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Müll

Müll

Wolf Haas

 

Verlag Hoffmann und Campe, 2022

ISBN 9783455014310 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

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Jetzt, wo es verjährt ist, muss man wenigstens keine Angst mehr haben, dass man was Falsches sagt. Mord verjährt natürlich nicht, das ist klar. Mord verjährt nirgends auf der Welt, und finde ich vollkommen richtig so. Für den Ermordeten gibt es auch kein Verjährt, da kannst du auch nicht daherkommen und sagen, ich hab jetzt das Totsein vorzeitig hinter mir, weil gute Führung im Jenseits. Darum sagt der Gesetzgeber, ein Raub verjährt, eine Erpressung verjährt, ein richtiger Betrug fängt überhaupt erst mit der sofortigen Verjährung an. Aber der Mord verjährt nicht, Mord ist Mord, da kennt der Gesetzgeber keinen Spaß.

Jetzt warum sage ich, es ist verjährt, obwohl es doch ein Mord war? Siehst du, darauf will ich gerade hinaus. Schön eins nach dem anderen. Man kann nicht alles gleichzeitig verstehen. Es braucht immer ein Hintereinander bei den Gedanken. Ein Hintereinander und ein Nebeneinander. Aber kein Durcheinander. Und am allerwichtigsten, eine klare gedankliche Unterscheidung. Das ist mir gerade am Mistplatz so aufgegangen. Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen. Du hast die Wanne 1, du hast die Wanne 2, du hast die Wanne 3. Du hast Metall, du hast Plastik, du hast Sperrmüll, du hast Buntglas, du hast Weißglas, du hast Elektroschrott, du hast Kompost, du hast Styropor, du hast einfach alles am Mistplatz. Das geht hinauf bis 32, 33, es gibt für alles eine eigene Wanne, Bauschutt, Wellpappe und und und. Weil ohne die klare Trennung kannst du jedes Recycling vergessen. Und da bin ich noch nicht einmal bei den Problemstoffen.

Früher hat man überhaupt nur zwei Sachen unterschieden: den Müll und den Mist. Weil den Mist hat der Bauer noch brauchen können, und den Rest hat man einfach in den Bach geschmissen. Nur bei uns hat man nicht einmal das unterschieden, sprich in Wien alles Mist. Heute ist es dafür umgekehrt, weil heute Wien beste Mistplatzordnung auf der ganzen Welt. Bei uns musst du lange suchen, bis du eine Straßenkreuzung findest, wo der Wegweiser zum nächsten Mistplatz fehlt. Da kann man schon einen gewissen Miststolz ablesen. Weil du darfst eines nicht vergessen. Ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen. Und der Kreislauf fängt bei der exakten Trennung an. Darum war es auch so eine heikle Sache, dass ausgerechnet am Mistplatz so ein Durcheinander ausgebrochen ist.

Die ersten Leichenteile sind in der Wanne 4 aufgetaucht. Also ein Knie war das Erste, ist ja eh alles in der Zeitung gestanden, muss ich jetzt nicht so im Detail. Rechtes Knie, soweit ich mich erinnere. Aber egal, rechtes oder linkes Knie, in Wanne 4 gehört kein Knie hinein. Da ist sogar egal, ob es ein menschliches Knie ist oder ein tierisches Knie, nicht einmal ein Titanknie darf da hinein, und das Knie von einer Wasserleitung auch nicht, weil Wanne 4 nur Sperrmüll.

Seit neuestem glaubt ja jeder, er kann mitreden beim Müll. Wo die Menschen früher über den eigenen Kreislauf gejammert haben, sprich Kreislaufstörung, geht es heute nur mehr um den Müllkreislauf. Da wird ein Recycling und eine Wiederverwertung heruntergebetet, Müllbuddhismus nichts dagegen. Aber reden kann man leicht. Machen muss man es auch richtig! Wenn du schon am Anfang das Zeug in die falsche Wanne schmeißt, alles umsonst. Knie in Wanne 4, da kannst du von einem Kreislauf nur träumen. Menschliches Knie wäre natürlich, wenn schon, Biomüll. Wanne 19. Oder zur Not, zur äußersten Not von mir aus Kompost. Wanne 12. Also abgesehen davon, dass ein menschlicher Körperteil am Mistplatz sowieso nichts zu suchen hat, das muss ich hoffentlich nicht extra sagen. Menschliche Körperteile: Magistratsabteilung 43, Friedhöfe. Und nicht Magistratsabteilung 48, Abfallwirtschaft. Aber rein von den Wannen her gedacht, sag ich: Wanne 12, Wanne 19, da lass ich mit mir reden, aber sicher nicht Wanne 4.

Darum sind die Mistler ja so heikel, wenn die Leute hereinfahren. Da kommt keiner am Empfangschef vorbei. Also, Empfangschef, das ist nur so untereinander, wer halt gerade eingeteilt ist. Einer muss den Portier spielen, sonst fahren die Leute unkontrolliert herein und schmeißen ihre Sachen irgendwohin, das kannst du dir nicht vorstellen. Aber normalerweise immer alles unter Kontrolle. Da ist einmal der Schmid Empfangschef, einmal der Novak, einmal der Udo, weil dem seine Mutter war ein wahnsinniger Fan vom Udo Jürgens, und der Udo hat gesagt, ich kann ihn ruhig namentlich erwähnen, weil ihn kennt eh jeder, seit sein Foto mit dem Knie in der Zeitung war. Die Kollegen natürlich neidig, ja was glaubst du. Warum ist der Udo mit dem Knie in der Zeitung, und der Novak mit dem abgetrennten Kopf nicht in der Zeitung. Aber das ist am Foto gelegen, weil den Novak hat keiner fotografiert, wie er den Kopf aus dem Elektroschrott gefischt hat. Und bevor er an das Foto gedacht hat, war dann schon die Polizei da.

