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Spielball Erde - Machtkämpfe im Klimawandel

Claus Kleber, Cleo Paskal

 

Verlag C. Bertelsmann, 2012

ISBN 9783641087777 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

KAPITEL 1

Klima macht Geschichte

Im Hotelzimmer ist das Klima genau so, wie es der kleine weiße Reglerkasten an der Wand vorschreibt: warm und trocken. Draußen, nur eine dünne Scheibe bruchsicheres Glas entfernt, herrscht der Monsun. Normalerweise kann man von diesem Fenster aus den anmutigen, glitzernden Bogen des Marine Drive sehen, den eleganten Strandboulevard, den die Bewohner von Mumbai aufsuchen, um sich daran zu erinnern, warum sie ihre wuchernde, verrückte und völlig überbevölkerte Stadt lieben. Heute zeigen die Fenster nur eine gräulich-schwarze Wand aus Nässe.

Der Monsun tobt durch Mumbai wie ein betrunkener Mob, drückt Ladenscheiben ein, reißt Straßen auf, schlägt und peitscht auf alle nieder, die das Pech haben, hinaus zu müssen, oder zu arm sind, um sich ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Der Monsun ist furchtbar, und er ist lebensnotwendig. Mumbai und ganz Indien wurden um die zyklische Wiederkehr dieser so ungezügelten wie brachialen Regenmassen herum geschaffen.

Dieses Land braucht den Monsun. Für die modernen indischen Städte mögen die Sturzfluten eine Heimsuchung sein, aber draußen auf dem Land füllen sich die Wasserspeicher und Staubecken der Kraftwerke wieder, kehrt das Grün in die zundertrockenen Wälder zurück, leiten Bewässerungskanäle das Wasser auf versengtes, rissiges Ackerland, das wieder feucht und fruchtbar wird. Es gab einen Monsun, bevor es ein Indien gab. Das Land wurde groß und geformt durch das periodische Bombardement des Leben spendenden und Leben nehmenden Regens. Der Monsun war ein zuverlässiges Klimametronom, das den Takt der Jahre schlug und den Menschen sagte, zu welcher Jahreszeit sie die Saat ausbringen, zu welcher Jahreszeit sie ernten und zu welcher Jahreszeit sie heiraten sollten. Selbst heute noch werden in diesem mehr und mehr durch Hightech geprägten Land der erwartete Beginn und das Ende des Monsuns in Zeitungen vermeldet. Prognosen bezüglich »guter« oder »schlechter« Niederschlagsperioden und -mengen können die Börse in helle Aufregung versetzen. Tief im Inneren dieser riesigen, verschlungenen und diversifizierten Volkswirtschaft liegt das Wissen, dass der Monsun immer noch eine Rolle spielt – eine große Rolle.

Doch in letzter Zeit verhält sich der Monsun – und das Klima im Allgemeinen – eigenartig. Sie sind weniger vorhersagbar, fast schon unberechenbar geworden, Niederschlagsverteilung und Temperaturen sind aus dem Lot geraten. Es regnet, wenn es schneien sollte, ist heiß, wenn es kalt sein sollte, es gibt Überschwemmungen in der Wüste und Trockenheit in den Feuchtgebieten. Insgesamt sind in Indien die Regenmengen seit den 1950er-Jahren um fünf bis acht Prozent zurückgegangen, andererseits werden ganze Regionen von Sturzfluten unter Wasser gesetzt.6

In Mumbai versucht man, die Natur auf rigoros moderne Weise zu unterwerfen, mit einer Stadtplanung und Gebäuden, die dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Auf dem Land hingegen bemüht man sich, mit der Natur zu arbeiten, hauptsächlich in Form traditioneller Bewässerungstechniken. Beide Ansätze scheitern. Etwas hat sich verändert. Oder, genauer gesagt, etwas verändert sich schneller als jemals zuvor.

Um zu verstehen, was sich da verändert, lohnt es, einen genaueren Blick auf das Wetter zu werfen. Als System ist der Monsun komplex und elegant – die melodische Verschmelzung verschiedener klimatischer Noten zu einer zusammenhängenden Symphonie. Da sind das aggressive, hartnäckige Piccolo des aufziehenden Regens auf knochentrockenem Boden, das Rauschen der niemals nachlassenden Winde, die Bassschläge des Donners, das metallische Krachen der Blitze. Presst man die Hand gegen das kalte Fenster, kann man die Vibrationen spüren, den Lärm, die Gewalt.

Der Monsun ist aber auch überraschend sensibel. Wie bei einer großen Komposition muss sich auch bei einem Monsun eine Vielzahl von Elementen perfekt ineinanderfügen. Windverhältnisse, Atmosphärendruck, Wassertemperaturen, Luftqualität, Meeresströmungen und Tausende weiterer Faktoren, hier auf dem Subkontinent wie in anderen Teilen der Welt, müssen zusammenwirken, bevor sich auch nur ein einziger Regentropfen bilden und zur Erde fallen kann. Ein starker El Niño im Pazifik kann die Bauern im Punjab-Gebiet um ihre Ernte bringen. Aber die Bauern, die im Punjab sitzen und auf den Regen warten, können kaum wissen, ob dies nur ein schlechtes Jahr in vielen guten Jahren wird oder ob es mit den guten Jahren auf lange, lange Zeit vorbei ist. Genau das ist der Unterschied zwischen Wetter und Klima.

