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Der Komplex - Thriller

Der Komplex - Thriller

Brian Keene

 

Verlag Festa Verlag, 2022

ISBN 9783865529923 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

2

Terri und Caleb: Apartment 2-D

»Caleb!«, ruft Terri. »Wo steckst du?«

»Ich bin doch hier, Mom.«

Der Sechsjährige stapft aus dem Truck. Das Geräusch, das seine Schritte auf der langen Heckrampe aus Metall erzeugen, macht ihm sichtlich Spaß. Terri fragt sich, in welche Rolle er diesmal geschlüpft ist. Hulk vielleicht? Oder eher ein Klonkrieger aus Star Wars? Ihrer mütterlichen Logik nach muss es auf jeden Fall eine Figur sein, die stampft.

Caleb trägt einen Pappkarton, darauf in schwarzen Filzstiftlinien das mühevolle Gekrakel eines Sechsjährigen, der gerade Schreiben lernt: ›CALEBS ZIMMER‹. Er schleppt ihn durch die offene Apartmenttür, aus der ihm Randy entgegenkommt. Grinsend wuschelt er Caleb durchs Haar.

»Bist ganz schön stark, Kleiner.«

»Weiß ich«, antwortet Caleb, ohne stehen zu bleiben und, wie Terri bemerkt, ohne Randy anzuschauen. »Hab meine Superkräfte von einem gammabestrahlten Arc-Reaktor. Jetzt bin ich Iron Hulk.«

Tja, denkt Terri, immerhin weiß ich jetzt, wen er heute spielt.

Eine Polizeisirene zerreißt die Stille. Gleich darauf ertönt eine zweite, dem Geräusch nach aus der anderen Richtung.

»Klingt, als wär heute Abend ganz schön was los«, scherzt Randy.

Caleb scheinen die Sirenen nicht zu beeindrucken. Er kommt wieder aus dem Apartment und stampft über den Parkplatz.

Die Intensität seiner Vorstellungskraft begeistert Terri jeden Tag aufs Neue. Obwohl er erst in die erste Klasse geht, liest er bereits Texte auf Drittklässlerniveau. Im Matheunterricht kommt er ebenfalls gut klar. Tatsächlich ist das Einzige, womit Caleb sich schwertut, das Spielen mit Gleichaltrigen. Es frustriert ihn, wenn die anderen Kinder keine Lust auf seine Spiele oder Regeln haben. Also spielt er oft allein. Und obwohl es ihm nichts ausmacht, von kleinen Mädchen über den Spielplatz gejagt zu werden, mag er es gar nicht, wenn sie versuchen, seine Hand zu nehmen. Und noch weniger kann er es ausstehen, wenn sie ihm sagen, sie würden ihn mal heiraten. Caleb beharrt darauf, dass das einzige Mädchen, das er je heiraten wird, seine Mama ist. Das macht Terri gelegentlich Sorgen. Die Phase, seine Mutter heiraten zu wollen, mag für kleine Jungs normal sein, aber allmählich findet sie ihn dafür etwas zu alt. Auch sein Hang, allein zu spielen, wann immer die anderen Kinder nicht nach seiner Pfeife tanzen, bedrückt sie.

Caleb ist ein Einzelkind, ihr einziges Kind. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. In Wahrheit kannte Terri selbst Calebs Vater nicht sonderlich gut. Er starb vor Calebs Geburt. Terri lernte Mark, seinen Vater, im College kennen. Nach fünf Dates war sie schwanger. Mike war bei einem Unfall unter Alkoholeinfluss ums Leben gekommen, bevor sie die Gelegenheit hatte, ihm davon zu erzählen. Stattdessen nahm sie Kontakt zu seinen Eltern auf, die aber nichts mit ihr zu tun haben wollten. Über die Jahre hinweg hatte sie es noch mehrmals versucht, damit sie ihren Enkel kennenlernen konnten, aber sie haben nie darauf reagiert.

