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Dallmayr. Der Traum vom schönen Leben - Roman. Der Auftakt der Bestseller-Saga - zum Dahinschmelzen schön

Dallmayr. Der Traum vom schönen Leben - Roman. Der Auftakt der Bestseller-Saga - zum Dahinschmelzen schön

Lisa Graf

 

Verlag Penguin Verlag, 2021

ISBN 9783641256739 , 640 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

II

Februar bis April 1897

Therese sah den einzelnen Blättern von Antons Brief hinterher, die raschelnd zu Boden sanken, als hätte ein Windhauch sie gepackt. Dabei war es nur ihre Hand gewesen, die nicht mehr in der Lage gewesen war, sie festzuhalten. Therese war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Ihr Blick verfing sich in der Spiegelkommode an der Wand gegenüber, folgte der Maserung des Holzes, dem Lack, der an einigen Stellen stumpf geworden war, den Metallbeschlägen, die wie kleine Katzenpfoten an den Schubladen hingen. Nein, es waren keine Pfötchen, sondern Tränen, die dort fest geworden waren. Erst nach Minuten begriff sie, dass das bleiche Gesicht, das sie schon eine ganze Weile mit kaltem Blick beobachtete, ihr eigenes war. Therese konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Wille war besiegt. Sie hatte keine Kraft mehr und blieb einfach nur sitzen, gefühllos gegen die Kälte im Zimmer, die Dunkelheit, unfähig sich zu bewegen.

Nur ganz langsam kamen nach einer Ewigkeit die Empfindungen zurück. Ihr war kalt, und sie hatte Durst. Bad Kissingen, dachte sie. Sie war jung gewesen damals, Anfang dreißig. Immer noch von einer langen Krankheit geschwächt, war sie dort hingekommen, in das schrecklich mondäne Kurbad, in dem sie sich zu Beginn wie eine Hochstaplerin vorgekommen war. Das filigrane Brunnenhaus, die Wandelarkaden, dieses bitter schmeckende Heilwasser, die solehaltige Luft des Freiluftinhalatoriums. Erst als es ihr zunehmend besser ging, konnte sie die Pracht und den Luxus der Speisesäle, die Konzertnachmittage in den Pavillons, den mit Lampions geschmückten Kurgarten allmählich genießen. Die Erinnerungen standen so klar vor ihren Augen wie ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Schau, diese hübsche junge Frau in dem herrlichen Seidenkleid, das bin ja ich. Sogar ihre Tischnachbarn im Speisesaal, an die sie siebzehn Jahre nicht gedacht hatte, fielen ihr wieder ein. Vor allem dieser Herr von Berneck, Johann hatte er geheißen, der sich so um sie bemüht hatte. Aber ein Kurschatten kam für Therese nicht infrage. Sie war verheiratet, hatte ein kleines Kind zu Hause und einen Mann, von dem sie glaubte, er sei ihr treu. An dem sie niemals gezweifelt hatte. Dreiundzwanzig lange Ehejahre nicht.

Sie hob die Blätter vom Boden auf, stand auf, um ihre Beine zu bewegen. Sie konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit hier sitzen bleiben. Noch einmal betrachtete sie ihr Spiegelbild, blickte siebzehn Jahre zurück. Wie hatte sie ausgesehen, diese Louise? Therese erinnerte sich nicht an das Mädchen. Vielleicht so wie Balbina heute? Balbina. Das Kind ihrer Schwester, das Kind ohne Vater. Und wenn Anton sich irrte? Wenn es gar nicht sein Kind war? Wenn diese Louise ihm ihr lediges Kind nur untergeschoben hatte und ihr guter Anton war darauf hereingefallen? Konnte es nicht so gewesen sein? Balbina sah Anton doch überhaupt nicht ähnlich. Sie war dunkelhaarig wie er, hatte jedoch blaue Augen, während seine braun waren. Mit ihrer hageren, aschblonden, immer ein wenig erschöpft aussehenden Schwester Agnes hatte dieses hübsche Kind mit dem einnehmenden Wesen nie Ähnlichkeit gehabt, das hatte Therese immer schon ein wenig verwundert. Aber auch das kam schließlich öfter vor und war kein Grund, misstrauisch zu werden.

