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Strafbar

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Nicolai Ludwig

 

Verlag Spica Verlag, 2022

ISBN 9783985030279 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,49 EUR


 

Der Fall Walter W.


Auf Höhe des Seebades Dietrichshagen stellte ich im Küstenwald mein Fahrrad auf den Ständer, trat an die Kante des Kliffs, schaute die Küstenlinie entlang in Richtung Warnemünde. Die See lag wie Seide. Zwischen dem grünen und roten Turm der Molenfeuer stieg die Sonne, wärmte mein Gesicht. Voraus lagen zwei Frachter auf Reede. Nach Westen hin konnte ich das nahe Kap in seinen Schattenfahnen erahnen. Unter mir landeten Wellen lautlos. Die Nacht, mit ihrem Landwind, hatte ihnen die Kraft genommen. Stille.

Mein Bike trug mich den Radweg entlang der Küste, über jenes Kap hinaus, auf dessen Name Geinitzort nichts hinwies. Jede Umdrehung der Pedale förderte die alte Geschichte hervor, als wäre sie erst gestern passiert.

Anna. In Berlin hatte sie Kunstgeschichte studiert. In den Semesterferien wollte sie nach Hause an die Ostsee fahren, auf dem Radfernweg Berlin–Kopenhagen. Allein, denn Anna musste über die Beziehung zu ihrem Freund nachdenken. Nach ihrer Abfahrt vom Zeltplatz in Krakow am See hatte sie sich nicht mehr bei den Eltern gemeldet, wie sie das täglich übers Handy tat. Auch am nächsten Tag nicht. Am folgenden wurden die schlimmsten Befürchtungen Gewissheit. Eine Gruppe Radwanderer hielt zu ihrer ersten Tagesrast an der Schutzhütte bei Groß Breesen. Sofort wurde sie von Schmeißfliegen umschwirrt. Deshalb wollte die Truppe schon weiter, aber einer bestand auf seiner Notdurft. Dabei trat er fast auf die Person, die hinter der Hütte mit dem Gesicht auf dem Waldboden lag. In der nächsten Stunde war die erweiterte Rostocker Mordkommission aufgerufen worden und versammelte sich im Beratungsraum der Kriminalpolizeiinspektion in der Ulmenstraße.

Auf dem Küstenradweg hinter Heiligendamm, wo die Linie des Ufers flacher lief, der Buchenwald bis an den Strand reichte, plätscherte ein Bach über den Sand ins Meer. Hier florierte seit einigen Jahren eine Waldbar. Ich stieg ab, schloss mein Rad an, betrat die Bohlen der Terrasse. Der breite Rücken, darüber die Form des kahl geschorenen Schädels, dieser Typ, der gerade von einem der Tische aufbrach, war mir vertraut. Ich trat auf ihn zu.

„Dschinni, Team Sieben Partner, was treibst du hier?“

Fast zwei Meter richteten sich vor mir auf. Muskelpakete umfingen mich.

„Mensch, Matthias!“ Sein Lachen kam tief aus der Brust. „Hier ist die Wendemarke meiner Laufstrecke.“

Er wohnte noch immer in Börgerende.

„Ich muss los, sonst werde ich kalt. Wir sehen uns.“

Dschinni, hmm … alle nannten ihn nur so. Seinen Spitznamen hatte er mitgebracht. Oder war er ihm vorausgeeilt, der Vergleich mit dem Geist aus der Flasche? Maik, fiel mir sein Vorname wieder ein, klang aber auch zu mickrig für ihn. Er und ich hatten eines der Ermittlungsteams gebildet in dem Fall, der noch in meinen Gedanken lag. Erst einige Monate davor hatte er seinen Abschied in der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) genommen, nachdem seine Bewerbung auf eine freie Kommissarsplanstelle bei der Kripo durch war.

Zufall, dass wir uns hier trafen. Nicht aber, in mir schüttelte ich den Kopf, dass ich hier einkehrte.