Als Caleb zur Welt kam, brach Terri das College ab. Seitdem sind sie unzertrennlich. Sie zogen bei ihrer Mutter ein, die tagsüber auf ihn aufpasste, während Terri zur Arbeit ging. Sobald Terri nach Hause kam, musste ihre Mutter los zu ihrer Schicht als Nachtschwester. Obwohl diese Lösung größtenteils angenehm gewesen war und Terri ihrer Mutter für deren Unterstützung auf ewig dankbar sein wird, wurde es Zeit, dass Caleb und sie allein leben. Zuletzt war es immer mal unangenehm geworden – kleine Reibereien –, etwa wenn ihre Mutter Terris Erziehungsmethoden oder Regeln infrage stellte. Außerdem ist ihre Mutter an einem Kollegen interessiert, einem »netten Krankenpfleger namens Dave«, den sie schlecht daten kann, während Tochter und Enkel bei ihr leben. In Wahrheit fällt es Terri genauso schwer, ihr Sozialleben aufrechtzuerhalten, obwohl sie daran eigentlich noch nie wirklich interessiert war. In den letzten sechs Jahren drehte sich ihr Leben einzig und allein um ihren Sohn, womit sie kein Problem hat. Ihr kommt fast nie in den Sinn, sich mit jemandem auf ein Date zu treffen, außer ihre Freunde melden sie bei einer dieser Dating-Websites an oder versuchen, sie mit einem Bekannten zu verkuppeln. Deren Facebook-Profile sind voller Bilder von sich und ihren Liebhabern oder, was in letzter Zeit vermehrt der Fall ist, ihren Ehemännern. Terri postet nur Bilder von Caleb. Und ein paar von ihrer Mutter. Aber keine von ihrem Vater. Der starb, als sie sechs war. Sie ist größtenteils vaterlos aufgewachsen.

Genau wie ihr Sohn im Moment.

Dieser Umstand bricht ihr das Herz und bringt sie immer wieder auf den Gedanken, sich vielleicht doch wieder mit jemandem zu treffen. Vielleicht sollte sie die Stelle als Vater für ihren Sohn – und nichts anderes ist es, wenn sie ehrlich mit sich ist – endlich ausschreiben. Tief im Inneren weiß sie, dass es genau darauf hinauslaufen würde. Sie kann sich nicht vorstellen, jemals irgendwen so wie Caleb zu lieben, genauso wenig wie jemand anders in ihrem Leben einen Platz einzuräumen, von ihrem Herzen ganz zu schweigen. Sie braucht keinen Mann in ihrem Leben, aber sie sorgt sich um ihren kleinen Jungen, der den vielleicht nötig hat. Terri erinnert sich nur zu gut daran, wie schwierig es für sie war, ohne Vater aufzuwachsen. Wie schwer muss es dann erst für einen Jungen sein?

Unbewusst verzieht sie das Gesicht, als sie daran denkt, was ihre Feministen-Freunde aus Collegezeiten dazu sagen würden. Dann beschließt sie, dass ihr das eigentlich egal ist. Ja, sie leistet gute Arbeit damit, Caleb zu erziehen, und nein, er braucht keine Vaterfigur in seinem Leben, aber – die Argumente von wegen Gender, Sexismus und Patriarchat einmal beiseite – es wäre trotzdem schön, wenn er eine männliche Bezugsperson hätte.

