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Erste Person Singular

Erste Person Singular

Haruki Murakami

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2021

ISBN 9783832170639 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

AUF EINEM KISSEN AUS STEIN

Ich möchte hier von einer jungen Frau erzählen. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich so gut wie nichts über sie weiß. Nicht einmal an ihren Namen und ihr Gesicht kann ich mich erinnern. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch sie sich weder an meinen Namen noch an mein Gesicht erinnert.

Als ich sie kennenlernte, war ich im zweiten Studienjahr und noch keine zwanzig Jahre alt. Sie war schätzungsweise Mitte zwanzig. Wir jobbten zu denselben Zeiten im selben Restaurant. Irgendwann verbrachten wir einmal eine Nacht miteinander. Danach habe ich sie niemals wiedergesehen.

Mit neunzehn waren mir die Regungen meines Herzens nahezu unbekannt, ganz zu schweigen von jenen anderer Menschen. Dennoch bildete ich mir ein, einigermaßen über die Beschaffenheit von Freude und Traurigkeit Bescheid zu wissen, auch wenn ich ihre vielen Nuancen und ihre Wechselbeziehung nie ganz durchschaute, weshalb ich mich häufig unbehaglich und hilflos fühlte.

Dennoch möchte ich von meiner Begegnung mit dieser jungen Frau erzählen.

Und eines weiß ich doch über sie – sie schrieb Gedichte und hatte eine Anthologie herausgegeben. »Anthologie« ist vielleicht ein wenig hoch gegriffen, handelte es sich doch nur um ein sogar für eine Veröffentlichung im Selbstverlag sehr einfach gebundenes Heft. Dennoch hinterließen einige der Gedichte darin einen ungewöhnlich tiefen Eindruck bei mir. Die meisten handelten von der Liebe oder vom Tod. Es war geradezu, als wollte sie demonstrieren, dass Gegensätze wie diese untrennbar verbunden waren.

Du und ich

wir sind einander fern,

ist es nicht so?

Hätte ich auf dem Jupiter

umsteigen sollen?

Lege ich mein Ohr

auf ein Kissen aus Stein,

verstummt er,

der rauschende Strom

meines Blutes

»Ich muss dich mal was fragen«, sagte sie, als wir nackt unter dem Futon lagen. »Wahrscheinlich rufe ich beim Orgasmus den Namen eines anderen Mannes. Macht dir das was aus?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte ich, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war. Andererseits – warum sollte mich so etwas stören? Im Grunde war es ja nur ein Name. Und Namen machten für gewöhnlich keinen großen Unterschied.

»Und wenn ich ihn so richtig laut herausschreie?«

»Das wäre allerdings unangenehm«, sagte ich hastig, denn ich wohnte in einem morschen alten Holzhaus mit Wänden so dünn wie Waffeln. Wenn sie hier mitten in der Nacht schrie, wüssten sämtliche Nachbarn Bescheid.

»Gut, dann beiße ich in ein Handtuch«, sagte sie.

Also holte ich ein sauberes und möglichst festes Handtuch aus dem Badezimmer, um es neben mein Kissen zu legen.

»Geht das?«, fragte ich.

Sie kaute ein wenig auf dem Handtuch herum wie ein Pferd auf einer neuen Trense. Dann nickte sie.

Unsere Verbindung war eine gänzlich zufällige. Ich war nicht sonderlich scharf auf sie und sie sicher auch nicht auf mich. Wir jobbten in jenem Winter etwa zwei Wochen lang in einem beliebten italienischen Restaurant unweit des Bahnhofs Yotsuya. Allerdings arbeiteten wir in verschiedenen Bereichen, sodass sich nie eine Gelegenheit zu einem richtigen Gespräch ergab. Ich war Tellerwäscher und Küchenhilfe und sie Kellnerin. Alle Aushilfen außer ihr waren Studenten, und wahrscheinlich unterschied sich ihr Verhalten deshalb ein wenig von dem der anderen. Mitte Dezember kündigte sie, und jemand schlug vor, noch einmal in eine Kneipe um die Ecke zu gehen. Auch mich lud man dazu ein. Es war eigentlich keine richtige Abschiedsfeier. Wir tranken nur etwa eine Stunde lang Bier vom Fass, aßen ein paar Snacks und unterhielten uns. Ich erfuhr, dass sie vor dem italienischen Restaurant bei einem kleinen Immobilienmakler und in einem Buchladen gearbeitet hatte. Sie sei an keiner ihrer Arbeitsstellen mit ihren Vorgesetzten ausgekommen, erzählte sie. In dem italienischen Restaurant sei sie zwar mit niemandem aneinandergeraten, doch sie komme mit der geringen Bezahlung nicht über die Runden, sodass sie sich einen neuen Job suchen müsse, auch wenn sie keine Lust dazu habe.

Jemand fragte, was sie machen wolle.

»Egal«, sagte sie und rieb sich mit dem Finger an der Seite ihrer Nase (wo sie zwei kleine Muttermale hatte, die wie ein Sternbild anmuteten). »Ich kriege eh nichts Tolles.«

Ich wohnte damals in Asagaya und sie in Koganei. Also stiegen wir gemeinsam am Bahnhof Yotsuya in die Chuo-Schnellbahn und setzten uns nebeneinander auf eine Sitzbank. Es war bereits elf Uhr abends, und es blies ein winterlich kalter Wind. Es war die Jahreszeit, in der man Handschuhe und Schal tragen musste. Als sich die Bahn Asagaya näherte und ich aufstand, blickte sie zu mir auf. »Meinst du, ich könnte heute vielleicht bei dir übernachten?«, fragte sie leise.