Anton hatte sie sogar einmal mit dem kleinen Hermann in Bad Kissingen besucht. Es war eine lange Zugfahrt gewesen, und die beiden waren sogar über Nacht im Hotel geblieben. Nie hätte sie geglaubt …

Sie hielt inne, stützte sich auf die Tischplatte, dachte nach. Anton war tot, sie konnte ihm nicht böse sein. Nicht jetzt, wo er noch dort unten in seiner Kammer lag, die bleichen Hände auf der Bettdecke gefaltet. Sie musste sich um die Formalitäten kümmern, um eine würdige Beerdigung, man musste die Familie informieren. Und dann? Sie stand auf, ging durchs Zimmer, um den Tisch herum. Was passierte jetzt mit dem Kuckuckskind in ihrem Haus, dem ledigen Kind, das nun doch noch einen Vater bekommen hatte, nachdem es die Suche, das Fragen nach ihm längst aufgegeben hatte. Aber dieses Kind hatte keine Ahnung. Nur Therese wusste Bescheid. Und was fing sie jetzt damit an? Was änderte es?

Rumms. Thereses Hand sauste auf die Tischplatte. Erschrocken horchte sie, ob jemand davon wach geworden war. Natürlich änderte das etwas. Hermann und Balbina. Diese zarte Verbindung, ihre Zuneigung und Verliebtheit, die dabei war, sich zu entwickeln. Und jetzt? Wie trennte man zwei verliebte junge Leute? Was sollte sie denn tun? Sollte sie Balbina wegschicken oder Hermann? Ich brauche sie doch beide. Und sie würden es nie verstehen. Soll ich ihnen die Wahrheit sagen? Das kann ich unmöglich, nicht jetzt, das geht über meine Kräfte. Ich bin doch auch nur ein Mensch.

Therese sah ein, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter so zu quälen. Sie konnte nicht alles an einem Tag lösen. Sie musste handeln, und zwar sofort. Das Angelusläuten setzte gerade ein. Sechs Uhr. Noch eine Stunde bis zur Eröffnung des Geschäfts. Und dass sie es auch heute öffnen würde, stand für Therese außer Zweifel. Es war der Faschingssonntag. Den Vormittag über konnten die Leute noch einkaufen und sich mit Dingen versorgen, die für ihre privaten Bälle und Einladungen noch fehlten. Am Nachmittag würde es den großen Faschingsumzug geben. Der Marienplatz würde sich mit Musikkapellen, Bonbons, Faschingsvereinen und Hunderten von maskierten und verkleideten Menschen füllen. Das Prinzenpaar würde darunter sein und vom Rathausbalkon herunterwinken. Fort jetzt, sie hatte sich nun lange genug im Kreis herumgedreht und würde noch mehr Zeit haben, über alles nachzudenken, als ihr lieb war. Aber nicht jetzt. Nicht alles auf einmal.

Therese lief in Mantel, Hut und Schal zum Pfarramt der Frauenkirche hinüber. Es war nicht weit, aber sie spürte die Kälte dieses letzten Februarmorgens bis in die Knochen. Die Pfarrschwester war schon wach und ließ sie ein. Und weil Therese in einem etwas verwirrten Zustand war, verabreichte sie ihr gleich zwanzig Hoffmannstropfen, aufgelöst in einem Zuckerwürfel. Dann klopfte sie den Kaplan aus dem Bett, denn der Monsignore hatte sich schon zur Frühmesse in den Dom begeben. Sie versprach Therese auch, gleich zum Städtischen Bestatter am Südfriedhof zu schicken, damit alles geregelt würde.

