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Strange Weather - Vier Novellen

Strange Weather - Vier Novellen

Joe Hill

 

Verlag Festa Verlag, 2020

ISBN 9783865528773 , 652 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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5,99 EUR


 

Kapitel 1

Shelly Beukes stand am Fuß der Auffahrt und starrte mit konzentriertem Blick zu unserem Bungalow aus rosafarbenem Sandstein herüber, als sähe sie das Haus heute zum ersten Mal. Sie trug einen Trenchcoat, der Humphrey Bogart alle Ehre gemacht hätte, und hatte eine große Umhängetasche aus mit Ananas und tropischen Blumen bedrucktem Stoff um die Schulter geschlungen. Man hätte glauben können, sie sei auf dem Weg zum Einkaufen, wenn sich ein Supermarkt oder so etwas in Laufweite befunden hätte, was nicht der Fall war. Ich musste zweimal hinsehen, bevor ich bemerkte, was mich an ihrem eigentlich ganz normalen Anblick so irritierte: Sie hatte vergessen, Schuhe anzuziehen. Ihre nackten Füße waren schmutzig, sie starrten förmlich vor Dreck.

Ich war gerade in der Garage und experimentierte herum. Jedenfalls nannte mein Vater das so, wenn ich beschloss, an einem völlig intakten Staubsauger oder der einwandfrei funktionierenden Fernbedienung des Fernsehers herumzubasteln. Ich machte dabei mehr kaputt, als ich reparierte, auch wenn ich es einmal geschafft hatte, einen Joystick meines alten Atari-Computers in eine Art Radio umzubauen, sodass ich mit dem »Feuern«-Knopf von Sender zu Sender schalten konnte. Das war natürlich ein ausgesprochen alberner und nicht sehr sinnvoller Trick. Nichtsdestotrotz hatte er die Juroren der Wissenschaftsmesse im achten Schuljahr beeindruckt und mir glatt das Blaue Band für Kreativität eingebracht.

An dem Morgen, an dem Shelly am Fuß unserer Auffahrt auftauchte, arbeitete ich gerade an einer Partykanone. Sie sah aus wie ein Todesstrahlengewehr aus der guten alten Science-Fiction-Zeit der 60er-Jahre, mit einer großen, zerbeulten Messingtrompete als Lauf und dem Abzug und dem Griff einer Luger (ich hatte tatsächlich eine Trompete und ein Spielzeuggewehr für den Bau verwendet). Wenn man den Abzug betätigte, erklang eine laute Tröte, kleine Glühbirnen leuchteten auf und das Ding spuckte einen Schwall Konfetti und Papierschlangen aus. Mir schwebte vor, dass – wenn ich das Ding nur richtig zum Laufen bekam – mein Vater und ich es an Spielzeugunternehmen, vielleicht sogar ein etwaiges Patent an Spencer Gifts persönlich, verkaufen könnten. Wie das bei den meisten Hobbyingenieuren so ist, versuchte ich mich also zum größten Teil an Basteleien, die kaum über das Niveau von Schülerstreichen hinausgingen. Aber bei Google arbeitet bis heute ja auch niemand, der nicht davon geträumt hätte, eine Röntgenbrille zu erfinden, um Mädchen damit unter den Rock zu gucken.

Ich richtete den Lauf meiner Partykanone auf die Straße, als ich Shelly das erste Mal sah. Sie stand genau in meinem Blickfeld. Ich ließ meine Superspaßknarre sinken, blinzelte und nahm sie genauer in Augenschein. Fakt war, ich konnte sie sehen, sie mich aber nicht. Von ihrem Standpunkt aus war die offen stehende Garage wohl auch kaum mehr als eine finstere Höhle, deren Inneres dunkel war wie die undurchdringliche Schwärze eines offen stehenden Bergbauschachts.

Ich wollte sie schon ansprechen, aber dann fiel mein Blick auf ihre Füße und die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich rührte mich also nicht, gab keinen Ton von mir und beobachtete sie eine Weile. Ihre Lippen bewegten sich, als spräche sie mit sich selbst.

Sie warf einen Blick über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen war, als hätte sie Angst, dass sich jemand an sie heranschleichen könnte, doch da war niemand. Die Welt war unter den tief hängenden Wolken schwül und still. Ich erinnere mich daran, dass alle Nachbarn ihren Müll herausgestellt hatten. Doch die Müllabfuhr war spät dran und so stank es in der Straße nach Fäulnis und Abfall.

Fast von Anfang an stand ich unter dem Eindruck, es sei wichtig, nichts zu tun, was Shelly erschrecken könnte. Eigentlich gab es keinen Grund dafür, so vorsichtig zu sein, aber viele unserer besten Gedankengänge finden im Unbewussten statt und haben nichts mit Vernunft zu tun. Das Unterbewusstsein nimmt viele Informationen auf, die nichts weiter sind als subtile Hinweise, die wir gar nicht als solche wahrnehmen.

Als ich also die geschwungene Auffahrt hinabging, hatte ich die Daumen in die Taschen meiner Jeans geklemmt und sah Shelly nicht einmal direkt an. Ich blinzelte in die Ferne, als verfolgte ich mit meinem Blick ein Flugzeug, das weit über uns dahinzog. Ich ging auf sie zu, wie man auf einen humpelnden, streunenden Hund zugeht, einen, der einem entweder in hoffnungsvoller Zuneigung die Hand lecken wird, wenn man herankommt, oder der vielleicht mit gebleckten Fangzähnen auf einen zuspringt und knurrend die Zähne fletscht. Ich sagte nichts, bis ich auf fast eine Armlänge an sie herangekommen war.

