dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Das Buch Rubyn - Die Chroniken vom Anbeginn

John Stephens

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2012

ISBN 9783641068530 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

Kate schrieb den Brief zu Ende, steckte ihn in einen Umschlag, klebte ihn zu und ging dann zu dem alten Baum. Sie hob die Hand und ließ den Brief in den ausgehöhlten Stamm fallen.

Er kommt bestimmt, dachte sie.

Sie hatte ihm von ihrem Traum geschrieben, von dem, der sie seit einer Woche jede Nacht aus dem Schlaf riss. Wieder und wieder hatte sie schweißgebadet in der Dunkelheit gelegen und gewartet, bis sich ihr Herz beruhigt hatte, erleichtert darüber, dass Emma, die neben ihr schlief, nicht erwacht war, erleichtert, dass es nur ein Traum gewesen war.

Nur dass es eben doch kein Traum war.

Er kommt bestimmt, dachte Kate. Wenn er das liest, wird er kommen.

Es war ein warmer, schwüler Tag. Kate trug ein leichtes Sommerkleid und flache Ledersandalen. Das Haar hatte sie im Nacken mit einem Gummiband zusammengefasst. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und klebten feucht an ihren Wangen. Sie war fünfzehn und seit dem letzten Jahr ein ganzes Stück größer geworden. Ansonsten hatte sie sich nicht verändert. Mit ihren dunkelblonden Haaren und den haselnussbraunen Augen war sie auffallend hübsch. Aber wenn man sie genauer betrachtete, bemerkte man die Sorgenfalten, die sich in ihre Stirn gegraben hatten, und die verkrampften Arme und Schultern, die sie steif und ungelenk wirken ließen. Ihre Fingernägel waren bis auf die Haut abgeknabbert.

Im Grunde genommen hatte sich überhaupt nichts verändert.

Kate stand immer noch neben dem Baum und spielte gedankenverloren mit dem Medaillon, das an ihrem Hals hing.

Vor mehr als zehn Jahren waren Kate, ihr Bruder Michael und ihre Schwester Emma von ihren Eltern getrennt worden. Sie waren in Waisenhäusern aufgewachsen, von denen einige angenehm und sauber gewesen waren, geführt von Menschen, die freundlich zu Kindern waren. Die meisten jedoch waren unwirtlich und schäbig gewesen, mit Erziehern, die Kinder als lästig und überflüssig betrachteten. Kate und ihre beiden jüngeren Geschwister hatten nie erfahren, warum ihre Eltern sie verlassen hatten oder warum sie nicht zurückkehrten. Aber dass sie zurückkommen und sie irgendwann einmal wieder eine Familie sein würden, daran hatten die Kinder nie gezweifelt.

Es war Kates Aufgabe gewesen, auf ihren Bruder und ihre Schwester aufzupassen. Sie hatte es ihrer Mutter versprochen, die vor so vielen Jahren in jener Nacht am Weihnachtstag in ihr Zimmer gekommen war. Kate hatte es immer noch vor Augen: wie ihre Mutter sich über sie beugte und das goldene Medaillon um ihren zarten Hals legte. Und dann Kate das Versprechen abnahm, Michael und Emma zu behüten.

Und Kate hatte ihr Versprechen gehalten, Jahr für Jahr, Waisenhaus um Waisenhaus, selbst als sie in größerer Gefahr schwebten, als sie sich je hatten vorstellen können, umringt von mächtigen Feinden.

Aber was, wenn Dr. Pym jetzt nicht kam? Wie sollte sie Michael und Emma weiter beschützen?

Doch er würde kommen, redete sie sich ein. Er hat uns nicht im Stich gelassen.

Wenn das so ist, meldete sich eine kleine Stimme in ihrem Kopf, warum hat er euch dann hierher geschickt?

Unwillkürlich wandte Kate sich um und schaute den Hügel hinab. Dort, zwischen den Bäumen hindurch, sah sie die baufällige Fassade und die schiefen Türmchen des Edgar Allan Poe Waisenhauses für schwer erziehbare Kinder.

Zu Kates Verteidigung muss gesagt werden, dass sie Dr. Pyms Entscheidung, sie wieder hierher zu schicken, nur dann infrage stellte, wenn sie verzweifelt oder erschöpft war. Sie wusste, dass der Zauberer sie nicht wirklich verlassen hatte. Aber die Tatsache blieb: Von allen Waisenhäusern, in denen die Kinder über die Jahre untergekommen waren, war das Edgar Allan Poe Waisenhaus das schlimmste. Eiskalt im Winter, brütend heiß im Sommer, das Wasser aus den Leitungen war braun und schlammig, die Böden schmierig und verdreckt; durch die Decken regnete es herein, und das Gelände wurde von verwilderten Katzen durchstreift, die sich ständig kreischende und fauchende Kämpfe lieferten.

Und als ob das nicht genug wäre, gab es da noch Miss Crumley, die pummelige Kate und ihre Geschwister aus tiefster Seele verabscheuende Leiterin des Waisenhauses. Miss Crumley hatte im letzten Jahr gehofft, sie habe sich ihrer endgültig entledigt. Als die drei einige Zeit später vor der Tür standen und ihr einen Brief von Dr. Pym überreichten, in dem dieser erklärte, dass das Waisenhaus in Cambridge Falls »wegen einer Schildkrötenplage« geschlossen werden musste, war sie ganz und gar nicht erfreut gewesen. Zumal Dr. Pym, der Miss Crumley bat, die Kinder »vorläufig« aufzunehmen, sich nicht darüber ausgelassen hatte, wie lange sie die Gören nun wieder am Hals haben würde.

