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Der Geist von Maddy Clare - Thriller

Der Geist von Maddy Clare - Thriller

Simone St. James

 

Verlag Festa Verlag, 2022

ISBN 9783986760090 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

1

London, 1922

An dem Tag, an dem ich Mr. Gellis begegnete, ging ich im Regen spazieren.

Da ich mich nicht in der Lage sah, einen weiteren Tag allein in meiner Wohnung zu ertragen, wanderte ich am Morgen durch das Gewühl von Piccadilly, den Kragen meines dünnen Mantels hochgeschlagen.

Die Luft war erfüllt von Nieselregen, der einen wie Watte umgab, ohne ganz zu Boden zu fallen, sich mir auf Wangen und Wimpern legte. Grell leuchteten die Lichter von Piccadilly unter den düsteren Wolken; die Rufe der Touristen waren laut gegen das grimmige Schweigen der Geschäftsleute und das Gemurmel der über den Platz flanierenden Paare.

Ich blieb, solange ich konnte, beobachtete das Auf und Ab der Regenschirme. Niemand nahm Notiz von einem blassen Mädchen mit kurz geschnittenem Haar unter einem billigen, unmodernen Hut, das die Hände in den Taschen vergraben hatte. Schließlich löste sich der Nebel in Regen auf, und selbst ich wandte meine Schritte widerstrebend wieder nach Hause zurück.

Es war zwar erst Mittag, doch der Himmel war beinahe dunkel, als ich das Tor öffnete und den Weg zu meiner kleinen, schäbigen Pension entlangeilte. Ich stieg die schmale Treppe zu meinem Zimmer hinauf und zitterte, als die Feuchtigkeit in meine Strümpfe drang, sodass meine Beine ganz taub wurden. Mit klammen Fingern tastete ich nach meinem Schlüssel und dachte an eine Tasse heißen Tee, als die Vermieterin auf der Treppe zu mir nach oben rief, dass jemand für mich am Telefon sei.

Ich machte kehrt und stieg wieder hinab. Bestimmt war die Agentur am Apparat, die Arbeitskräfte auf Zeit vermittelte – sie waren die Einzigen, die meine Nummer kannten. Seit fast einem Jahr arbeitete ich für sie, und sie schickten mich hierhin und dorthin, um Anrufe entgegenzunehmen oder in schlecht beleuchteten Büros mit niedriger Decke Aufzeichnungen zu transkribieren. Trotzdem war die Arbeit in den letzten Wochen versiegt, und ich litt unter schmerzlicher Geldknappheit. Was für ein Glück ich hatte! Wäre ich nur fünf Minuten später nach Hause gekommen, hätte ich ihren Anruf verpasst.

Im Flur des Erdgeschosses stand auf einem kleinen Regal das einzige Telefon des Hauses, der Hörer abgehängt daneben, wo die Zimmerwirtin ihn hingelegt hatte. Am anderen Ende hörte ich bereits den Widerhall einer ungeduldigen Stimme.

»Sarah Piper?«, meldete sich eine weibliche Stimme, als ich den Hörer ans Ohr hob. »Sarah Piper? Sind Sie dran?«

»Ich bin hier«, sagte ich. »Legen Sie bitte nicht auf.«

Es war die Agentur, wie ich vermutet hatte. Das Mädchen klang nervös und ungeduldig, während sie erklärte, was sich ergeben hatte. »Ein Schriftsteller«, erklärte sie mir. »Er schreibt wohl irgendein Buch – und braucht eine Assistentin. Möchte heute noch ein Treffen mit jemandem. Er will unbedingt eine Frau.«

Ich seufzte, musste an dicke, verschwitzte Männer denken, die gerne eine ganze Abfolge junger Damen beschäftigten. In der Regel wurde ich einfach in ein Büro geschickt, um direkt mit der Arbeit zu beginnen, nicht zu einem persönlichen Treffen. »Ist er Stammkunde?«

»Nein, er ist neu. Möchte sich noch heute Nachmittag mit jemandem treffen.«

Ich biss mir auf die Lippe, während mir ganz flau im Magen wurde. Als Aushilfskraft war man ein leichtes Opfer für jedwedes Verhalten eines Mannes, und wir konnten uns so gut wie nicht wehren, sonst wurden wir gefeuert. »In seinem Büro?«

Sie schnaubte vor Ungeduld. »In einem Café. Er machte unmissverständlich klar, dass er sich an einem öffentlichen Ort treffen möchte. Werden Sie hingehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Hören Sie!« Ihre Stimme klang verärgert. »Ich habe noch andere Mädchen, die ich anrufen kann. Gehen Sie jetzt hin oder nicht?«

Mich mit einem Mann allein in einem Café treffen? Andererseits war meine Miete in der Pension seit zwei Wochen überfällig. »Bitte«, sagte ich. »Das hier ist doch keine Heiratsvermittlung.«

»Was haben Sie schon zu verlieren?«, erwiderte sie. »Wenn es Ihnen nicht zusagt, gebe ich den Auftrag dem nächsten Mädchen.«

Ich blickte aus dem Fenster, wo jetzt der Regen herunterprasselte. Ich stellte mir das Mädchen am anderen Ende der Leitung vor, gelangweilt, dreist, furchtlos. So ein Mädchen musste nicht lange nachdenken. Es waren Mädchen wie ich, die sich alles zweimal überlegten – ob sie in ihren einzigen guten Kleidern noch einmal ausgehen sollten, ob sie an Orten, die sie nicht kannten, fremde Männer treffen sollten. Über alles musste ich mir Gedanken machen.

