[6] Wahrscheinlich widersprachen wenige Ideen mehr der Alltagserfahrung als die Idee der Gleichheit. Ungleichheit bildete die Grundlage des Lebens und trotz aller Aufklärung immer auch noch des Denkens. Sie war das Prinzip von Herrschaft, sie bildete den Boden des dörflichen und des ständischen Lebens, der Erziehung, der Kleiderordnungen und des Geschlechterverhältnisses. Exekutionen variierten je nach Stand. Den Kelch im Abendmahl erhielten oft nur die Geistlichen. Armut herrschte nicht als ein relatives Phänomen, sondern war eine Frage des nackten Überlebens: Wer am unteren Ende stand, der hatte oft nicht genug, um sein Leben zu erhalten.[7]

Gleichheit aber bildet das Herzstück von Demokratie – gemeinsam mit Freiheit und Gerechtigkeit, die ihre radikale Wirkung erst im Verbund mit Gleichheit entfalten. Wie bei der Gleichheit gilt auch hier: Freiheit und Gerechtigkeit für wenige, das war nichts Neues, nun aber ging es um die ganze Menschheit. Die Umbrüche mit dem Beginn der Moderne in den Jahrzehnten um 1800 sind ohne diese Radikalität kaum verständlich. Der Soziologe Rudolph Stichweh spricht von «Inklusionsrevolutionen», die seit dieser Zeit stattfanden: Die Gesellschaften bezogen immer mehr Gruppen ein, immer mehr Menschen nahmen an wesentlichen sozialen und politischen Prozessen teil.[8] Gewiss ist die Einteilung in Moderne und Vormoderne eine idealtypische Zuspitzung. Doch die Menschen selbst empfanden den tiefen Bruch im Übergang zur Moderne, und es ist kein Zufall, dass die Affäre mit der universellen Gleichheit in dieser Zeit auf den Plan trat und begann, das politische Leben auf den Kopf zu stellen. Fand in der Vormoderne die Kommunikation innerhalb der Ständeordnung statt, so ging sie nun darüber hinaus, die Inklusionsprozesse rückten die Menschen näher aneinander heran – was wesentlich zur Sichtbarkeit der Ungleichheit beitrug, ja, sie in gewisser Weise überhaupt erst produzierte und damit die Voraussetzungen schuf, sie zu skandalisieren und zu bekämpfen. Reinhart Koselleck nennt die Entstehung der Moderne um 1800 die Sattelzeit, in der gleichsam ein Bergsattel überschritten wurde und sich eine gänzlich neue Welt eröffnete.

Demokratie fasse ich also weit als ein Projekt von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Definitionen sind Konventionen, Übereinkommen, damit klar ist, wovon die Rede ist. Es wäre genauso legitim, nach dem Begriff «Demokratie» zu fragen und zu klären, wann und wie er verwendet wurde, von Anarchisten im 19. Jahrhundert etwa oder von Theoretikern des Nationalsozialismus. Das vorliegende Buch interessiert sich jedoch nicht für die Begriffsgeschichte, sondern für das normative Projekt der Demokratie, das sich mit der Moderne und in enger Verbindung mit Vorstellungen von Menschenwürde herausgebildet hat. Es geht um das Glück der Menschen, um «pursuit of happiness», wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt. Glück und die Ideale von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit bedeuteten zu allen Zeiten etwas anderes. Diese Geschichte der Demokratie will den Veränderungen nachgehen und schauen, welche Geltung die Menschenwürde in den sich wandelnden Zeiten hatte. Es lohnt sich daher auch, einen Blick auf Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu werfen. Dabei verdeutlicht gerade die Analyse von Diktaturen, dass die vorliegende Definition «Demokratie» nicht als etwas Beliebiges fasst. Zwar ist Demokratie selten eine klare Angelegenheit von schwarz und weiß, das zeigt gerade die Demokratiegeschichte. Aber es lässt sich doch ein Unterschied ausmachen zwischen einem Staat, der die Menschenwürde systematisch behindert oder zerstört, und einer Ordnung, die prinzipiell nach Wegen sucht, sie zu schützen.

Diese Geschichte erzählt von den Mühen und Freuden der Demokratie als einer Affäre. Sie erzählt von einer Staatsaffäre, die auch zur Angelegenheit der Bürger und zunehmend auch der Bürgerinnen wird. Es ist außerdem die Geschichte einer gar nicht selbstverständlichen, überaus komplizierten Liebe, die sich langsam entwickelt, in der aus Gleichgültigkeit Leidenschaft entsteht, die zuweilen im Geheimen befördert wird und in der Öffentlichkeit zum Eklat gerät. Es ist eine Geschichte, die den ganzen Menschen mit Leib und Seele betrifft. Sie ist voller Gefühle, die...