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Die Anstalt für ungehorsame viktorianische Mädchen

Die Anstalt für ungehorsame viktorianische Mädchen

Emilie Autumn

 

Verlag Festa Verlag, 2023

ISBN 9783986760458 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

7,99 EUR


 

Krankenhaus-Eintrag 1:
Unter Aufsicht

Der Hund hatte mich gefunden.

Wie aus großer Ferne hörte ich ihn vor der Badezimmertür heulen.

Da war ich schon nicht mehr da.

Ich lag auf einer Wiese inmitten von hohem, weichem Gras – so hoch, dass mich niemand sehen konnte.

Das Gras bewegte sich, aber ich hörte keinen Laut; wie eine weiche Decke spürte ich das Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, und ich wollte einfach nur für immer schlafen.

Ich empfand keine Furcht, keine Angst; nur Erleichterung … Erleichterung, dass ich meine Entscheidung getroffen und durchgezogen hatte. Jetzt gab es nichts mehr zu tun, nur noch liegen und warten, liegen und warten, liegen und warten …

Alle Höhen und Tiefen, Freude und Trauer, »Mach dies« und »Lass das« lagen endlich hinter mir.

Ich bereute nichts.

Ich war mit mir selbst im Reinen, eine Empfindung, die ich bis zu diesem Augenblick nicht gekannt hatte.

Im Reinen …

Im Reinen …

Im Reinen …

Auf einmal wurde ich hochgehoben, Schreie gellten in meinen Ohren und ich wurde brutal durchgeschüttelt, während man Wasserstoffperoxid in meine Kehle schüttete. Plötzlich war das Sonnenlicht weg, das Gras – es gab nur noch den dreckigen Badezimmerboden und meinen Wunsch, wieder einzuschlafen.

Im Wartebereich der Notaufnahme komme ich mir wie eine Betrügerin vor.

Ich blute nicht.

Ich kann gehen.

Ich wurde erpresst.

Niemals wäre ich freiwillig hergekommen, wenn sie nicht gedroht hätten, mir meine Medikamente zu verweigern. Und genauso, wie man niemals am Telefon eine Beziehung beenden sollte, sollte man auch niemanden telefonisch in die Nervenheilanstalt schicken.

Aber genau das haben sie gemacht.

Seelenklempner: Ich kann Sie nicht weiterbehandeln, wenn Sie sich nicht in eine psychiatrische Anstalt begeben.

Ich: Was? Warum?

Seelenklempner: Weil ich darauf bestehen muss, dass Sie nach Ihrem Selbstmordversuch mindestens 72 Stunden unter Beobachtung gestellt werden.

Ich: Unter Beobachtung? Von wem? Ich brauche keine Beobachtung. Ich brauche meine Medikamente.

Seelenklempner: Dann sollten Sie besser heute noch ins Krankenhaus gehen. Nach dem, was Sie getan haben, darf ich Ihnen nichts mehr verschreiben. Das wäre illegal.

Ich: Moment … Warten Sie mal … Sie haben mich gefragt, wie es mir geht, und ich habe es Ihnen gesagt. Ich hab’s Ihnen gesagt, weil ich dachte, ich sollte ehrlich zu Ihnen sein. Ich dachte, Sie wären der eine Mensch, zu dem ich auch wirklich ehrlich sein kann. Aber jetzt klingt es für mich, als wären Sie der eine, den ich besser angelogen hätte.

Seelenklempner: Emilie, Sie sind eine extrem intelligente und talentierte junge Frau, aber Sie sind auch sehr, sehr krank und brauchen dringend Hilfe.

Ich: Bitte … Kann ich nicht einfach zu Ihnen kommen und wir reden? Dann sehen Sie, dass ich okay bin. Ich meine, ich bin nicht verrückt … nicht so, wie es jetzt vielleicht wirkt. Ich hatte meine Gründe, gute Gründe, warum ich mir das angetan habe. Und wissen Sie was, Doktor? Ich stehe dazu. Ich bin sicher, jeder andere hätte an meiner Stelle dasselbe gemacht.

Seelenklempner: Nein, Sie können nicht herkommen. Beziehungsweise das können Sie schon, aber dann brauchen Sie nicht wieder nach Hause zu fahren, denn hier wird ein Krankenwagen warten und Sie direkt von meiner Praxis ins Krankenhaus bringen.

Ich: Es ist also so, dass Sie sich weigern, mir meine Antidepressiva zu verschreiben, bis ich … wohin gehe? In eine Irrenanstalt? Obwohl wir beide wissen, dass ich ohne meine Medikamente binnen 48 Stunden zu einer suizidalen Wahnsinnigen werde, die auf die Straße rennt, um sich von einem Auto überfahren zu lassen? Was, wenn ich sage ›Nein, ich will das nicht‹? Könnten Sie mit dem leben, was dann passiert?

Seelenklempner: Emilie, hören Sie zu. Ich glaube, dass Sie im Moment genau diese Art von Überwachung dringend brauchen.

Ich: Herrgott … nur für 72 Stunden?

Seelenklempner: 72 Stunden … mindestens.

Ich: Nein. Nein, das geht nicht … Es stehen Konzerte an. Scheiße, ich muss ein Album fertig machen …

Seelenklempner: Dann gehen Sie besser jetzt gleich.