»Oh. Hallo, Mrs. Beukes«, sagte ich dann und tat so, als sähe ich sie nun zum ersten Mal. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ihr Kopf wirbelte zu mir herum, ihr rundliches Gesicht verzog sich sofort zu einer freundlich-sanften Miene. »Also, jetzt bin ich aber ganz verwirrt! Ich bin den ganzen Weg hierhergelaufen, aber ich weiß gar nicht mehr, warum eigentlich! Heute ist doch gar nicht der Tag zum Putzen!«

Das hatte ich nicht erwartet.

Es hatte tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, in der Shelly dienstags und freitags jeweils ein paar Stunden zu uns gekommen war und das Haus sauber gemacht hatte. Schon damals war sie alt gewesen, hatte aber dennoch die geschmeidige Kraft einer Sportlerin von olympischem Rang besessen. Freitags brachte sie in der Regel einen Teller weicher, mit Datteln gefüllter Kekse mit, die unter einer Klarsichtfolie lagen. Mann, das waren vielleicht Kekse! So was kriegt man heutzutage gar nicht mehr, und mit einer Tasse Tee waren sie so gut, so gut wäre nicht einmal die Crème brulée im Vier Jahreszeiten gewesen.

Aber im August 1988 stand ich nur ein paar Wochen davor, auf die High School zu gehen, und Shelly hatte mein halbes Leben bis dahin für uns aufgeräumt und sauber gemacht. 1982 hatte sie aufgehört, weil man ihr einen dreifachen Bypass gelegt und der Doktor ihr geraten hatte, sie solle sich erst einmal erholen. So war es seither geblieben. Ich hatte eigentlich nie so recht darüber nachgedacht, aber wenn ich das getan hätte, hätte ich mich wohl gewundert, warum sie den Job überhaupt erst angenommen hatte. Es war nicht so, als hätte sie das Geld nötig gehabt.

»Mrs. Beukes? Hat mein Vater Sie vielleicht angerufen und hergebeten, damit Sie Marie helfen?«

Marie war die Frau, die dann an Shellys Stelle gekommen war, eine stämmige, nicht besonders intelligente junge Frau Anfang 20, die laut lachte und einen herzförmigen Hintern besaß, der mir nachts regelmäßig in meinen feuchten Träumen erschien. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, warum mein Vater dachte, dass Marie wohl Hilfe bräuchte. Wir erwarteten meines Wissens keine Gäste. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dass wir jemals welche gehabt hätten.

Shellys Lächeln bröckelte kurz. Sie warf wieder einen dieser ängstlichen Blicke über die Schulter auf die Straße. Als sie sich wieder mir zuwandte, war der freundlich-sanfte Gesichtsausdruck so gut wie verschwunden. Aus ihren Augen sprach Furcht.

»Keine Ahnung, Bucko. Sag du’s mir doch! Hätte ich die Wanne putzen sollen? Ich weiß, ich bin letzte Woche nicht dazu gekommen, und jetzt hätte sie es wohl nötig.« Shelly griff in ihre Stofftasche, kramte darin herum und begann, Unverständliches in sich hineinzumurmeln. Als sie wieder aufsah, hatte sie die Lippen fest aufeinandergepresst und sah frustriert aus. »Ach, scheiß drauf. Ich bin aus dem Haus gegangen und hab dabei das verdammte Putzmittel vergessen.«

Ich zuckte zusammen. Ich hätte nicht verwirrter sein können, wenn sie den Trenchcoat ausgezogen hätte und darunter nackt gewesen wäre. Shelly Beukes entsprach vielleicht nicht jedermanns Vorstellung einer adretten alten Dame; ich erinnerte mich sogar daran, wie sie einmal in einem alten John-Belushi-T-Shirt geputzt hatte, aber dass sie fluchte, hatte ich nie gehört. Dieses »Scheiß drauf« war um einiges deftiger als das, was ich von ihr gewohnt war.

Shelly bemerkte meine Überraschung gar nicht. Stattdessen sprach sie einfach weiter. »Sag deinem Vater, dass ich mich morgen um die Badewanne kümmern werde. Ich brauche nicht länger als zehn Minuten dafür, dann strahlt sie wieder so sauber und rein, als hätte nie jemand mit seinem Arsch dringesessen.«

Ein Träger ihrer Stofftasche rutschte ihr von der Schulter, sodass ich hineinsehen konnte. Ein angeschlagener, schmutziger Gartenzwerg lugte heraus, ein paar leere Limodosen und ein alter, abgetragener Turnschuh.

»Ich geh wohl besser heim«, sagte sie plötzlich. Sie klang wie ein Automat. »Mein Afrikaaner wird sich schon wundern, wo ich bleibe.«

Der »Afrikaaner« war ihr Ehemann, Lawrence Beukes, der aus Kapstadt auswanderte, noch bevor ich geboren worden war. Noch mit 70 war Larry Beukes einer der kraftvollsten Männer, die ich kannte. Er war ein ehemaliger Bodybuilder mit den ausgeprägten Muskeln und dem von Adern durchzogenen Stiernacken eines Gewichthebers vom Zirkus. Dieses muskulöse Aussehen war Bestandteil seines Berufs. Er hatte sein Geld mit einer Kette von Fitnessstudios gemacht, die er in den 70er-Jahren eröffnet hatte, gerade als der mit unglaublichen, mit Öl übergossenen Muskeln bepackte Arnold Schwarzenegger sich ins öffentliche Bewusstsein vorgearbeitet hatte. Larry und Arnie waren sogar einmal in ein und demselben Kalender abgebildet worden. Larry hatte den Monat Februar verkörpert, deshalb seine Muskeln im Schnee zur Schau gestellt und dabei nichts weiter getragen als einen winzigen schwarzen Tanga,...