»Warum haben Sie denn nicht schon gestern einen Priester geholt?«, fragte der junge Kaplan, der Therese nach Hause begleitete. »Für eine Krankensalbung ist es ja nun zu spät.«

Therese erklärte ihm, es sei trotz längerer Krankheit plötzlich ganz schnell gegangen und keiner habe zu dem Zeitpunkt damit gerechnet, auch Doktor Eichengrün, der behandelnde Arzt, nicht. Bemerkte sie ein verächtliches Zucken der Mundwinkel im Gesicht des Priesters?

»Nun muss er ohne letzte Ölung und ohne priesterlichen Beistand vor seinen Schöpfer treten«, jammerte der Kaplan, der Therese immer unsympathischer wurde. »War ihr Mann überhaupt gläubig?«

Das war zu viel für Therese. »Mein Mann war der, der er war«, fuhr sie den Priester an. »Ein liebenswerter Mensch und erfolgreicher Geschäftsmann. Und über seinen Glauben müssen wir beide uns jetzt keine Gedanken mehr machen, Herr Kaplan. Tun Sie bitte Ihre Arbeit, sprechen Sie ein Gebet, wie es sich gehört, und machen Sie mir keinen Kummer, denn davon habe ich momentan genug. Bitte.«

Den Rest des Weges liefen sie schweigend nebeneinanderher. Therese führte den Priester hinauf ins Sterbezimmer. Jemand hatte bereits das Federbett frisch bezogen, gelüftet und sogar zwei Kerzen angezündet und einen Strauß weißer Lilien besorgt. Da musste dieser Jemand aber auch sehr früh aufgestanden sein, dachte Therese und wusste, dass es nur Balbina gewesen sein konnte. Die Brust wurde Therese eng, als ihr Blick auf Antons wächserne Hände fiel, sein Gesicht mochte sie lieber nicht ansehen. Der Brief, das Geständnis, es war in diesem Moment wie weggewischt. Anton hatte sie verlassen, und unendliche Trauer war alles, was sie empfand.

Sie instruierte Korbinian und Ludwig, sich um das Geschäft zu kümmern und die Bestatter, wenn sie kämen, über den Hintereingang in die Wohnung zu lassen. Dann holte sie Balbina und die Kinder, um in Anwesenheit des Priesters ein gemeinsames Vaterunser zu sprechen und von Anton Abschied zu nehmen.

Am frühen Vormittag, als der Priester schon wieder fort war, hörte Therese Schritte auf der Treppe vom Geschäft hinauf zur Wohnung. Kamen jetzt etwa schon Leute zum Kondolieren? Bislang hatte sie doch niemanden informiert. Sie hörte, dass es Ludwig war, der den Besucher heraufführte. Unaufhörlich unterhielt er sich mit jemandem, den Therese noch nicht erkennen konnte, unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

»Wenn ich Sie bitten dürfte, Majestät.« Ludwig sprach jetzt lauter. »Vorsicht Stufe, wenn Sie gestatten, Euer Gnaden.«

»Das nenne ich aber mal einen wohlerzogenen Münchner Burschen. Lehrling sind Sie? Ja, lernt man das auch beim Dallmayr, diese hervorragenden Manieren?«

Therese lauschte, verborgen in ihrem Winkel. Diese Stimme kannte sie doch.

»Für meine Manieren war schon mein Elternhaus zuständig, eure Exzellenz«, trumpfte Ludwig auf.

»So? Da haben Ihre Eltern aber etwas geleistet. Brave Münchner Bürger, nehme ich an?«

»Mein Vater ist leider schon verstorben. Er war Arbeiter in einer Sägemühle und Sozialdemokrat. Vielleicht hat er deshalb das Bürgerrecht nicht bekommen. Ich wohne mit meiner Mutter und meiner Schwester in Haidhausen.«

Therese hielt den Atem an. Das war Prinzregent Luitpold. Der oberste bayerische Landesherr in Jagdkleidung, mit Gamsbart auf dem Hut. Und Ludwig redete sich gerade um Kopf und Kragen. Sie musste schleunigst...