»Was wollen Sie?«, fährt mich eine Frau in einem mintgrünen Krankenhauskittel an.

Sie klingt ein kleines bisschen ungeduldig. Mit ihrem Klemmbrett in der Hand kommt sie auf mich zu, und ich nehme an, dass sie mich gleich fragen wird, was in aller Welt ich hier zu suchen habe und warum ich aussehe, als käme ich gerade von einem Kostümball, und warum ich mir ein Herz auf die rechte Wange gemalt habe und warum ich Stiefel mit Totenköpfen darauf trage, weil das doch so verdammt morbide ist und sterbende Menschen so etwas nicht sehen müssen sollten und …

»Ich bin selbstmordgefährdet«, sage ich.

Meine Güte!

Das klang ja fast, als wäre ich stolz darauf.

Und ich lächle. Herrgott, vielleicht gehöre ich ja wirklich hierher.

Die Schwester sieht aus, als würde sie mir nicht glauben. Das kann ich ihr nicht vorwerfen, also versuche ich es noch mal.

»Ich meine, ich habe versucht, mich umzubringen, also gibt mein Therapeut mir keine Medikamente mehr. Er sagte, ich müsste die jetzt hier holen.«

Nie zuvor in meinem Leben habe ich so unsinnigen Kram erzählt. Aber es funktioniert und die Schwester nimmt mich mit aus dem Wartebereich in ein kleines Untersuchungszimmer, wo mir eine weitere Schwester von ihrem Platz hinter einem Schreibtisch aus befiehlt, mich zu setzen.

Krankenschwester: Bipolare Störungen in der Familie?

Ich: Ja.

Krankenschwester: Suizide in der Familie?

Ich: Ja. Aber deshalb bin ich nicht …

Krankenschwester: Hören Sie Stimmen?

Ich: Ich höre Sie.

Krankenschwester: Stimmen in Ihrem Kopf? Die sonst niemand hört?

Ich: Als ich noch klein war, schon. Tatsächlich jede Nacht, jahrelang. Aber jetzt nicht mehr.

Krankenschwester: Wurden Sie missbraucht?

Ich: Was meinen Sie?

Krankenschwester: Sexuell?

Ich: Ist Vergewaltigung Missbrauch?

Krankenschwester: Vergewaltigung ist Missbrauch.

Ich: Das ist gut. Ich nahm an, das sei etwas, das Männer eben machen.

Krankenschwester: Waren Sie jemals schwanger?

Ich: Ja.

Krankenschwester: Sind Sie jetzt gerade schwanger?

Ich: Nein.

Krankenschwester: Seit wann sind Sie nicht mehr schwanger?

Ich: Letzte Woche.

Sie hebt den Blick von ihren Formularen, und ich spüre, wie sie mich verurteilt – daran sollte ich mich wohl langsam gewöhnen, schließlich weiß ich doch, dass man mich andauernd verurteilt.

Ich: Es war nicht meine Schuld. Ich nehme die Pille, aber meine Antidepressiva heben die Wirkung auf und mein Arzt hat es nicht für nötig gehalten, mir das zu sagen. Ich hätte es nicht austragen können …

Krankenschwester: Haben Sie Familie?

Ich: Nein.

Nachdem sie ihr Formular ausgefüllt hat, macht die Schwester eine kurze Untersuchung, ohne auch nur im Ansatz auf das einzugehen, was ich ihr gerade erzählt habe.

Ich: Fragen Sie mich nicht, warum ich es getan habe?

Krankenschwester: Warum Sie was getan haben?

Ich: Alle meine Schlaftabletten auf einmal nehmen.

Krankenschwester: Nein.

Sie legt mir ein Plastik-Krankenhaus-Armband um, und – wer hätte das gedacht! – mein Name steht schon drauf.

Patientin: Autumn, Emilie

Alter: 27

Als alles erledigt ist, rechne ich damit, nun in ein Krankenhausbett verfrachtet oder an einen Pfahl gefesselt zu werden oder so, aber stattdessen geht es wieder ins Wartezimmer. Es liegt ein Hauch von Gefahr in der Luft, die bewaffneten Wachmänner starren mich bedrohlich an, und um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass mir mein neues Plastikarmband die erhoffte »Street Cred« verleiht.

Man hat mir ein Formular zum Ausfüllen gegeben, also setze ich mich mit meinem Klemmbrett auf einen der abgewetzten Kunststoffstühle in der Mitte des Zimmers. Wie gefährlich die hintersten Ecken eines Raums sein können, habe ich auf die harte Tour gelernt.

Zur Erläuterung: Wenn du sicher sein willst, dann lauf in der Mitte der Straße.

Das ist kein Scherz.

Man hat euch beigebracht, immer nach links und rechts zu schauen, bevor ihr über die Straße geht, richtig? Dass der Gehweg euer Freund ist?

Falsch.

Ich bin jahrelang nachts Gehwege entlanggelaufen, denn das macht man, wenn man kein Geld für den Bus hat. Ich habe mich in der Dunkelheit umgesehen, still, wild, und ich habe die Männer gesehen, die mir gefolgt sind, die aus den Gassen schlichen und...