Der Udo hat in den nächsten Wochen nicht den Empfangschef spielen können, das ist klar. Du kannst nicht eine Berühmtheit zur Einfahrt stellen, sonst ist der Stau schon fertig. Aber jeden Praktikanten kannst du auch nicht hinstellen, sondern nur einen Erfahrenen. Weil wenn du nicht aufpasst, kommen die Leute mit dem Anhänger auch noch herein. Du musst wissen, am Mistplatz gilt die eiserne Regel, ein Kofferraum gebührenfrei. Ein Kofferraum ist nicht ein ganzer Bus. Ein Kofferraum ist nicht ein Anhänger. Ein Kofferraum ist nicht ein Kleinlastwagen. Wer mehr als einen Kofferraum voll hat, muss zum Gebührenmist, sprich Rinterzelt, da gibt es keine Ausnahme.

Natürlich gibt es Zweifelsfälle. Zweifelsfälle gibt es immer im Leben, wer das bestreitet, ist kein Mensch. Der Kombi hat keinen Kofferraum in dem Sinn, jetzt musst du das Augenmaß haben, da darf man nicht päpstlicher sein als der Papst, weil Dienst am Bürger. Aber heutzutage die SUVs, die Vans, das glaubst du nicht, wie viel Müll in denen anreist. Und die glauben, sie können das einfach alles gebührenfrei hereinschütten. Aber nichts da. Die haben die Rechnung ohne den Udo gemacht. Weil der Udo sagt immer, SUV Abkürzung für sozial unterentwickeltes Vehikel, und bei uns lädt der nicht ab. Da freu ich mich schon immer, wenn die aussteigen. Weil so schnell schauen die gar nicht, sind sie schon Richtung Rinterzelt unterwegs, sprich gebührenpflichtige Ablademöglichkeit.

Manchmal kann bei Zweifelsfällen auch ein Trinkgeld helfen, da will ich jetzt gar nicht reden, aber im Prinzip musst du alle gleich behandeln. Ob das ein junger Mensch ist oder ein alter, ob der in einer Rostschüssel vorfährt oder im neuesten Ferrari, ob das ein Mann ist oder eine Frau, vor dem Mist sind alle Menschen gleich. Höchstens im Umgangston, da will ich jetzt die Müllmänner nicht heiliger hinstellen, als sie waren. Es sind schon Sachen vorgekommen. Wenn da die Richtige hereingekommen ist, hat man vielleicht schon einmal ein bisschen freundlicher gegrüßt als bei einem Mann. Da hat es schon vorkommen können, dass man nicht nur gesagt hat »Was haben wir da?«, sondern vielleicht auch einmal »Was bringen Sie mir Schönes?«. Oder man hat sogar das Gespräch gesucht mit einem freundlichen »Können Sie das nicht noch brauchen? Sind Sie sich sicher, dass Sie das wegschmeißen wollen?«. Oder sogar »weggeben« statt »wegschmeißen«, weil klingt doch einfühlsamer.

Und du darfst eines nicht vergessen. Die orange Arbeitskluft ist so was wie eine Uniform. Da stehst du ganz anders da als Mann. Sicher, Orange steht nicht jedem, aber wenn es einem steht, eins a. Dem Udo ist das Orange überhaupt nicht gestanden, das muss ich ganz ehrlich sagen, weil der Udo blonder Typ. Sogar rotblonder Typ, wenn man ganz ehrlich ist. Es war ihm aber nicht bewusst, dass ihm das Orange nicht steht, und das war sein großer Trumpf. Weil wenn du dich schön fühlst, dann hast du die Ausstrahlung, egal ob dir das Orange steht oder nicht. Und der Udo eine wahnsinnige Freude mit sich gehabt, wenn der mit seinem Zopf über den Mistplatz spaziert ist, hat jeder sofort gewusst, der Udo ein Glückskind. Wenn du mich fragst, hat er sogar seine Zahnlücke noch für die besondere Note gehalten, weil der Udo immer extra breit gegrinst, damit die Zahnlücke zur Geltung kommt.

Irgendwie war es schon typisch, dass dem Udo der erste Teil untergekommen ist. Er hat gerade einer Renaultfahrerin beim Ausladen von ihrem Garderobenspiegel geholfen, weil neu gekauft und beim Transport zerstört. Jetzt hat ihr der Udo zum Trost beim Abladen geholfen. Normalerweise gibt es kein Helfen, weil wo kommen wir da hin. Aber der Udo einen guten Tag gehabt und sogar an einem Trostspruch gearbeitet. Der Spruch wäre in die Richtung gegangen, dass ein zerbrochener Spiegel nicht in jedem Fall Unglück bedeuten muss, weil andererseits sagt man ja auch wieder, Scherben bringen Glück. Und dass sich ihr Glück vielleicht in Gestalt einer netten Bekanntschaft namens Udo einstellt, hätte sich automatisch aus dem weiteren Gespräch ergeben.

Aber nichts da. Kein Wort hat er herausgebracht. Weil das Unglück war schon da, und die einzige Bekanntschaft, die der Udo gemacht hat, war die mit dem Knie, das er in der Wanne 4 entdeckt hat. Die Renaultfahrerin hat nur noch das Handyfoto gemacht, wie der Udo das Knie herausholt. Das war ja das Foto, das dann überall aufgetaucht ist. Sie selber hat sich nie mehr blickenlassen, aber...