Am Tresen bestellte ich ein Alster und setzte mich auf der Holzterrasse an den Tisch, der am dichtesten zur Uferböschung stand. Strandrosen wuchsen zwischen geschichteten großen Findlingen. Wie vom Deck eines Schiffes schaute ich auf das Meer. Meine Gedanken blieben in Annas Geschichte.

In der Tat, als sie gefunden wurde waren schon die ersten Totenfliegen aus den Eiern in der Halswunde geschlüpft. Im Obduktionsbericht hatte gestanden: ein fachgerecht ausgeführter Entbluteschnitt.

Anna war die zweite junge Frau innerhalb eines Monats, die auf diese Weise umgebracht worden war. Nach Lübeck hin, in dem Waldgebiet an der ehemaligen innerdeutschen Grenze hatte ein Jäger zwei Wochen zuvor die Leiche einer dreiundzwanzigjährigen Joggerin aus Schlutup entdeckt. Sie lag auf einem der alten Postenwege. Deshalb bestand von Anfang an der Verdacht, beide Morde gehörten zusammen.

In den Medien schlugen die Wellen hoch. Ein Boulevardblatt titelte: „Killer lauert in Mecklenburgs Wäldern.“ In dem Fall der Schweriner Kollegen konnte schnell Haftbefehl gegen einen W. aus Schönberg erlassen werden. Die Kriminaltechniker hatten an tatrelevanten Stellen ein männliches DNA-Profil gesichert, „das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Täter stammt“, wie es in ihrem Untersuchungsprotokoll hieß. Seit einem Raub lag der gelernte Schlachter W. mit seinem Muster in der Datenbank ein. Der Abgleich lieferte seinen Namen.

Ermittlungen in einem Mordfall unterlagen einer kriminalistischen Besonderheit. Sie bezogen in der Regel das gesamte Umfeld des Opfers ein. Das war Routine, da statistisch 70 bis 80 % der Fälle letzten Endes in diesem Rahmen aufgeklärt werden.

Die Richtung unserer ersten Nachforschungen hatten die vorhandenen Informationen durch die Eltern bestimmt.

Annas Freund. Kommilitonen wussten, dass er in die Heimat nach Lissabon abgereist sei. Die Fluglinie TAP Portugal hatte die Abflugzeit von Schönefeld bestätigt. Sie lag eine Stunde vor Annas Weiterfahrt vom Zeltplatz in Krakow am See. Dort, und an der Uni, ergaben sich keine Hinweise.

Ein roter Kreis war auf der großen Karte an der Wand des Beratungsraumes um den Fundort gezogen worden. „Wenn notwendig, werden wir den täglich um weitere fünf Kilometer erweitern“, hatte Eckehard die Einweisung beendet. Dschinni kümmerte sich um ein Auto, ich um die Unterlagen unseres Auftrages. Im Treppenflur trafen wir uns wieder.

„Nur der Transporter der Wirtschaftsabteilung war übrig.“ Er klang fast beleidigt.

Im Hof gingen wir zweimal um den VW T4 herum. Schmutzig wirkte sein stumpf gewordenes Weiß. Dschinni verzog das Gesicht.

„Einige Jahre hat der schon auf der Uhr.“ Er schloss die Fahrertür auf, stieg ein und startete den Motor. Das friedliche Tuckern des Diesels versöhnte seine Miene.

Es war bereits früher Nachmittag. Die Sonne brannte erbarmungslos vom blanken Himmel. Fast liebten wir nun die Farbe unseres Untersatzes, als wir die anderen Teams in ihren dunklen Karossen schwitzen sahen.

Das letzte Anwesen in Alt Sammit lag außerhalb. Am Hoftor prangte auf einem Schild: „Hier hat der Dackel das Sagen.“ Die Klingel ersetzte eine Glocke. Dschinni läutete.

„Hallo, ist jemand zu Hause?“

Gänseschnattern. Die Antwort kam vom Hof. Ich nickte Richtung Haustür, „ein Schlüsselbund steckt“, und klinkte die Pforte.