Ich atmete tief durch. Ich könnte in meine feuchte kleine Wohnung zurückgehen, mich ans Fenster setzen, nachdenken und endlose Tassen Tee trinken. Oder ich könnte rausgehen und mich im Regen mit einem Fremden treffen.

»Ich werde da sein«, sagte ich.

Sie gab mir die Daten und legte auf. Ich blieb noch einen Moment stehen, lauschte dem Wasser an den Fenstern und dem derben Gelächter in einem der Zimmer im Erdgeschoss. Dann ging ich wieder hinaus auf die Straße.

»Ich nehme an, die haben Ihnen nicht viel gesagt«, meinte der junge Mann mir gegenüber, während er sich Tee einschenkte. »Ich habe ihnen so wenig wie möglich erzählt.«

Er war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte: jung, vielleicht 25, so alt wie ich. Sein dunkelblondes Haar war nicht mit Pomade nach hinten gekämmt, wie es Mode war. Er trug es ziemlich lang, und es war vom Wind zerzaust, so als würde er sich morgens kämmen und dann nicht mehr daran denken. Seine grauen Augen, der ironische Gesichtsausdruck und die gewandten Handbewegungen verrieten eine rasche Auffassungsgabe. Das Kaffeehaus, in das er mich gebracht hatte, lag in Soho, und die bohemehafte Atmosphäre passte zu seinem Stil – ein olivgrünes Jackett aus weicher, abgetragener Wolle über einem weißen Hemd, dessen oberster Knopf offen stand. Er fiel kein bisschen auf an diesem Ort mit den unkonventionellen Gemälden und dünnen, missmutigen Kellnerinnen.

Ich war diejenige, die hier fehl am Platz war. Ich war noch nie in Soho gewesen, es stand in einem zu ungezügelten, künstlerischen Ruf für mich. Doch als ich Kaffee trank, dessen Aroma mir im Mund brannte, und Mr. Gellis’ faszinierendes Lächeln betrachtete, machte es mir gar nichts mehr aus. Ich legte meine kalten Hände um die Tasse, krallte meine durchnässten Zehen in meinen billigen Schuhen zusammen und es gelang mir, sein Lächeln zu erwidern.

»Nicht viel«, pflichtete ich ihm bei. »Die sagten, Sie seien Schriftsteller.«

Er lachte. »Ich hoffe, Sie waren nicht zu begeistert. Ich schreibe keine reißerischen Bücher oder Derartiges. Lediglich trockene, akademische Bücher.«

»Ich lese keine reißerischen Bücher.«

»Dann werden Sie auch nicht enttäuscht sein.« Er ließ ein Stück Zucker in seine Tasse fallen. »Eine Lady, die keine reißerischen Bücher liest, ist vielversprechend. Ich habe nach jemandem gefragt, der intelligent ist.«

Ich kniff die Augen zusammen. Die Agentur hielt mich für intelligent? Das bezweifelte ich; wahrscheinlich hatten sie mich ausgewählt, weil ich gerade verfügbar war. Dennoch wurde mir bei dem Kompliment ganz warm. Ich nahm meinen Hut ab und fuhr mir mit den Fingern rasch durch mein bis zu den Ohrläppchen reichendes Haar, das sich in der Feuchtigkeit ein wenig kräuselte. »Benötigen Sie eine Sekretärin? Ich kann stenografieren.«

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Davon könnte es einige geben.« Er tippte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah aus dem Fenster, so als dächte er nach. Ich beobachtete sein glattes, lässig-elegantes Profil und allmählich wurde mir ganz warm ums Herz. Seine Gegenwart war so angenehm, so ungezwungen, dass ich plötzlich froh war, dass ich gekommen war.

Erneut trommelte Mr. Gellis mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte und drehte sich zu mir um. Er schien ständig in Bewegung, so als kämen seine Gedanken nie zur Ruhe. »Ich gestehe, ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das angehen soll. Was ich verlangen muss, mag ziemlich sonderbar klingen.«

Ein Teil meines Glücksgefühls verflog. »Sonderbar?«

»Ich treffe mich aus einem bestimmten Grund in der Öffentlichkeit mit Ihnen«, fuhr er fort. »Ich brauche speziell eine Frau, und ich wollte nicht, dass Sie sich unwohl fühlen, wenn Ihnen etwas unterbreitet wird, das Ihnen vielleicht Angst einjagt.«

Nun war mir kalt. »Wie bitte?«

Er wurde rot. »Es tut mir furchtbar leid. Das kam falsch heraus. Wissen Sie, ich komme gesellschaftlich nicht viel herum.« Er seufzte. »Am besten erklären meine Aufzeichnungen das Ganze.«

Er zog ein großes Notizbuch aus der Ledertasche, die über der Stuhllehne hing, und schob es mir über den Tisch zu. Es war ziemlich abgenutzt und voll. Ich konnte umgebogene Ecken sehen, die Kanten eingeklebter Zeitungsausschnitte, zusätzliche Blätter, gefaltet und zwischen die Seiten gesteckt.

Ich schlug die erste Seite auf. Sie enthielt einen Zeitungsausschnitt über ein Spukhaus in Newcombe. Am Rand neben dem Ausschnitt befanden sich fein säuberliche handschriftliche Notizen. Ich blätterte zur zweiten Seite und fand weitere Anmerkungen in einer sorgfältigen Handschrift, die eckig, ausgeprägt und maskulin war.

Ich las die Notizen für einen langen Moment; dann blickte ich auf. »Das ist …«

»Ja.«

»… ein Augenzeugenbericht über eine Geistererscheinung.«

»Ja.«

Ich spürte seinen Blick auf mir, während ich weitere Seiten durchblätterte....