Miss Crumley hatte versucht, sich über diesen Punkt Klarheit zu verschaffen. Aber als sie Dr. Pym anrufen wollte, um ihm zu erklären, dass sie die Kinder unter keinen Umständen aufnehmen würde, hatte sie feststellen müssen, dass alle Informationen, die Dr. Pym ihr übermittelt hatte – die Telefonnummer des Waisenhauses, die Adresse und die Zeugnisse über die glücklichen und gesunden Kinder in seiner Obhut – aus ihren Akten verschwunden waren. Und weder die Telefongesellschaft noch irgendein Amt konnten Miss Crumley weiterhelfen, ja es sah ganz danach aus, als habe ein Ort namens Cambridge Falls niemals existiert. Schließlich musste Miss Crumley aufgeben. Aber sie ließ die Kinder spüren, dass sie nicht willkommen waren, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit fing sie die Geschwister ab, drängte sie in irgendeine dunkle Ecke, pikste sie mit ihren dicken Fingern und überschüttete sie mit Fragen.

»Wo genau liegt dieses Cambridge Falls?« – Piks – »Warum ist es auf keiner Karte verzeichnet?« – Piks – »Wer ist dieser Dr. Pym?« – Piks

»Ist er überhaupt ein richtiger Doktor?« – Piks

»Was ist da oben überhaupt geschehen? Ich weiß, dass da irgendwas nicht stimmt! Antwortet mir!« – Piks, piks, piks.

Nachdem Miss Crumley ihr dreimal in einer Woche ein Büschel Haare ausgerissen hatte, schlug Emma vor, ihr doch einfach die Wahrheit zu sagen – dass Dr. Stanislaus Pym ein Zauberer war, dass Miss Crumley Cambridge Falls nicht auf der Karte finden konnte, weil es Teil der magischen Welt war, die sich vor der normalen Welt verbarg, und sie dort ein altes, in grünes Leder gebundenes Buch gefunden hatten, mit dem man durch die Zeit reisen konnte, dass sie mit Zwergen gegen unheimliche Monster und eine böse Hexe gekämpft und nebenbei ein ganzes Dorf gerettet hatten und zu Helden geworden waren. Sie alle, auch Michael.

»Danke«, hatte Michael sarkastisch gesagt.

»Gern geschehen.«

»Aber das können wir nicht sagen. Sie würde uns für verrückt halten.«

»Na und?«, hatte Emma erwidert. »Ich wäre lieber im Irrenhaus als hier.«

Schließlich hatte Kate sie schwören lassen, bei ihrer ursprünglichen Geschichte zu bleiben: Dr. Pym wäre ein ganz gewöhnlicher Mann und überhaupt nichts Bemerkenswertes hätte sich ereignet. »Wir müssen Dr. Pym vertrauen«, hatte Kate gesagt.

Wir haben nämlich gar keine andere Wahl, dachte sie jetzt.

Sie hörte gedämpfte Musik und blickte den Hügel hinab zu dem großen gelben Zelt auf dem Rasen vor dem Waisenhaus. Heute fand Miss Crumleys Party statt und die ersten Gäste trafen bereits ein.

In den vergangenen zwei Wochen hatte jedes einzelne Kind im Waisenhaus von morgens bis abends geschuftet, hatte Unkraut gejätet, Beete geharkt, Hecken gestutzt, Fenster geputzt, Müll und Unrat aus dem Haus geschafft, Käfer und Kakerlaken aus den Ecken und Nischen vertrieben – alles nur für ein Fest, zu dem sie nicht einmal eingeladen waren.

»Und dass ihr mir ja nicht an den Fenstern klebt und meine Gäste angafft!«, hatte Miss Crumley die Kinder heute Morgen beim Frühstück angeblafft. »Mr Hartwell Weeks hat kein Verlangen danach, eure dreckigen, speckigen kleinen Gesichter zu sehen.«

Mr Hartwell Weeks war der Präsident des Maryland-Heimatvereins und Ehrengast der Party. Der Heimatverein veranstaltete wöchentlich Bustouren zu »historisch bedeutsamen Bauwerken« in der Gegend, und weil das Waisenhaus früher einmal eine Waffenfabrik gewesen war, wollte Miss Crumley unter allen Umständen dafür sorgen, dass es in die Liste aufgenommen wurde. Dann hätte sie die Möglichkeit, unbedarften Touristen zehn Dollar pro Kopf abzuknöpfen, und sie durch das Waisenhaus zu schleppen.

»Und wenn ihr das vermasselt« – sie sprach zu allen Kindern, warf aber Kate und ihren Geschwistern besonders bösartige Blicke zu – »dann lasst euch gesagt sein, dass ich immer wieder Anfragen von Labors bekomme, die nach Kindern für besonders gefährliche Experimente suchen, solche, für die man keinen guten Hund verschwenden würde. Ich wüsste da schon ein paar Kandidaten.«

Kate betrachtete die Männer in blauen Jacketts und weißen Hosen und die Frauen in pastellfarbenen Kleidern, die um das Waisenhaus stolzierten und im Schatten des Festzelts verschwanden. Aber eigentlich schaute sie gar nicht richtig hin. Sie dachte wieder an ihren Traum, sah vor sich die gelbäugigen Kreaturen durch den Nebel treten, hörte die Stimme des Mannes ihren Namen und die ihrer Geschwister aussprechen. Wenn sie bloß wüsste, ob die Ereignisse, die sie in diesem Traum sah, bereits passiert waren oder in der Zukunft lagen! Wie viel Zeit blieb ihnen noch?

Sie vertraute Dr. Pym. Sie vertraute ihm wirklich. Aber sie hatte entsetzliche Angst.

»Tja, sie hat’s mal...