„Was ist mit dem Hund?“

„Vielleicht gab es den mal. Jetzt sind das die Gänse.“ Ich ging auf die Haustür zu, klopfte.

Dann folgte ich dem Feldsteinpflaster um das Haus. Dschinni hielt sich dicht an meinen Fersen. Vom Stall her kam das Quietschen einer Karre. Dann stand sie fast vor uns, voll beladen mit Mist, obenauf eine Forke, griffbereit, die Bäuerin in Gummistiefeln dahinter.

„Wat gifft dat, de Herren?“ Ihr Ton zeigte Misstrauen. Ich schätzte sie auf siebzig.

„Gauden Dach, entschulligen Se öwer …“ (Guten Tag, entschuldigen Sie aber …)

Sie setzte die Karre ab, ihre Haltung entspannte sich. Dschinni hatte seine Dienstmarke aus der Tasche gezogen und hielt sie ihr mit langem Arm hin: „Mordkommission.“

„Ahn Brill kann ik dat nich läsen.“

„Wi sünd ut Rostock.“

„Kam Se man“, nickte sie, ließ die Karre stehen und wies uns mit der Bewegung ihrer Arme vorauszugehen.

So scheuchte sie wohl ihr Geflügel. Fehlte nur noch das Huschhusch.

Vor der Haustür galt ihr prüfender Blick unserem Auto.

Ich blieb stehen, lächelte sie an: „Öwerst de Schlöttel laten Se stäken.“ (Aber den Schlüssel lassen Sie stecken.)

„Kam Se in’t Hus“, (Kommen Sie ins Haus) schob sie mich mit Blicken voran, „över de Schauh in de Veranda ut trecken; moegen se Ierdbeertorte?“ (aber die Schuhe in der Veranda ausziehen; mögen Sie Erdbeertorte?)

„Oh, välen Dank, över bitte keene Ümstänn uns wägen.“ (Oh, vielen Dank, aber bitte keine Umstände unseretwegen.)

„Hüt morgen heff ik de Kauken ganz frisch backt. Ick wullt sowurso Kaffe mocken. De arme Dirn.“ (Heute Morgen habe ich den Kuchen ganz frisch gebacken. Ich wollte sowieso Kaffee machen. Das arme Mädchen.)

Ein großes Stück Torte mit Sahne, Dschinni legte sie gleich zwei auf den Teller, und eine Tasse Kaffee, soviel Zeit musste sein.

„Ok mit mine achtzig führ ik noch Fohrrad.“

Dann beschrieb sie uns einen Radfahrer, der an der Wegkreuzung nach Reimershagen mit einer jungen Frau sprach: „De wieren beid nich von hier. Dat Rad von de Dirn hett gräun utseihn un ehre Bluse gäl.“ (Die waren beide nicht von hier. Das Rad von dem Mädchen hat grün ausgesehen und ihre Bluse gelb.)

Die Beschreibung passte auf Anna. Unmerklich nickte ich zu Dschinni. Er entnahm unseren Unterlagen ein Foto und legte es neben die geblümte Kaffeetasse der Bäuerin, auf den mit einer weißen Spitzendecke gedeckten Tisch.

„Jo, dat is de jung Fru.“

Sie beschrieb den Radfahrer. Ich schaute zu Dschinni, schüttelte leicht den Kopf. „Välen Dank, ünnerschrieben Se bitte noch ehre Utsag.“ (Vielen Dank, unterschreiben Sie bitte noch Ihre Aussage.) Ich erhob mich, gab ihr die Hand: „Ok för de Torte, sihr licker.“ (Auch für die Torte, sehr lecker.)

Schon im Gehen: „Wi schicken Sei noch de Kollegen, de moken een Phantombild.“

„Ich wollte nicht, dass wir ihr das Bild von W. zeigen. Das könnte ihre Erinnerung an den Radfahrer beeinflussen.“

„Schon klar. Die Beschreibung könnte auf W. passen.“ Dschinni legte mir aufgekratzt seine Pranke auf die Schulter. „Abwarten.“ Ich...