Wetter ist etwas, das heute passiert, morgen und vielleicht nächste Woche. Klima dagegen passiert im Zeitraum von Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden. Wenn es in Manhattan beim Feuerwerk zum 4. Juli regnet, dann geht es um Wetter – also um etwas, was dummerweise niemand einen Monat im Voraus vorhersagen kann. Aber der Umstand, dass der amerikanische Unabhängigkeitstag ins Wasser fällt und nicht etwa unter einer Schneedecke versinkt, ist Klima – weil die Temperaturen im Nordosten der USA im Juli gewöhnlich über dem Gefrierpunkt liegen. Ein sonniger Tag ist Wetter, ein Sommer ist Klima. Diesen Unterschied zu verstehen erlaubt uns eher abzuschätzen, was als Nächstes kommen könnte und was wir deswegen unternehmen sollten.

Leider wird das Vorhersagen immer schwieriger. Es ist beileibe nicht nur der Monsun, der mal hier- und mal dorthin weht. Zu Beginn eines jeden Jahres veröffentlicht die Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organization, WMO) der Vereinten Nationen eine Zusammenfassung der Klimabedingungen des Vorjahrs. In dem im Frühjahr 2012 erschienenen Bericht der WMO zum globalen Klima7 steht unter anderem:

  • Die globale Durchschnittstemperatur lag 2011 um 0,4 °C über dem langjährigen Jahresmittel (1961–1990) von 14 °C.
  • Zur Zeit seines jährlichen Maximums erreichte das Ausmaß des arktischen Eises den zweitniedrigsten Stand (nach 2006) seit Beginn der Messungen (1979), und während der sommerlichen Schmelze war nur die Eisbedeckung im Jahr 2007 geringer (und die wurde dann im August 2012 unterschritten).
  • Die mittleren Temperaturen erreichten 2011 nicht den Rekordwert von 2010, doch sie waren die höchsten, die je in einem La-Niña-Jahr gemessen wurden.
  • Sintflutartige Regenfälle suchten etliche chinesische Provinzen, darunter Sichuan, Shaanxi und Henan, heim – für Sichuan waren es die folgenschwersten seit 1847.
  • Bei dem aus humanitärer Sicht schlimmsten Zyklon des Jahres starben auf der philippinischen Insel Mindanao fast 1260 Menschen, mehr als 300 000 wurden obdachlos.
  • Die mittleren globalen Niederschlagsmengen waren 2011 die zweithöchsten seit Beginn der Aufzeichnungen: Es fielen 46 Millimeter mehr Regen als im Jahresmittel für 1961–1990; höher waren sie nur im Jahr 2010 (+ 52 Millimeter).
  • Extreme Niederschläge führten zur Überschwemmung von Mekong- und Chao-Praya-Becken. In der Folge waren in Thailand zwischen Oktober und Anfang Dezember große Teile von Bangkok und Umgebung überflutet, was zu bedeutenden wirtschaftlichen Schäden führte.
  • Im zweiten Jahr in Folge litt Pakistan stark unter den Monsunfluten. 2011 konzentrierten sich die extremen Regenfälle auf die Südprovinz Sindh, wo die Niederschlagsmengen zwischen Juli und September zweieinhalbmal so groß wie die Durchschnittswerte waren.
  • Große Teile Westeuropas erlebten den trockensten Frühling seit Beginn der Aufzeichnungen. In der Nähe von Rostock kam es zu einem Sandsturm, der auf der Autobahn Richtung Berlin eine Massenkarambolage mit 82 Fahrzeugen auslöste. Acht Menschen starben.
  • Die extreme Dürre, die sich Ende 2010 in Teilen Ostafrikas entwickelte, hielt über einen Großteil des Jahres 2011 an. Am schlimmsten betroffen waren die halbtrockenen Gebiete im östlichen und nördlichen Kenia sowie der Westen von Somalia. Die Vereinten Nationen schätzten, dass 13 Millionen Menschen Hilfe benötigten.8
  • In den USA registrierte Oklahoma zwischen Juni und August eine Durchschnittstemperatur von 30,5 °C – vier Grad über dem langjährigen Mittel und der höchste Wert, der je für einen amerikanischen Bundesstaat gemessen wurde. Auch in Texas wurde der Hitzerekord gebrochen.

Haben wir es hier einfach mit ungewöhnlichen Wetterphänomenen zu tun? Oder verändert sich das Klima in dramatischer Weise? Die Antwort ist so wichtig für unser Überleben, dass die Menschen sich diese Frage in den unterschiedlichsten Formen stellen, seit ihnen erstmals bewusst geworden ist, dass auf den Winter der Frühling folgt. Die Klima- und Wettervorhersage ist nicht nur eine der schwierigsten, wichtigsten und am intensivsten betriebenen Wissenschaften, sondern auch eine der ersten, der sich die Menschen widmeten.

Die allzu menschliche Geschichte der Klima- und Wettervorhersage

Die wissenschaftliche Wettervorhersage stößt seit ihren Anfängen auf viel Kritik, und auch die modernen Klimamodellierer stehen fast pausenlos unter Beschuss. Zu oft schon haben zu viele Leute in den Freitagabendnachrichten die Wettervorhersage gesehen und sich auf einen sonnigen Samstag am Strand gefreut, um sich dann am nächsten Morgen vom Regen einen Strich durch die Rechnung machen lassen zu müssen. Solche Dinge bleiben im Gedächtnis haften – und beeinflussen auch, wie viele von uns über den Klimawandel denken. »Wenn die nicht einmal das Wetter von morgen hinbekommen«, so die Überlegung, »wie wollen die dann vorhersagen, was in 20 Jahren passieren wird?« Dabei sind Wetter- und Klimaforschung weit gekommen.

Eines der Kennzeichen...