»Klar, aber wieso?«

»Weil es nach Koganei noch so weit ist«, sagte sie.

»Aber meine Wohnung ist total klein und auch nicht aufgeräumt«, entgegnete ich.

»Macht nichts.« Sie griff nach dem Ärmel meines Mantels. Also nahm ich sie mit in meine winzige, schäbige Wohnung, wo wir uns eine Dose Bier teilten. Nachdem wir sie sehr langsam geleert hatten, zog sie sich wie selbstverständlich vor meiner Nase aus und schlüpfte nackt in meinen Futon, worauf ich ebenfalls unter die Decke kroch. Ich hatte das Licht ausgeschaltet, aber die Flammen des Gasofens erhellten den Raum. Ungelenk schmiegten wir uns unter der Bettdecke aneinander, um uns zu wärmen. Eine Zeit lang sprachen wir nicht. Wahrscheinlich wussten wir aus Verlegenheit über unsere plötzliche Nacktheit nicht, was wir sagen sollten. Doch ich spürte, wie unsere Körper sich allmählich erwärmten und unsere Anspannung nachließ. Es war ein erstaunliches Gefühl von Intimität.

»Vielleicht rufe ich beim Orgasmus den Namen eines anderen Mannes. Macht dir das was aus?«

»Liebst du ihn?«, fragte ich, als ich ihr das Handtuch gab.

»Ja, sehr«, sagte sie. »Ich liebe ihn sehr. Er geht mir nicht aus dem Kopf. Aber er liebt mich nicht. Eigentlich hat er eine Freundin.«

»Aber du triffst dich trotzdem mit ihm?«

»Er ruft mich an, wenn er mit mir schlafen will«, sagte sie. »Wie wenn man was zu essen bestellt.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich. Sie zeichnete schon eine ganze Zeit lang mit der Fingerspitze irgendwelche Muster auf meinen Rücken, vielleicht schrieb sie auch etwas.

»Er hat gesagt, ich hätte ein hässliches Gesicht, aber einen tollen Körper.«

Ich fand sie nicht gerade hässlich, aber als hübsch hätte ich sie auch nicht bezeichnet. Mittlerweile kann ich mich weder an ihr Gesicht noch an ihre Figur erinnern. Es ist mir unmöglich, ihr Aussehen zu beschreiben.

»Aber wenn er anruft, gehst du zu ihm?«

»Ich kann nicht anders, ich liebe ihn«, sagte sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Egal, was die Leute sagen, aber ab und zu will ich wenigstens mit einem Mann schlafen.«

Ich überlegte eine Weile. Damals hatte ich keine Vorstellung, was eine Frau konkret meinte, wenn sie sagte, sie wolle manchmal einfach nur mit einem Mann schlafen. (Und wenn ich genau darüber nachdenke, weiß ich es bis heute nicht.)

»Sich zu verlieben, ist wie eine Geisteskrankheit, für die die Krankenkasse nicht zahlt«, sagte sie mit tonloser Stimme, so als würde sie den Satz von der Wand ablesen.

»Aha«, sagte ich erstaunt.

»Also, von mir aus kannst du dir ruhig auch jemand anderes vorstellen«, sagte sie. »Bist du in jemanden verliebt?«

»Ja, schon.«

»Dann könntest du doch ihren Namen rufen, wenn du kommst. Macht mir nichts aus.«

Ich war damals wirklich in eine Frau verliebt, konnte aber die Beziehung umständehalber nicht vertiefen. Also überlegte ich, ob ich vielleicht ihren Namen rufen sollte, was mir aber letztendlich doch zu albern vorkam, sodass ich nur stumm in der anderen Frau ejakulierte. Und bevor sie den Namen des Mannes hinausschreien konnte, schob ich ihr hastig das Handtuch zwischen ihre gesunden und kräftigen Zähne, die jeden Zahnarzt begeistert hätten. Wie der Name des Mannes lautete, weiß ich nicht mehr, nur noch, dass er sehr verbreitet und alltäglich war. Aber ich erinnere mich noch deutlich, dass ich mich wunderte, wie viel ein solcher Allerweltsname jemandem bedeuten konnte. Mitunter berührt allein ein Name einen Menschen bis in sein tiefstes Inneres.

Am nächsten Morgen hatte ich schon früh einen Uni-Termin, bei dem ich eine für die Zwischenprüfung wichtige Arbeit abgeben musste. Natürlich ließ ich ihn sausen (was später zu allen möglichen Problemen führte, aber das ist eine andere Geschichte). Kurz vor Mittag standen wir endlich auf, machten Wasser heiß, tranken Instantkaffee und aßen Toast. Im Kühlschrank waren noch Eier, die wir uns dazu kochten. Der Himmel war klar und wolkenlos, und blendend helles Morgenlicht erfüllte den ganzen Raum.

Ihren Toast mit Butter kauend fragte sie, welches Fach ich studierte. Literatur, sagte ich.

Ob ich Schriftsteller werden wolle?

Nicht unbedingt, antwortete ich wahrheitsgemäß. Damals hatte ich tatsächlich nicht die Absicht. Es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, obwohl in meinem Fachbereich massenhaft Leute verkündeten, Romane schreiben zu wollen. Nach meiner Antwort schien sie jegliches Interesse an mir verloren zu haben (wobei dieses vermutlich von vorneherein nicht besonders groß gewesen war).

Im hellen Licht des Tages mutete mich das Handtuch, auf dem sich die Abdrücke ihrer Zähne deutlich abzeichneten, reichlich bizarr an. Sie musste richtig fest zugebissen haben. Auch sie selbst erschien mir bei Tageslicht ganz anders. Kaum zu glauben, dass die...