Randy würde alle Kriterien erfüllen. Sie sind seit Jahren Freunde – beste sogar – und es ist kein Geheimnis, dass er sich mehr wünscht. Sie hat ihm nach dem Ende von zwei ernsthaften Beziehungen beigestanden, während er immer ein Ohr für ihre Sorgen hat und für sie und Caleb da ist. Das eine Mal schliefen sie bei einem Film sogar auf der Couch nebeneinander ein. Zu mehr ist es bisher allerdings nie gekommen. Terri liebt Randy so, wie man einen wirklich guten Freund eben liebt, aber ihre Gefühle gehen einfach nicht darüber hinaus. Sie hat ihm schon oft gesagt, dass er jeden Gedanken an etwas Romantisches zwischen ihnen vergessen kann, genau wie eine Freundschaft mit gewissen Extras. Jedes Mal schwört Randy, dass er es verstanden habe und es ihm nichts ausmacht, aber manchmal zweifelt Terri, ob das wirklich stimmt. Und manchmal fühlt sie sich auch schuldig. Dann fragt sie sich, ob sie ihm durch irgendwas doch falsche Hoffnungen macht. Er versichert ihr, das tue sie nicht und er habe im Moment nun mal keine Lust auf Dates und verbringe seine Zeit gerade einfach lieber mit ihr und Caleb. Aber Terri fragt sich, ob er dadurch nicht die Chance verpasst, sich ein Leben mit jemand anders aufzubauen.

Ab und an fragt sie sich auch, wie sie sich fühlen würde, wenn er jemanden hätte.

»Alles okay?«, fragt Randy, während er einen weiteren Schwung Kisten die Rampe herunterschleppt.

Terri lächelt. »Ja. Tut mir leid, war kurz abgelenkt.«

Schulterzuckend erwidert Randy ihr Lächeln. »Kein Ding. Du siehst fertig aus. Wir sind schon den ganzen Tag am Schuften. Warum machst du nicht ’ne Pause?«

»Nein.« Terri schüttelt den Kopf. »Ich will hier fertig werden. Du hast heute Abend sicher Besseres zu tun als mir beim Umzug zu helfen.«

»Mir fällt nichts ein.«

Sein Lächeln wird breiter. Er geht die letzten Schritte zum Ende der Rampe und stolpert. Die oberste Kiste rutscht von seinem Stapel und fällt laut scheppernd zu Boden.

»Scheiße! Tut mir leid, Terri.«

»Schon okay«, versichert sie ihm ruhig. »Das ist nur die Weihnachtsdeko von meiner Tante Hildy. Hab sie noch nie aufgehängt, viel zu kitschig. Wenn das Zeug jetzt kaputt ist, hast du mir ’nen Gefallen getan.«

Randy versucht eine übertriebene Verbeugung, wobei er fast die restlichen Kartons verliert. Als er sich wieder gefangen hat, lachen sie beide. Kurz halten sie inne und sehen sich an. Für einen Augenblick durchströmt Terri ein warmes Gefühl. Sie vermutet, Randy spürt auch etwas. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, als Caleb aus der Wohnung kommt und zwischen sie tritt.

»Mom, es wird dunkel.«

Terri schaut kurz zum Himmel und stellt fest, dass er recht hat. Noch so viel zu tun, und die Nacht bricht schon herein. Immerhin sind die schweren Möbel bereits ausgeladen. Ein paar ihrer Freunde haben ihnen vorhin dabei geholfen. Aber im Truck stapeln sich noch immer reihenweise Kisten, die reingetragen und dann auch noch ausgepackt werden wollen, außerdem muss sie die Betten aufbauen und den Miettransporter zurückbringen, damit ihr kein weiterer Tag berechnet wird.

»Fünf Minuten Pause«, beschließt Randy. »Caleb, du passt auf, dass deine Mom sie einhält.«

Caleb nickt. Er schaut Randy noch immer nicht in die Augen, aber er grinst.

»Mir geht’s gut«, beteuert sie. »Caleb, wenn du heute Nacht nicht auf dem Boden schlafen willst, sollten wir fertig werden. Außerdem müssen wir immer noch den Truck zurückbringen, sonst zahlen wir für den nächsten Tag.«

»Darum kümmer ich mich. Mach du einfach …«

Plötzlich verstummt er, den Blick auf etwas hinter sie gerichtet, genau wie Caleb. Verwirrt dreht sich Terri langsam um und...